George Kennan
Sibirien
George Kennan

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10. Die russische Polizei.

In keinem Land der Welt dürfte die Polizei eine größere Macht besitzen und bedeutungsvoller in ein Menschenleben eingreifen können, als in Rußland. In andern Staaten, wo ihr Wirkungskreis durch das Gesetz begrenzt ist, hat sie gewöhnlich nur für die Erhaltung der Ruhe und Ordnung an öffentlichen Orten zu sorgen, Verbrechen zu entdecken und auch vorzubeugen. In Rußland, wo das Volk zur Regierung in einem Verhältnisse wie das unmündige Kind zu seinem Vormund steht, ist der Wirkungskreis der Polizei viel mannigfaltiger und bedeutsamer, denn die russische Regierung kümmert sich um jede Privatangelegenheit seiner Bürger, die vom Tage der Geburt bis zur Stunde, wo sie als lebensmüde Greise begraben werden, gelenkt, geschützt, beaufsichtigt werden und gewöhnlich das thun müssen, was andere für geeignet halten. Die Frucht dieses »väterlichen« Regimentes ist die ungeheuere Macht der Polizei, in deren Händen die ganze Verwaltung liegt. Angelegenheiten, die anderwärts von den Bürgern selbst geordnet werden, regelt in Rußland der Minister des Innern durch die Polizei. Wer eine Zeitung herausgeben will, muß dessen Erlaubnis haben, wer eine Schule errichten will, und sei es im letzten Dorf Kamtschatkas, muß die Bewilligung dazu haben; wer zu wohlthätigen Zwecken ein Konzert oder dergleichen veranstalten will, muß vor allem die Bewilligung der nächsten Behörde dazu haben, er muß das Programm zur Gutheißung vorlegen und er muß das Erträgnis der Polizei geben, die den Betrag dem bestimmten Zwecke zuwendet – oder auch nicht.

215 Ein Rundschreiben des Ministers des Innern, vom August 1882 datiert und an alle Provinzgouverneure gerichtet, giebt der Polizei das Recht, alle Wohlthätigkeitsvorstellungen genau zu kontrollieren, ja mehr noch! die Eintrittskarten dürfen nur von Polizisten, oder doch unter deren direkter Aufsicht verkauft werden. Als Grund dieser Maßregel wird angegeben, daß unter dem Vorwand der Wohlthätigkeitsvorstellung zu Gunsten der politischen Gefangenen und Revolutionäre Geld gesammelt werde. Selbst wissenschaftliche Vereine, wie die geographischen Gesellschaften zu Omsk und Irkutsk unterstehen der Polizeiaufsicht, die Präsidentenwahl muß vom Minister des Innern bestätigt werden und die Tagesordnungen der Versammlungen müssen dem Gouverneur vorher zur Billigung vorgelegt werden.

Will einer auf der Straße Zeitungen verkaufen, kann es ohne Erlaubnis der Polizei nicht geschehen, er muß sich dort einschreiben lassen und erhält als Zeichen der Bewilligung ein tellergroßes, numeriertes Messingschild, das er an der Brust tragen muß. Keine Druckerei, photographische Anstalt, Buchhandlung, ja selbst kein Materialwarenladen darf ohne besondere Bewilligung betrieben werden. Sie ist auch für den Studenten nötig, der in einer öffentlichen Bibliothek »staatsgefährliche« Bücher von der Art Lyells »Grundsätze der Geologie« studieren will, für den Arzt um seine Kranken besuchen zu dürfen, um zu dem nächtlichen Krankenbesuch nicht bemüßigt zu sein und endlich auch um »gefährliche« Medikamente verordnen zu dürfen, sonst darf sie der Apotheker nicht ausfolgen; sie könnten ja den bösen »Terroristen« zu verbrecherischen Zwecken dienen.

Will der Bauer in seinem Hause eine Schwitzstube sich errichten, so muß er um die Erlaubnis bitten; will er bei Kerzenschein dreschen, so muß er es gleichfalls thun, wenn er nicht das Einfachere wählt und den Polizisten besticht. Will einer sich über 30 Werst von seinem Aufenthaltsort entfernen, so kann es nur mit Erlaubnis der Polizei geschehen. Und 216 ohne diese darf auch kein Fremder nach Rußland kommen, von Rußland sich entfernen, er muß jede Wohnungsänderung anzeigen und bei einem längeren Verweilen als sechs Monate eine besondere Bewilligung erhalten. Kurz gesagt: man kann sich in Rußland ohne polizeiliche Erlaubnis weder bewegen, noch überhaupt leben. Die Polizei, deren Chef jetzt der Minister des Innern ist, beobachtet jede Regung der Bevölkerung, beaufsichtigt viele tausend »Verdächtige«; sie leitet Bankrottangelegenheiten, Verkauf von Leihhauspfändern, überwacht alle Unterhaltungen, alle Straßenzettel, übt Sanitätsaufsicht, hält Haussuchungen, verhaftet, liest die Briefe Verdächtiger, fordert Säumige zum Kirchengang auf u. s. w. Die Verordnungen über das Polizeiwesen bilden nicht weniger als fünftausend Abschnitte des Swod Sakonoff, des russischen Gesetzbuches.

Um die mannigfaltige Thätigkeit der russischen Polizei noch deutlicher zu erklären, will ich hier einige ohne Wahl herausgegriffene Überschriften und Inhaltsangaben der Verordnungen verzeichnen, die der Minister des Innern in der Zeit von 1880 bis 1884 an die Gouverneure erlassen hat:

  1. Regelung des Religionsunterrichtes in Schulen, die nicht von Geistlichen geleitet werden.
  2. Maßregel gegen Pferdediebstahl.
  3. Schauspiele betreffend, deren Aufführung verboten ist.
  4. Verbot, Schimanskische Pillen zu verkaufen.
  5. Verbot, junge Birken zu fällen (womit die Bauern an Feiertagen Kirche und Häuser schmücken).
  6. Vorschriften über die Überwachung der Berichte und Rechnungsabschlüsse von Privatgesellschaften.
  7. Aufhebung der Transportbeschränkung für Talg.
  8. Von den Zeichen in den Pässen der Juden.
  9. Über Mineralwasserverbrauch der kranken Offiziere.
  10. Vorschrift, Getreide nach Gewicht und nicht nach Maß zu verkaufen. 217
  11. Vorschrift, wann Polizisten und andere Beamte die Mützen mit weißer Leinwand überzogen tragen sollen.
  12. Von der Berechtigung in Rußland, Geld für das heilige Grab zu sammeln.
  13. Abschaffung der langen Ketten, womit je sechs Gefangene auf dem Marsche gefesselt sind.
  14. Verordnung über den Druck auf Cigarrettenpapier.
  15. Verbot für Provinzial- und Gemeinderäte, sich über Angelegenheiten zu äußern, die nicht in ihrer Kompetenz liegen.
  16. Verbot der Einwanderung von Dissentern im Transkaukasus.
  17. Vorschrift für den Bau von Bauernhäusern.
  18. Regelung des Knochentransportes.
  19. Regelung medizinischer Ankündigungen.
  20. Verbot des Gebrauchs von Schulbüchern, die nicht von der Behörde empfohlen wurden.
  21. Geeignete Methode, die Beine der Rekruten zu messen.
  22. Über Lehrerversammlungen.
  23. Vorschrift über die Erlaubnis öffentlicher Unterhaltungen.
  24. Vorschrift über Pflichtexemplare von Drucksachen.
  25. Über den Verkauf von schlechtem Chinin.
  26. Kontrolle von gedruckten Preislisten, Einladungs- und Visitenkarten.
  27. Die Klosetteinrichtungen betreffend.
  28. Kontrolle der Siegel, Stempel und Karten von Privaten und Gesellschaften.
  29. Über Geldsammlungen für Kirchenzwecke.
  30. Regelung des Verkaufs in Apotheken von Toilettemittel, wie: Seife, Puder, Zahnbürsten u. s. w.

Damit sind nur einige Vorschriften und Verordnungen angeführt, welche die russische Polizei zu vielen Tausenden ergehen läßt. Freilich werden die meisten nicht beachtet! Es ist für die Beamten nicht möglich, dieser Fülle von Verboten und Anordnungen Geltung zu schaffen. Aber immerhin 218 wirken sie hemmend und dämmend auf jede öffentliche Thätigkeit. In meinem Besitze befindet sich ein amtliches Schriftstück, der Bericht eines Polizeibeamten an seinen Vorgesetzten, worin er meldet, daß er laut Befehl diese und diese Personen – die Namen sind angegeben – aufgesucht und ermahnt habe »unter Strafandrohung« an dem heiligen Abendmahl teilzunehmen . . . .

Die russische Polizei läßt sich in vier große Abteilungen sondern: 1) die Landpolizei, welche die von der Regierung ernannten Uriadniks und die von den Bauern erwählten Sotski und Desiatski bilden; 2) die Stadtpolizei, deren Amtsthätigkeit ungefähr dieselbe ist, wie in anderen Ländern; 3) die Geheimpolizei und 4) die Gendarmerie.

Ganz genau ist diese Einteilung nicht, da in den einzelnen Abteilungen noch wesentliche Unterschiede vorhanden sind, doch für diesen Zweck mag sie wohl gelten.

Geheimpolizei und Gendarme unterstanden bis in unseren achtziger Jahren der sogenannten »Dritten Abteilung« der kaiserlichen Kabinettskanzlei und war fast ausschließlich mit politischen Verbrechern beschäftigt. Die »Dritte Abteilung« wurde jedoch aufgelöst und seither untersteht die ganze Polizeimacht dem Minister des Innern. Die Zahl der russischen Polizei läßt sich kaum bestimmen, da das betreffende statistische Material im geheimen bleibt. Die russische Zeitung »Golos« meldete seiner Zeit, daß der Kostenaufwand der Polizei zwölf Millionen Rubel betrage. Einen Durchschnittsgehalt von 300 Rubel angenommen, würde das eine Personenzahl von 40 000 ergeben, doch dürften deren noch viel mehr sein. Auch die Zahl der von den Bauern erwählten »Sotski« und »Desiatski« läßt sich nicht feststellen. Das Amtsblatt veröffentlichte am 1. Mai 1886 die Liste aller Ortschaften im europäischen Rußland, wo Schnaps und andere geistige Getränke ausgeschenkt werden; es waren 268 928. Für jeden Ort wenigstens zwei dieser Art Polizisten gerechnet, würde das schon mehr als eine halbe Million ergeben. Die von der Regierung 219 angestellten Landpolizisten, die »Uriadniks« sollen ungefähr sechstausend zählen. Sie sind in »Stans«, Stationen eingeteilt, wo jede einen Bezirk umfaßt, der unter Befehl des »Stanavoi pristaw« (Bezirksleiters) steht und zwei oder drei dieser Bezirke unterstehen dem »Isprawnik«, der wieder den Gouverneur als seinen unmittelbaren Vorgesetzten hat.

In Sibirien ist die Organisation der Polizei so ziemlich gleich mit der in Rußland, nur daß dort die Bezirke viel größer sind und der »Stanavoi pristaw« durch den »Zasedatel« ersetzt wird. Die Uriadniks sind uniformiert und bewaffnet und sie werden, was auch von den anderen Polizeibeamten gilt, sehr schlecht bezahlt. Das mag wohl die Hauptursache sein, daß sich zu diesem Dienste so wenig tüchtige und ehrliche Leute finden. Die russischen Polizisten sind dumm, unwissend und bestechlich; sie benutzen die große Zahl Amtsverordnungen, um den Bauern Geld zu erpressen. Wie das geschieht, das sei mit einem Beispiel hier angeführt:

Vom besten Willen geleitet, verordnet der Minister, daß die Strohdächer während der heißen Sommerszeit als Schutz gegen Feuersgefahr mit einem Lehmbrei bestrichen werden sollen. Der Polizist, der den Bauern diese Verordnung kundmachen soll, wartet damit, bis jene mit der Ernte vollauf beschäftigt sind, dann läßt er sie rufen, teilt ihnen die Verordnung mit und befiehlt, daß sie sogleich vollzogen werden müsse. Die Bauern können ihre Feldarbeit unmöglich unterbrechen, sie fragen daher, was es kosten würde, wenn er einen Aufschub bewilligte. Der Polizist ziert sich ein Weilchen, der Auftrag sei sehr streng erteilt, er riskiere seine Existenz, aber endlich läßt er sich doch herbei, gegen Zahlung von 20 Kopeken für jedes Haus den Aufschub gutherzig zu bewilligen. Der Handel wird abgemacht; die Bauern kehren zu ihrer Feldarbeit zurück und der Polizist trollt in die Schnapsbude, um sich dort beim vollen Glas seiner gelungenen List zu freuen und auszusinnen, mit welcher »Verordnung« er nächstens die Bauern wieder anzapfen könnte.

220 Es giebt noch mancherlei Arten, in welcher die Polizei von dem russischen Bauer seinen Groschen erpreßt. Just als wir durch die Provinz Jeniseisk fuhren, spielte sich dort solch ein Fall ab: Einige Bauern beschlossen, ein Boot zu mieten, um damit ihre Weizenernte selbst zum Markt zu bringen, sie hofften da einen besseren Preis zu erlangen, als wenn sie, wie bisher, an Zwischenhändler verkaufen. Der Plan war nicht übel, aber er war ohne die Polizei zu berücksichtigen, ausgedacht worden. In den meisten Dörfern befindet sich ein kleiner Spekulant, ein Handelsmann – häufig ein Jude – der, von der Polizei begünstigt, so viel er kann, die Bauern aussaugt. Wie lieb sie diesen sind, das zeigt schon die Benennung, die sie ihnen geben: »Kulak« (die Faust). Auch in dem betreffenden Dorfe lebte ein »Kulak«, und der hatte kaum von der Absicht der Bauern gehört, als er schon zu dem »Zasedatel« eilte und ihm die Sache mitteilte.

»Wir könnten, lieber Iwan Nikolaiewitsch, unser Geschäftchen dabei machen!« sprach er.

»Wieso?« fragte der Polizeibeamte recht aufmerksam.

»Die Bauern dürfen sich ohne Erlaubnis der Polizei, was auf ihren Pässen verzeichnet werden muß, nicht über dreißig Werst von hier entfernen, und zum Markt ist ja viel weiter. Einem klugen Mann, wie Sie es sind, könnte da nicht schwer fallen, einen Grund ausfindig zu machen, um diese Erlaubnis nicht zu geben. Es könnten neue Gesuchscheine vorgeschrieben worden sein, die Sie noch nicht erhalten haben, oder Sie könnten die Pässe nach der Kreisstadt geschickt haben, damit sie dort erneuert werden. Die Bauern vermöchten dann nicht abzufahren und müßten mir den Weizen verkaufen. Ich bring' ihn dann zu Markt und – wir teilen den Profit.«

Der Streich dünkte dem Polizisten nicht so übel und – er wurde auch ausgeführt.

In dieser Weise werden die Bauern ausgebeutet; aber sie hat noch einen anderen Nachteil: sie macht die Bauern zaghaft und träge. Wozu soll er sich plagen! Damit die Polizei 221 ihn im Verkauf hindere und nötige, dem erstbesten Kulak für einen Spottpreis den Lohn seiner Mühe hinzugeben. Derartige »Geschäfte« kommen in Rußland häufig vor, besonders in Sibirien, wo die Polizeibeamten noch unter einer geringeren Aufsicht stehen und wo sie noch viel verdorbener sind, als im europäischen Gebiete des Reiches. Der Isprawnik von Tjumen, Herr Krasin, der uns recht freundlich aufnahm und Einlaß in dem dortigen Etappengefängnis gewährte, hat sich später ebenfalls bei derlei schmutzigen Geschichten beteiligt, wofür er auch nach Ostsibirien verschickt wurde. Bei dieser Gelegenheit meinte ein vor Gericht als Zeuge vernommener Bauer: »Uns nimmt jeder das Geld ab, ob Zasedatel oder Isprawnik, sie nehmen es uns, so oft sie können. Wir sind schon daran gewöhnt, wir hätten uns auch jetzt nicht beklagt, aber es ist ja von anderwärts her zu Tag gekommen.« Eine Zeugenaussage, die kennzeichnend für die Lage des sibirischen Bauern ist. Er ist daran gewöhnt! – es gilt ihm als unabänderliche Schicksalsfügung. Der Himmel weiß, was diese uniformierten Gauner den armen Bauern im Laufe der Zeit erpreßt haben! Immerhin ist diese Summe keine geringe; der Isprawnik K— in Jeniseisk konnte sich ja schamlos brüsten, daß ihm seine Bauern jährlich bei 20 Tausend Rubel einbringen.

In der Nähe von Irkutsk lernten wir einen »Pisar«, einen Kanzleibeamten kennen. Wir unterhielten uns einmal, nachdem wir intimer geworden, über die Bestechlichkeit der Beamten, und er sagte da ganz offen zu mir: »Auch ich nehme Geld von den Bauern. Ich weiß, das ist nicht rechtschaffen, aber was soll ich thun! Von meinem Gehalt kann ich nicht leben; mein unmittelbarer Vorgesetzter ist bestechlich, der Isprawnik ist bestechlich und der Gouverneur ist ebenfalls bestechlich. Wollte ich eine Ausnahme bilden, so würde ich ob meiner Frechheit ehrlicher, als Seine Excellenz der Herr Gouverneur sein zu wollen, aus dem Dienst gejagt, oder noch schlimmer, ich könnte als heimlicher Revolutionär eingesperrt werden.« 222 Zur Erklärung der letzten Worte sei bemerkt, daß früher viele gebildete junge Russen, liberaler oder auch revolutionärer Richtung unter falschen Namen Schreiberstellen annahmen, um derart Gelegenheit zu haben, die Landleute aufzuklären und sie aus ihrer Lethargie zu rütteln. Die meisten dieser jungen Leute wurden entdeckt und verhaftet; ihre Weigerung, sich mit Schnaps zu betrinken und sich bestechen zu lassen, war zu auffällig, als daß sie nicht zum Verräter hätte werden sollen.

Oft sind die Beamten sehr erfindungsreich in den Mitteln, von den Bauern Geld zu bekommen, was nachfolgendes Histörchen beweisen mag:

Kurz vor unserer Ankunft in Tjumen wurde dem Zasedatel gemeldet, es sei im Walde unweit eines Dorfes der Leichnam eines Mannes gefunden worden, der wahrscheinlich ermordet wurde. Die Pflicht des Beamten ist es nun, sich an den betreffenden Fundort zu begeben, den Befund aufnehmen, dann den Leichnam in das Totenhaus des Dorfes überführen zu lassen und dann die Ankunft des Bezirksarztes abzuwarten, der den Leichnam untersuchen und die Todesart feststellen muß. Der Zasedatel begab sich auch dahin und befahl, den Leichnam in das nahe Dorf zu bringen. Er wußte ganz gut, daß in dem betreffenden Dorfe keine Leichenkammer vorhanden sei und diesen Umstand glaubte er auch benutzen zu können, um für sich ein Sümmchen herauszuschlagen. Er ließ nämlich den Toten bis zum Hause des reichsten Bauern tragen und erklärte diesem, er müsse nun den Leichnam aufnehmen, bis die ärztliche Schau vorgenommen ist. Der Bauer jammerte, es war ihm doppelt unlieb, da seine Tochter am nächsten Tage heiraten sollte. Der Beamte drückte sein Bedauern aus, aber es müßte so sein. Es wäre in der Nähe des Dorfes jemand ermordet worden, ein Vorfall, der für den ganzen Ort üble Folgen haben könne.

Dem Bauer war arg zu Mute. Er wußte, daß der Beamte das Recht hatte, den Leichnam in sein Haus bringen 223 zu lassen und daß jeder Widerstand eine harte Strafe nach sich zieht. Er bittet daher den Zasedatel, er möge ihm das nicht anthun, er müßte die Hochzeit verschieben und seine Familie würde sich durch die Anwesenheit des Leichnams ängstigen, etliche Rubel würde er da gern zahlen, um davon befreit zu sein. Der Beamte sieht nun wirklich ein, daß dergleichen unmittelbar vor der Hochzeit sehr unangenehm komme und – sie einigten sich bald. Nun wurde der Leichnam vor das Haus eines anderen vermöglichen Bauern getragen und das Spiel wiederholte sich. In dieser Weise machte der Tote des Zasedatel bei allen wohlhabenden Bauern die Runde und nachdem sich alle mit einigen Rubeln losgekauft hatten, wurde abends der Tote in einen alten, leerstehenden Schuppen hineingetragen.

Später erfuhr ich, daß dieser Leichenrundgang nichts Seltenes sei; es kommt sogar vor, daß eine Leiche nach zwei oder drei Dörfern wandert, um dem Beamten ein Sümmchen zu verschaffen. Es ist nichts Außergewöhnliches, daß in der Nähe der Dörfer Leichen aufgefunden werden, denn die Zahl der Flüchtlinge, die jährlich in Sibirien erfrieren, oder sonstwie ums Leben kommen, ist groß. In einem Dorfe erzählten mir die Bauern, daß sie niemals den Fund eines Leichnams der Behörde anzeigen, denn das koste stets Geld. Sie begraben ihn heimlich, oder transportieren ihn nachts auf das Gebiet eines anderen Ortes. Einmal wurde sogar – wie die »Östliche Rundschau« in ihrer No. 38 vom 22. September 1883 schreibt – ein Leichnam in eine Zelle der Gefangenen gesteckt und dort belassen, bis es die Lebenden nicht mehr aushalten konnten und die Entfernung des Toten durch eine Geldzahlung veranlaßten.

Ein anderer Polizeibeamter hieß einst zur Erntezeit alle Bauern zu sich kommen, da es sich um eine wichtige Sache handle. Sie erschienen pünktlich und fanden ihn da in voller Uniform an einem Tisch sitzen, der mit vier großen Bänden Gesetzsammlungen bedeckt war. Er sagte nun den erschienenen 224 Bauern, es wäre ihm hohen Orts her der Befehl geworden, sie mit den Landesgesetzen vertraut zu machen, die jeder gute Russe kennen muß. Und damit begann er eine Vorlesung der Gesetze zu halten, die bis abends währte; dann entließ er sie mit der Weisung, am nächsten Tag wieder zu kommen. – Mit 20 Kopeken für jeden Mann gerechnet, kauften sich die Bauern von diesem Zwangsstudium der russischen Gesetze los.

Eine andere gute Gelegenheit, die Bauern zu plündern, ist den Polizeibeamten durch die lästige »Arbeitsschuldigkeit« (Robott) gegeben, wonach jeder jährlich zu einigen Tagen Arbeit für Straßenbau verpflichtet ist. Anstatt den Bauer nun in der Nähe seines Dorfes die Arbeit verrichten zu lassen, schickt ihn der Isprawnik nach einer Entfernung von 100 Kilometer; gern erkaufte er sich dann die Erlaubnis, nächst seinem Orte arbeiten zu dürfen. Bleibt er aber hartköpfig, so befiehlt ihm der Isprawnik nicht eher fortzugehen, bis er die Arbeit besichtigt habe. Und so geschieht es, daß zuweilen 100 Leute ein, zwei Wochen lang an der Straße lagern müssen, obgleich ihre Arbeit schon längst beendet ist.

Die politischen Verschickten in Sibirien wußten uns so manches drollige Stückchen zu erzählen, von der Dummheit der Landpolizei, namentlich, was die »Revolutionäre« betrifft.

Nach der Ermordung des Gendarmerieoffiziers Sudeikin durch den Terroristen Degajeff wurden die Photographieen des Mörders allen Polizeiämtern des Reiches zugesandt und dabei war auch auf seine Erlangung ein Preis von 10 Tausend Rubel ausgeschrieben. Die Photographieen zeigten Degajeff in sechs verschiedenen Aufnahmen: mit und ohne Mütze, mit und ohne Vollbart, mit und ohne Schnurrbart. Ein tölpelhafter Polizist in Westsibirien verhaftete nun vier harmlose Reisende, die mit den Bildern vielleicht einige Ähnlichkeit hatten, dann rühmte er sich in seiner Trunkenheit im Dorfe, im Schnapsladen, es sei ihm schon gelungen, vier dieser verdammten Degajeffs einzufangen, jetzt werde er noch die 225 anderen zwei aufspüren und dann alle sechs zusammen seinen Vorgesetzten überliefern; die ausgeschriebenen 10 Tausend Rubel werden ihm nicht entgehen und auch das »Ehrenzeichen« dürfte er kriegen.

Einer seiner Genossen wieder verhaftete einen Gelehrten, Mitglied der kaiserlichen geographischen Gesellschaft, als dieser ornithologischen Studien wegen einen Ausflug machte. Zu seinem Mißgeschicke hatte der Gelehrte die Vögel, die er erjagte, in sein Notizbuch eingetragen und der weise Polizist witterte ganz Entsetzliches, als er bei der Durchsuchung des Mannes bei ihm Stellen verzeichnet fand, wie z. B.: »Heute eine Kronenschnepfe geschossen.« – »Heute eine Silvia hortensis.« Das konnte seiner Ansicht nach nichts anderes bedeuten, als revolutionäre Mordthaten und »Kronenschnepfe«, das mußte eine Anspielung auf die geheiligte Person des Zaren sein. Und unter starker Bewachung wurde der arme Gelehrte nach der Bezirksstadt geführt.

Beinahe jeder Fremde, der das Leben in Rußland näher kennen lernen wollte, mußte wenigstens einmal mit der Polizei in unangenehme Berührung kommen: Der englische Seemann Wiggins wurde in Sibirien drei Tage in Haft gehalten, bis er den Nachweis über seine Person erbringen konnte, Mackenzie Wallace wurde im europäischen Rußland als Spion verhaftet, der englische Geistliche Lansdell, als Verbreiter revolutionärer Schriften, und wir endlich wurden in Perm für verhaftet erklärt, weil wir uns das Gefängnis von außen betrachteten.

Die Geheimpolizei und Gendarmerie ist nicht minder zahlreich, als die Landpolizei, doch kann jenen ein höherer Grad Intelligenz zugemessen werden und auch ihr Machtkreis ist viel umfangreicher. Sie sind über das ganze Reich verbreitet und besonders zahlreich in den Städten zu finden. Von ihrer Anzahl, Organisation und über ihr System ist wenig bekannt geworden, man weiß nur, daß sie jetzt unter Leitung des Ministers des Innern stehen und daß sie sich fast ausschließlich mit politischen Angelegenheiten beschäftigen, verdächtige 226 Personen beobachten, oder wie der Amtsausdruck sie nennt: »Unzuverlässige«. Zur Zeit des Regierungsantritts Alexanders III. standen im europäischen Rußland 3000 Personen unter öffentlicher Polizeiaufsicht und beinahe 2000 befanden sich in Sibirien. Wie viele unter geheimer Polizeiaufsicht standen, läßt sich natürlich nicht bestimmen; immerhin muß ihre Zahl sehr groß sein. Wie genau auch diese beobachtet werden, das zeigt am Besten die Auskunftstabelle, die der Polizist monatlich über die von ihm beaufsichtigte Person ausfüllen muß. Es gelang mir, ein Formular dessen zu verschaffen; es lautet:

Abteilung der Kaiserlichen Polizei,
Formular No. 2.
(Muß monatlich ausgestellt und abgeliefert werden).

  1. Welches ist der Tauf- und Familienname der beaufsichtigten Person? Wie heißt der Vater?
  2. Wo wohnt diese Person?
    Angeführt muß werden Ort, Bezirk, Straße, Haus, Stube.
  3. Wie lange wohnt sie dort und wo hielt sie sich vordem auf?
  4. Ist es eine große, selbständige Wohnung im eigenen Hause oder lebt diese Person in einer Mietswohnung oder in Aftermiete? Wer ist der Hauseigentümer oder Vermieter?
    Angeführt muß werden Name, Beschäftigung und Vorleben.
  5. Wohnt diese Person allein oder mit anderen? In letzterem Falle: wer sind diese anderen?
  6. Ist eine Dienerschaft vorhanden? Wie heißen diese? – Falls keine vorhanden sein sollte, wer hält die Wohnung in Ordnung? Wie ist die Stubeneinrichtung beschaffen? Wer besorgt die Wäsche? Namen und Wohnung der Wäscherin sind deutlich anzugebenUnter dem Vorwande, sie wären Wäscherinnen, pflegten weibliche Mitglieder der Revolutionspartei ihre männlichen Genossen zu besuchen; auch diente der Wäschekorb häufig zur unauffälligen Überbringung verbotener Sachen. 227
  7. Wann und von wem hat diese Person gewöhnliche Briefe oder Geldbriefe erhalten?
  8. Speist sie daheim oder auswärts?
  9. Benutzt sie die öffentlichen Bibliotheken? – Welche? – Und welche Bücher hat sie während des abgelaufenen Monats entnommen?
  10. Was macht diese Person daheim?
  11. Welches sind ihre Geldmittel? Falls sie Unterricht erteilt, bei wem? Falls sie im Amt oder Stellung ist, wo und welcher Art ist dieses?
  12. Wo sah ihn der Beobachter zum erstenmale und unter welchen Umständen geschah dies? Kennt diese Person den Beobachter?
  13. Wann pflegt diese Person die Wohnung zu verlassen und wann heimzukommen?
  14. Hat diese Person eine Geliebte beziehungsweise einen Liebhaber? Ist dies der Fall, wer ist jene oder dieser und wo wohnen sie? Wo finden ihre Zusammenkünfte statt?
  15. Wer hat diese Person im verflossenen Monat besucht und in welcher Zeit geschah dies?
    Wenn möglich, sind deren Namen und Wohnungen anzuführen.
  16. Hat eine auswärtige Person in dieser Wohnung übernachtet und wer war das?
  17. Wer könnte bezeugen, daß die oben erwähnte auswärtige Person dort war?
  18. Spielt die beaufsichtigte Person Karten?
  19. Hat man sie schon betrunken gesehen?

Diese Fragen müssen von dem Polizeispäher beantwortet und unterschrieben, vom Bezirksleiter der Geheimpolizei mit Gegenzeichnung versehen und dann bei der hiefür bestimmten Ministerialabteilung eingereicht werden.

Man sollte nun glauben, ein derartiger Monatsausweis gäbe der Polizeidirektion das Leben und Treiben der beobachteten Person genau zu erkennen – das ist aber nicht der 228 Fall. Die Mine in der kleinen Gartenstraße zu Petersburg, die achtzig Pfund Dynamit enthielt, wurde von zwei dieser Beaufsichtigten, die als Käsehändler sich ausgaben, fertiggestellt. Ihr Geschäftsladen wurde sogar drei Tage vor Ermordung Alexanders II. polizeilich durchsucht und die Mine wurde nicht entdeckt.

Ich glaube, man überschätzt die Leistungen der russischen Geheimpolizei. Ich selbst fand genug Mittel und Wege mich ihrer Aufsicht zu entziehen und viele hunderte Revolutionäre wissen das jahrelang zu thun. In jeder Stadt giebt es eine Menge Revolutionäre von denen die Polizei nichts weiß; verbotene Schriften, verschiedenartig hergestellt, sind im Verkehr – auch diese Aufsätze gehören dazu – ohne daß die Polizei eine Ahnung davon hat. Vielleicht Schlüsselburg ausgenommen, dürfte es im ganzen weiten Reiche kein Gefängnis geben, wo es den Gefangenen nicht möglich wäre, sich in irgend einer Weise mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen. In diesem Sinne bemerkte ziemlich richtig ein Korrespondent der »Newyorker Tribüne«:

»Es dürfte in Rußland kein Zweites geben, worüber im Auslande eine so unrichtige Vorstellung herrscht, wie über die russische Polizei, denn in Wirklichkeit ist sie die schlechtest geleitete, die unwissendste und unfähigste, die in Europa zu finden ist.«

Welchen Nutzen bringt dieses Regierungssystem?

Ich glaube, das Beste wäre auch für den Zar, wenn die despotische Gewalt einer konstitutionellen wiche und wenn er dann dreiviertel seiner Polizeimacht auflöste. Ärger, als die Verhältnisse bereits sind, könnten sie nicht mehr werden, dagegen würde eine richtig geleitete liberale Regierungsweise aus Rußland ein wohlhabendes, zufriedenes und starkes Reich schaffen.

 

Ende des ersten Teiles.

 


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