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Die von der Zeitschrift »Century Magazine« ausgesandte sibirische Expedition fuhr am 2. Mai von New-York nach Liverpool ab. Sie bestand aus dem bostoner Künstler, Herrn Georg A. Frost und dem Verfasser der nachfolgenden Schilderungen. Wir beide waren der russischen Sprache mächtig, wir beide hatten schon einen Teil Sibiriens bereist; ich hatte schon früher dreimal das Land des Zaren besucht. Meinen Reisegenossen lernte ich kennen, als wir bei der russisch-amerikanischen Telegraphen-Gesellschaft angestellt waren, wobei der längere Aufenthalt in Nord-Asien uns mit den Mühen und Entbehrungen einer Sibirienfahrt vertraut machte. Unsere Auftraggeber billigten unseren Reiseplan, sie statteten uns reichlich aus, wir hatten fast unbeschränkte Vollmachten und hofften nun unsere Absicht vollkommen zu verwirklichen, obgleich wir uns aller Schwierigkeiten wohl bewußt waren.
Sonntag am 10. Mai gelangten wir nach London, vier Tage später setzten wir unsere Reise nach St. Petersburg fort; wir fuhren über Dover, Ostende, Köln, Hannover, Berlin, Eydkuhnen. Die vorgeschrittene Jahreszeit ließ uns wünschen, Sibirien so rasch wie möglich zu erreichen, um noch die günstige Witterung zu benützen; wir beschlossen daher nur fünf Tage in der russischen Hauptstadt zu verbleiben. Allein ein ungünstiger Zufall führte uns just zu Beginn einer Reihe der in Rußland so häufigen Feiertage her, so daß wir zehn Tage verweilen mußten und davon nur vier zur Erledigung unserer Angelegenheiten verwenden konnten.
Ich gab bei Herrn Wlangalli, dem Sekretär des Ministeriums des Auswärtigen meine Empfehlungsbriefe ab und 6 teilte ihm unsere Absicht mit. Meiner Meinung nach, bemerkte ich, wäre Sibirien und das Verschickungssystem durch vorurteilsvolle Schilderungen zu ungünstig dargestellt worden, so daß eine getreue Darstellung des Landes, des Gefängniswesens und der Bergwerke, der russischen Regierung nur zum Vorteil dienen könnte. Mich könnte wohl keiner im Verdacht haben, ich werde in Sibirien nach Dingen forschen, deren Veröffentlichungen nur geeignet wären, meine bisherigen günstigen Darstellungen der russischen Verhältnisse Lügen zu strafen. Es war dies meine aufrichtige Überzeugung und es schien, daß sie Herrn Wlangalli günstig für mich stimmen würde. Zum Schlusse unserer etwa zwanzig Minuten währenden Besprechung äußerte er, daß wir jedenfalls die Erlaubnis nach Sibirien zu reisen erhalten werden, daß er uns einen offenen Brief an die Gouverneure der Provinzen Sibiriens mitgeben wolle, und daß er uns auch ein Empfehlungsschreiben des Ministers des Innern verschaffen werde. Meine Frage, ob diese Briefe uns ermöglichen werden, die Gefängnisse in Augenschein zu nehmen, beantwortete er verneinend und bemerkte dabei, daß dergleichen immer nur von dem betreffenden Gouverneur gewährt werde. Ob uns diese Erlaubnis je zu teil wird – darüber wollte er sich nicht äußern. Ich vermutete daher, daß die Regierung uns keine unbeschränkte Vollmacht geben wolle, daß sie uns unter einer Art freundschaftlicher Aufsicht zu stellen beabsichtigte und uns die Gefängnisse nur nach Gutdünken zugänglich machen werde. Obgleich ich voraussah, daß uns in dieser Weise manche Schwierigkeiten erstehen werden, hielt ich es doch für vernünftiger keine weitere Zugeständnisse zu verlangen; ich dankte ihm für sein gütiges und höfliches Entgegenkommen und empfahl mich.
Einige Tage später gewährte er mir wieder eine Unterredung. Ich erhielt dabei die versprochenen Briefe und er drückte den Wunsch aus, ich möge bei meiner Anwesenheit in Moskau Herrn Katkoff, den bekannten Herausgeber der Moskauer Zeitung besuchen. Zu diesem Zwecke gab er mir einen geschlossenen Empfehlungsbrief an den kaiserlichen Archivar in Moskau, Baron 7 Buhler, der mich bei dem Erwähnten einführen sollte. Charakter und Lebenslauf dieses bedeutenden Vorkämpfers des Selbstherrschertums waren mir nicht unbekannt, es freute mich ihn kennen zu lernen obgleich ich auch das Motiv zu erraten glaubte, das Herrn Wlangalli zu diesem Wunsche veranlaßte. Die machtvolle Individualität dieses russischen Publizisten sollte meine günstige Meinung stärkend beeinflussen und damit einem schädlichen Eindruck vorbeugen, den ich durch die Zusammenkunft mit verbannten Nihilisten, mit welchen ich während meiner Reise doch zusammenkommen mußte, erhalten könnte. Diese Maßregel schien mir höchst überflüssig, da ich von den Nihilisten die ungünstigste Meinung hatte. Meine Äußerungen gegen höhere russische Beamte waren weder unaufrichtig noch zweideutig; ich habe die Erlaubnis Sibirien zu bereisen durch keine Täuschung oder falsche Vorspiegelung erlangt. Nicht Unaufrichtigkeit ist der Grund, daß heute meine Meinung eine andere ist als jene, die ich drei Jahre früher Herrn Wlangalli gegenüber zum Ausdrucke brachte, sondern die Macht erschütternder Erfahrungen war es, die mich nötigte meine Ansichten zu ändern.
Wir versorgten uns nun mit einem photographischen Apparate, Büchern und Karten, verschafften uns ungefähr fünfzig Empfehlungsbriefe an Lehrer und Beamte in allen Teilen Sibiriens und fuhren dann am 31. Mai nachmittags von Petersburg nach Moskau. Die Grenze Sibiriens ist von der Hauptstadt ungefähr 2570 Kilometer entfernt. Der Weg, den die Reisenden gewöhnlich und die Verbannten immer einschlagen, führt über Moskau, Nischnii-Nowgorod, Kasan, Perm und Jekatarinenburg. Das russische Eisenbahnnetz reicht im Osten nur bis Nischnii-Nowgorod, doch fahren im Sommer von hier bis Perm Dampfschiffe auf der Wolga und Kama. Von Perm führt ein isolierter hundertundachtzig Meilen (zweihundertundsiebzig Kilometer) langer Schienenstrang nach Jekatarinenburg, er durchschneidet das Uralgebirge und stellt die Verbindung her zwischen den Flüssen Wolga und Ob. Noch während unserer Anwesenheit in Sibirien wurde die Eisenbahn bis Tjumen vollendet, 8 das an einem Nebenfluß des Ob liegt, so daß man nun von St. Petersburg nach Semipalatinsk oder Tomsk sowohl mit der Eisenbahn wie auch mit dem Dampfschiff gelangen kann.
Nach unserer Ankunft in Moskau übergab ich sogleich mein Empfehlungsschreiben an Baron Buhler, wir gingen dann vereint in die Redaktion der Moskauer Zeitung, wo ich mit Bedauern vernahm, daß Herr Katkoff verreist sei und erst in zwei oder drei Wochen zurückkehren dürfte. So lange konnten wir natürlich nicht warten und da wir in Moskau anderes nicht zu thun hatten, fuhren wir mit der Eisenbahn nach Nischnii-Nowgorod, wo wir Donnerstag am 4. Juni in den Morgenstunden anlangten.
Wer zum erstenmal nach Nischnii-Nowgorod kommt, den erfaßt Staunen, ja vielleicht sogar Schrecken, wenn er von der Eisenbahnstation aus, vom niedrigen Ufer der Oka gegen die Wolga hin der Stadt zuschreitet. Reinliche, gut gepflasterte Straßen, eine Menge stattlicher Bauten, ein hübscher mit schattigen Birken und Pappeln besäumter Weg, ein Kanal mit zierlichen Brücken, ein großer Wasserturm, die prachtvolle Alexander Newsky Kathedrale, Börse, Theater, Hotels, Marktplätze, alles was eine große belebte Handelsstadt verkündet – aber nirgends die Spur menschlicher Wesen; Gras und Unkraut wuchern in den öden Straßen. Die Vögel zwitschern in dem Laub der Bäume, die die stillen Straßen beschatten; geschlossen sind die zahlreichen Verkaufsläden und Niederlagen; kein Glockenklang ertönt von den Kirchtürmen. Staunend kann der Fremde lange Zeit dahinschreiten, ehe er die Spur eines Menschens gewahrt. Erinnert er sich, daß Nischnii-Nowgorod die Stadt der berühmten Jahrmärkte ist, so kommt er wohl zum Schlusse, daß die Messen in diesem Stadtteile stattfinden müssen. Aber erstaunlich bleibt ihm immer doch, wie eine Stadt neun Monate des Jahres wie ausgestorben ist, nur damit das Ganze eine kurze Zeit seiner vorübergehenden Bestimmung dienen könne.
Die Messestadt Nischnii-Nowgorod liegt auf einer Halbinsel zwischen Oka und Wolga, oberhalb der Stelle, wo jene in diese 9 mündet. Die Altstadt gleichen Namens liegt auf dem rechten Ufer der Oka, auf einer steilen, vierhundert Fuß hohen Terrasse. Man könnte diese Stadt eine riesige Handelskarawanserei nennen, wo alljährlich eine halbe Million Handelsleute sich einfinden, um Waren zu kaufen und zu verkaufen. Im September beträgt die Einwohnerzahl oft gegen hunderttausend und der Wert der lagernden Güter 75 Millionen Dollars; in den ersten Monaten des Jahres dagegen fänden sämtliche Einwohner in dem kleinsten der vorhandenen Gasthöfe ganz bequeme Unterkunft und alle Warenvorräte könnten in ein einziges der vielen vorhandenen Magazine eingelagert werden. Es herrscht hier ein kommerzielles Wechselfieber, wo der eifrigen und übermäßig bewegten Handelsthätigkeit eine längere Pause des Stillstandes und der Erschlaffung folgt. Fast unglaublich erscheint es, daß eine so große Stadt mit vielen Kirchen, Moscheen, Theatern, Hotels, Marktplätzen, Banken und Börse eine Stadt mit beinahe siebentausend Kaufläden und einer gleich großen Anzahl Wohnhäuser nur zeitweilig benutzt wird und während der anderen Zeit vollständig verödet liegt.
Im Jahre 1868, in einer klaren Januarnacht, erblickte ich diese Stadt zum erstenmale und sie machte damals mehr noch als später auf mich den Eindruck trostloser Einsamkeit. Das bleiche Mondlicht ergoß sich auf die schneebedeckten Straßen, auf Mauern und Kuppeln der Kathedrale. Die vom Windeswehen vor den verschlossenen Thüren gehäuften Schneemassen und die bedeckten Dächer glitzerten und schimmerten; es dünkte, als wäre diese von Menschen verlassene Stadt von den Geistern des arktischen Gebiets in Besitz genommen worden.
Zur Messezeit, im Herbst des Jahres 1870, sah ich diese Stadt wieder und erkannte sie kaum. Auf dem Flusse ragte ein Wald von Masten empor. Der schrille Pfiff der Dampfschiffe durchdrang mit kurzen Unterbrechungen die stauberfüllte, dumpfe Atmosphäre. An der Flußlände und in den Magazinen lagen Warenvorräte im Werte von 125 Millionen Rubel. Die nach der Altstadt führende Schiffbrücke wurde täglich von 60 000 Personen 10 überschritten. In der Hauptstraße, vor dem Hause des Gouverneurs, ließ eine Militärkapelle die Weisen Offenbach'scher Operettenmusik erklingen. In allen Straßen, die aus einem langen Schlaf erwacht zu sein schienen, wogte eine geschäftige, fröhliche Menschenmenge auf und nieder.
Und jetzt, wo mir nun wieder diese Stadt vor Augen kam, fand ich sie ebenso still und einsam wie zur Zeit meines ersten Besuches. Sonst wies sie jedoch einige vorteilhafte Veränderungen auf! An Stelle vieler Holzbauten befanden sich massive Steingebäude, die Zahl der Verkaufsläden war größer geworden, die Straßen neu gepflastert und am Ende der Halbinsel wurde das bedeutendste Bauwerk der Stadt, die Alexander Newski-Kathedrale errichtet.
Man glaubte, daß die Messe von Nischnii-Nowgorod infolge der Ausdehnung des russischen Eisenbahnnetzes an Bedeutung verlieren würde, was jedoch nicht geschah. Im Gegenteil! Der Wert der in den Jahren 1868 bis 1881 zu Markt gebrachten Waren steigerte sich von 120 auf 246 Millionen Rubel und die Zahl der Verkaufsstellen von 5738 auf 6298. Zur Zeit soll der Warenverkehr während der zwei Messemonate den Wert von 225 Millionen Rubel haben und die Zahl der Verkaufsstellen mehr als 7000 betragen. Die Eisenbahnstation der Linie Moskau – Nischnii-Nowgorod befindet sich in der Handelsstadt, am linken Ufer der Oka; der Verkehr mit der Altstadt wird im Sommer durch eine Dampffähre und die schon erwähnte Schiffbrücke vermittelt. Zur Zeit unserer Anwesenheit war diese noch nicht eingerichtet, wir fuhren daher auf der Fähre hinüber.
Die befestigte Altstadt gewährt einen sehr malerischen Anblick. Das steile Ufer, an dem sie liegt, erhebt sich fast unmittelbar aus dem Wasser; die eingeschnittenen Straßen, die hinausführen, werden an einigen Stellen von schmalen Terrassen unterbrochen, von welchen die weißen Mauern und die vergoldeten Kuppeln der Kirchen und Klöster zwischen dem Grün der Bäume hervorlugen.
Die in allen Farben schimmernden Kuppeln, das saftige 11 Grün, das sich an manchen Stellen bis an das Wasser erstreckt, die bunt bewimpelten Schiffe: dies alles zusammengenommen giebt, von der hellen Junisonne beschienen, ein Bild, das im nördlichen Rußland seines Gleichen nicht findet. In der Richtung der Wolga, dem Anschein nach am Ende der Anhöhe, befindet sich der »Kreml«, die Citadelle der Stadt, dessen hohe Zinnenmauern terrassenartig herabsteigen und dessen runde Türme und gewölbte Thorgänge den Beschauer lebhaft an die längstvergangene Zeit erinnern. Vor dreihundertfunfzig Jahren galt diese Veste als unüberwindlich und ein Jahrhundert lang war sie den Bewohnern eine sichere Zufluchtstätte bei den Einfällen der Tatarenhorden des Kasans. Nachdem es im 16. Jahrhundert gelungen war, die Tataren-Chanate völlig zu unterwerfen, verlor diese Festung ihre Bedeutung und geriet nach und nach gänzlich in Verfall. Ihre dreizehn Türme, die früher eine Höhe von ungefähr hundert Fuß hatten, sind jetzt Ruinen und die ein Kilometer umfassenden Mauern wären vermutlich heute schon ganz verschwunden, wenn sie nicht so besonders massiv und so fest gefügt wären. Sie machen den Eindruck als wären sie noch stärker als die Mauern des berühmten Kremls von Moskau.
Nach unserer Landung fuhren wir nach dem in dem oberen Teil der Altstadt befindlichen Hotel, nahmen Zimmer, sandten unsere Pässe zur Polizei und schlenderten dann dem Kreml entlang, dem Ufer zu. Zwischen der Anhöhe, auf der sich Altstadt und Kreml befinden, und dem Flusse, befindet sich ein schmaler Streifen Landes, der gleichfalls dem Handel dient und der »Untere Bazar« genannt wird. Bunt durcheinander befinden sich hier zahlreiche Bauten von mannigfaltigstem Aussehen. Neben eleganten, modernen Warenhäusern mit Spiegelgläsern und vergoldeten Schildern stehen ärmliche, hölzerne Hütten; Banken, Hotels, Schiffagenturen wechseln mit Trödelbuden. Unvermutet taucht da plötzlich vor dem Blick eine phantastisch bemalte Kirche aus dem verwichenen Jahrhundert auf. Das ganze Gebiet vom Fluß bis zur Anhöhe ist mit 12 Kaufläden aller Art erfüllt, wo alles Erdenkliche zum Verkauf ausgeboten wird: Stecknadeln und Holzkämme, getrocknete Pilze und Schiffsanker, Kirchenglocken und Dampfmaschinen. In einem Laden des »Unteren Bazars« sah ich folgendes zum Verkauf gestellt: Eine Garnitur Möbel, zwei Kinderwagen, einen Kinderstuhl, zwei Kerbsägen, ein halbes Dutzend alter Samowars, eine Wiege, eine Dampfmaschine, ein Elchgeweih, drei alte Wasserkessel, etliche Teleskope, ein Kirchenkreuz von vier Fuß Höhe, sechs oder acht Uhren, einen Wagenteil, Flederwische, Operngläser, Holzketten, Ambosse, alte Stiefel, einen kaukasischen Dolch, Hobelbänke, Schlittenschellen, Flaschenzüge, Taue, Schläuche, Pferdegeschirre, Säbel, Axtstiele, Wagenkissen, vergoldete Armreife, Faßreife, Koffer, Akkordions, drei oder vier Suppennäpfe voll rostiger Nägel und Schrauben, Messer, Schraubstöcke, Thürangeln, Revolver, Waffen, gebrauchte Ofenröhren, eine Kiste Biskuits und eine lange Badewanne. Das damit Verzeichnete ist kaum ein Drittel des Vorhandenen, zu einer genauen Aufnahme fehlte mir die Zeit. Dieser Laden war für den ganzen »niedern Bazar« typisch, denn nichts dürfte da auffallender sein als die Verschiedenartigkeit der Bauten, der Bewohner und des Handels. Entlang des ganzen Ufers befanden sich Landungsbrücken und Dampfschiffe; Leute aus allen Teilen des Reiches bewegen sich hier in ihrer Handelsthätigkeit. Fast stündlich fuhren von hier Dampfer ab nach der unteren Wolga, der sibirischen Grenze und dem fernen Kaspischen Meer; große schwarze Barken wurden von tatarischen Schiffsknechten ein- und ausgeladen; kleine einspännige »Telegas« aus Holz – sie haben das Aussehen halber, auf vier Rädern liegender Fässer – führten die aufgestapelten Waren fort; die breite, staubige Straße war den ganzen Tag mit Handelsleuten, Bauern, Pilgern, Bettlern und Landstreichern belebt.
Selbst die Kinder sind von dem Handelsgeist beseelt, der die ganze Stadt durchzieht. Als ich vom Ufer aus das Treiben beobachtete, sah ich wie ein zerlumpter Knirps von etwa neun Jahren, dessen ganzes Warenlager aus einigen Schnüren 13 getrockneter Pilze bestand, mit der ganzen Sicherheit eines erfahrenen Hausierers durch die Menge sich drängte und ich hörte wie seine dünne Kinderstimme ausrief: »Pilze, gute Pilze! Kauft meine Pilze! Unterstützt den Handel, meine Herren!«
Die Mannigfaltigkeit der Volkstypen ist im Juni im »Unteren Bazar« vielleicht nicht so groß wie zur Zeit der Septembermesse, allein die Eigentümlichkeiten der Tracht lassen fast jede Gestalt der Menge dem fremden Beobachter interessant erscheinen. Hier der dunkelbraune Tartar in runder Mütze und langen »Khalats«; dort der russische Bauer im schmutzigen Schafsfell-Rock und plumpen, aus Bast geflochtenen Schuhen, die Beine mit grober Leinwand umwickelt, die von Schnüren festgehalten wird; Mönche zweifelhaften Aussehens mit langen Bärten und Kopfhaaren betteln um milde Gaben für Spitäler oder Kirchen. Sie nehmen die kleinen Geschenke auf Brettchen, die mit schwarzem Sammet überzogen sind, in Empfang, um sie dann in Zinnbüchsen zu werfen, die mit großen Vorlegschlössern versehen sind und die sie um den Hals befestigt vor sich tragen. Hier wieder Hausierer, die ihren »Kwas« Sorbet, Meth und andere verführerisch funkelnde Getränke anpreisen; dort wieder andere, die mit gewaltigen Stimmmitteln die Vorzüge der von ihnen feilgebotenen Waren ausrufen: falsches Geschmeide, Salzgurken, Pilze, baumwollene Taschentücher, die mit der Karte von Rußland bedruckt sind, und noch so manches andere. Endlich noch der auf- und niederwogende Schwall der Groß- und Kleinhändler aus dem weiten Wolgagebiet.
Was den Reisenden beim Eintritt in das südöstliche Rußland ganz besonders auffällt, ist die überall bemerkbare rege Handelsthätigkeit, die schier unerschöpflichen Hilfsquellen des Landes. Der Amerikaner stellt sich das südöstliche Rußland vor als Weide- oder Ackerland, das wohl den Bedarf seiner geringen, halbkultivierten Bevölkerung hervorzubringen vermag, aber was den Handelsverkehr betrifft, auch nicht mit dem zurückgebliebensten Staat der Union verglichen werden kann. Sein Staunen wäre daher nicht gering, sähe er hier in 14 Nischnii-Nowgorod den Fluß mit Schiffen bedeckt, was oft sechs bis acht Meilen weit reicht, würde er erfahren, daß die Regelung des Stromverkehrs einem eigenen Schifffahrtsgericht unterliegt; wüßte er, daß der »Pristan«, der Landungsplatz, einem vom Handelsministerium ernannten Oberbeamten untersteht, der dabei von zahlreichen Unterbeamten unterstützt wird; wäre ihm bekannt, daß der Dampferverkehr auf der Wolga und ihren Nebenflüssen noch bedeutender ist, als der auf dem Mississippi; daß der Wert der Handelsgüter, die jährlich nur auf einem einzigen Nebenfluß der Wolga, auf der Kama, befördert werden, 15 Millionen Dollars beträgt; daß schließlich die Gewässer der Wolga jährlich auf 7000 Schiffen 5 Millionen Tonnen Last tragen und dabei fast 200 000 Schiffsleute beschäftigt sind. Ein gebildeter Amerikaner sollte das alles vielleicht wissen, doch mir war es ebenfalls unbekannt und die Entdeckung dieses immensen Verkehrs setzte mich nicht wenig in Staunen.
Nachdem wir, soweit es die Kürze der Zeit zuließ, alles Bemerkenswerte in Augenschein genommen hatten, bestiegen wir am 6. Juni, Sonntag morgens, den Dampfer um etwa 1600 Kilometer, die Wolga zu Thal und die Kama zu Berg, nach Perm zu fahren.
Es wurde behauptet, Ägypten sei die Schöpfung des Nils. Im anderen Sinne, aber mit nicht geringerer Berechtigung ließe sich sagen, Ostrußland sei die Schöpfung der Wolga. Diese war es, welche hauptsächlich die ethnologische Zusammensetzung der Bevölkerung bestimmte; mit ihr ist seit mehr als ein Jahrtausend die ganze Geschichte des Landes verbunden; sie war es, die auf Charakter und Handel der ostrussischen Stämme bedeutsam einwirkte, und auch heute noch ist das Wohl und Wehe von mehr als 10 Millionen Menschen von ihr abhängig. Überhaupt ist die Wolga einer der bedeutendsten Ströme der Welt. Ihre Länge von der Waldaianhöhe bis zum Kaspischen Meer beträgt ungefähr 3700 Kilometer, ihre Breite unterhalb Zarizyn ist zur Zeit des Hochwassers mehr als 15 48 Kilometer, so daß ein Schiffer, der sie kreuzt, ihre niedrigen Ufer ganz aus dem Gesicht verliert und sich auf hoher See wähnt. Sie bespült das Gebiet von neun Provinzen des Zarenreiches und an ihren Ufern liegen 39 Städte und mehr als 1000 Dörfer und Weiler. Der wichtigste Teil des Stromes ist jener zwischen Nischnii-Nowgorod und der Kama-Mündung; auf dieser Strecke verkehrten zur Zeit der Schifffahrt 450 Dampfer. Bis zur »Samarabiegung« zeigt sich auf dem Strome überall ein reges Leben; Dampfer, Barken und große Kähne, beladen mit Gütern aus Ostrußland, Sibirien und Zentralasien bedecken ihn. Schon die Produkte aus dem Wolgagebiet sind von großer Bedeutung. Mancher Ort wo rege Landwirtschaft betrieben wird – z. B. Liskowo, an dem das Dampfschiff zwischen Nischnii-Nowgorod und Kasan vorüberfährt – und die in der Entfernung als eine unbedeutende Gruppe Holzhäuser erscheinen, befrachten allein jährlich bis 700 Schiffe mit Getreide.
Die Scenerie der obern Wolga ist malerischer und wechselreicher als sich von einem Strom erwarten läßt, der durch eine einförmige Ebene dahinfließt. Das linke Ufer bietet freilich nichts Interessantes; aber das rechte Ufer erhebt sich unmittelbar aus dem Strom zu einer Höhe von 4–500 Fuß und in zwei bis drei Meilen langen Zwischenräumen ragt es als Vorgebirge in den Strom hinein, eine Reihe kleiner verbundener Seeen bildend, auf deren regungslosen Spiegeln das dunkle Laub des Urwaldes und die kühnen Umrisse des Ufers sich wiedergeben. Da und dort zeigen sich auf den Hügeln die hellen Mauern und die glänzenden Kuppeln einer Kirche, die von einem kleinen Dorfe umgeben ist; Holzhäuser mit zierlich geschnitzten und bemalten Giebeln. Tiefe Thäler, die mit Haselnußsträuchern bewachsen sind, unterbrechen an manchen Stellen die Uferhöhe und gewähren einen Durchblick auf das dahinter liegende fruchtbare Gefilde. Da und dort schaut auch ein einsames Kloster, das auf halber Höhe an den Berg sich anschmiegt, aus dichtem Laubwerk auf den Strom hinab. 16 Zuweilen fährt das Schiff eine Zeitlang mitten im breiten Wasser und das malerische rechte Ufer zieht wie ein prächtiges Panorama mit einem Gesichtskreis von zehn Meilen vorüber. Um eine Sandbank zu vermeiden, wendet das Schiff plötzlich dem Ufer zu und das Schaustück verringert sich nun zum Kleinbild eines hübschen russischen Weilers, was den Eindruck einer Theaterdekoration giebt. Der Ort ist so nahe, daß man die Gesichtszüge der lachenden Bauernmädchen unterscheiden kann, die das vorüberziehende Schiff mit Schwenken der Taschentücher begrüßen; oder man kann vom Bord aus den auf dem Rasen vor der Kirche behaglich ruhenden »Muschik«, der mit rotem Hemd und schwarzen Sammethosen bekleidet ist, anreden, ohne die Stimme besonders anstrengen zu müssen. Doch das währt nicht lange! Ehe man Zeit hat alle Einzelheiten dieser russischen Landschaft in Augenschein zu nehmen, ist sie schon verschwunden. Das Schiff gleitet in eine andere Strombiegung, wo keine Spur menschlichen Daseins sich zeigt, wo rechts das hohe Ufer und links der dichte Wald die ursprüngliche Wildnis zeigen.
Gefesselt von der malerischen Schönheit des majestätischen Stromes mit seinen häufigen Scenenwechsel, verließen wir das Deck erst lange nachdem es dunkel geworden. Die frische Luft war erfüllt mit dem Dufte der blumigen Wiesen und feuchter Waldthäler. Wie ein glänzender Stahl schien der Strom, der sich zwischen seinen Ufern breitete. Tiefes Dunkel, das durch vereinzelte Lichtstrahlen noch merkbarer wurde. Aus der Ferne her klang leise uns ans Ohr das Lieblingslied der russischen Schiffsleute: »Hinab die Mutter, die Wolga.«
Wir tranken an dem Mitteltisch der kleinen, behaglichen Kajüte einige Becher duftenden Thees, packten dann unsere Decken und Kissen aus, mit welchen wir uns vorsorglich versehen hatten und streckten uns dann, nach der Art russischer Reisenden, auf den langen Lederbänken behaglich aus, die auf russischen Dampfschiffen den größten Teil des Fußbodens einnehmen und der Kajüte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Eisenbahnwagen geben.
17 Gegen die fünfte Morgenstunde weckte mich der schrille Ton der Dampfpfeife. Die Maschine wurde gestoppt, die Laufbretter lärmend hingeworfen, dann wurde über meinem Haupte ein Getrampel laut. Ich vermutete, wir wären in Kasan angelangt und begab mich auf das Deck. Die Sonne war schon vor einer Stunde aufgegangen, wie glitzerndes Silber lag der Strom zwischen unserem Schiff und der tiefgrünen Anhöhe des westlichen Ufers. An der Ostseite befanden sich einige Landungsplätze, schwarze Schiffsrümpfe mit gelben Dächern, wie sie entlangs der Wolga überall zu finden sind, und neben ihnen ankerten etliche Dampfschiffe, die zuweilen ihre Dampfpfeifen laut werden ließen und die ihre Flaggen in der frischen Morgenluft wehen ließen. Hinter ihnen lagen einige Holzhäuser, grell bemalt, wie die einer amerikanischen Minenansiedlung. Unmittelbar in dem Vordergrund befand sich kein Gebäude mehr, aber von der Ferne her erblickte ich Mauern, Türme, Kuppeln und Minarets, die mich an ein Bild gemahnten, das ich in meinen Kindertagen zu Gesicht bekam: die »Stadt der Eitelkeit« in der illustrierten Ausgabe von Bunyans »Pilgerreise«.
Es war die altberühmte Tartarenstadt Kasan.
Vor Jahrhunderten wurde die Anhöhe, auf der der Kreml von Kasan liegt, von der Wolga bespült, jetzt aber liegt er infolge Veränderung des Flußbettes einige Kilometer vom Strome entfernt. Der karge Ausblick auf die Stadt, der vom Bord aus sich bot, regte die Phantasie an, weckte nur die Neugierde, ohne sie zu befriedigen.
Ich betrachtete, während unser Dampfschiff anhielt, die am Ufer befindlichen früher schon erwähnten Häuser: Ein schokoladenfarbiges Haus mit gelben Fensterladen und grünem Dach, ein lavendelfarbiges mit schimmerndem Blechdach, ein scharlachrotes mit smaragdfarbiger Bedeckung, oranggelb mit olivengrün, dunkelblau, hellblau, rot, grün, gelb u. s. w. Ein recht umfangreicher Bau mit drei Stockwerken wies alle erdenklichen Farben auf.
Welche Wirkung diese Farbenbuntheit auf die Sehnerven 18 der Bewohner hervorbringt, vermag ich nicht zu sagen, aber ich wundere mich nicht mehr, daß das Russische »prekrasni« »schön« und auch »schön rot« bedeutet, ebensowenig, daß der russische Dichter einem schönen Mädchen ein besonderes Kompliment zu sagen glaubt, wenn er sie als »krasnaya devitsa« (rotes Mädchen) bezeichnet. Wenn ich des Landungsplatzes bei Kasan gedenke, wundere ich mich nur, daß die russische Sprache nicht noch mehr Worte des Preises aus der Farbenbezeichnung entnimmt.
Um die siebente Stunde kamen in Wagen und Droschken die Passagiere von Kasan. Um acht Uhr war alles an Bord, das Abfahrtszeichen wurde gegeben, die Taue gelöst und wir waren bald wieder auf der Fahrt.
Es war Sonntagsmorgen. Wir hatten klares, warmes Wetter und verbrachten daher die meiste Zeit auf dem Verdeck, freuten uns des Sonnenscheins und der Frische, welche die sanfte Bewegung verursachte, des Duftes, der uns von den waldigen Hügeln des linken Ufers zuströmte. Wir machten Aufzeichnungen oder skizzierten die eigentümlich geformten Boote und Barken, die uns von Zeit zu Zeit zu Gesicht kamen und die allein schon uns zu erkennen gaben, daß die Wolga ein russischer Strom sei, selbst wenn wir die Ufer nicht erblickt hätten.
Zuerst erschien ein riesiger Schlepper, der einige große schwarze Barken hinter sich her stromaufwärts führte; sie glichen abgetakelten Seeschiffen. Dann folgte eine wunderliche Bugsierbarke mit hohem Bug und Steuer. In der Mitte des Schiffes war eine Ankerwinde, die langsam stromaufwärts bewegt wurde, indem Taue aufgewunden wurden, an welchen Wurfanker befestigt waren und die einige der Mannschaft nach dem Schiffsschnabel hinschleppten und auswarfen. Endlich passierte ein Riesenfloß von 500 Fuß Länge und 100 Fuß Breite; es befand sich darauf ein kleines russisches Dorf: Holzhäuser mit fein geschnitzten Giebeln. Sie waren zum Verkauf bestimmt in den holzarmen Gegenden der unteren Wolga und des Kaspischen Meeres. Die Bevölkerung dieses schwimmenden Dorfes 19 saß nun, barhaupt, in roten Hemden und blauen Gewändern um das lodernde Feuer, das sie am Ende des Flosses bereitet hatten und trank Thee. Mich dünkte, ich sähe ein Bauerndorf, das vom Hochwasser losgerissen nun mit all seiner Bevölkerung den Strom hinabschwimme. Vom rechten Ufer her klang das ferne Läuten der Kirchenglocken an unser Ohr; von Zeit zu Zeit fuhren sechsruderige »Lodkas« an uns vorüber, mit Männern und Weibern im bunten Sonntagskleid, die zum Gottesdienst eilten.
Um die elfte Stunde verließen wir die breite, majestätisch dahinziehende Wolga und lenkten ein in die trübe, reißendere Kama, die im Ural, an der sibirischen Grenze, entspringt, südöstlich ihren Lauf nimmt und etwa 80 Kilometer unterhalb Kasans in der Wolga mündet. Nicht nur Ort und Leute, Schiffe und Landungsplätze hatten hier ein ganz anderes Aussehen, sondern auch die Landschaft selbst; sie schien fremdartiger, ursprünglicher, ja gewissermaßen viel wilder. Das Ufergebiet war minder bevölkert und viel waldiger als jenes der Wolga; man erblickte nicht mehr die weißen Klostermauern, die zwischen Nischnii-Nowgorod und Kasan so manche Landschaft malerisch und auch menschlich zierten; die Boote hatten sehr primitive Formen trotz ihrer hölzernen Geländer und spiralförmig rot und blau bemalten Masten mit güldenen Sonnen an den Spitzen. Die Bauern, die an der Landungsstelle sich bewegten, trugen Kleider, deren eigenartiger Zuschnitt und deren grelle Farben genugsam bekundeten, daß die Kultur des Westens hier erst geringen Einfluß ausübte. Die Leute waren in ihrer Sonntagstracht, und das mochte diese außergewöhnliche Farbenpracht erklären, obzwar wir sonst nirgends in Rußland junge Männer in blauen, purpurnen, violetten Hemden, Mädchen in citronengelben Kleidern, scharlachroten Schürzen, rosenfarbigen Jacken und Lilakopftüchern erblicken mochten.
Unsere viertägige Fahrt auf der Kama bot just nichts besonderes, aber sie war doch recht angenehm. Das Wetter war schön, die Landschaft anziehend, zuweilen sogar wildromantisch. 20 Die Bäume, welche das steile Ufer säumten, prangten in voller Lenzespracht; an manchen Stellen hing das Astwerk so nahe über dem Wasser, daß es beinahe unser Verdeck berührte. Die Wiesen und Waldlichtungen denen unser Schiff recht nahe kam, waren von Vergißmeinnicht und Trollius wie besäet. Wo unser Schiff nur anhielt, boten Bauernkinder große Sträuße Maiblumen feil; unser kleiner Speisesaal war immer von dem süßen Duft dieser Frühlingsboten durchwürzt. Nichts ließ uns die Nähe Sibiriens ahnen. Das warme, heitere Wetter gemahnte uns an das Klima Kaliforniens; wir vernahmen sogar nach Sonnenuntergang den Schlag der Nachtigall. Dann ließen sich auch bei windstillem Wetter manche unserer Reisegenossen die Samowars herausbringen und saßen, Thee trinkend und Cigaretten rauchend in der würzigen Nachtluft, bis der letzte Schimmer des eigenartigen nordischen Dämmerscheins über den Hügeln verblich. Unsere Fahrt auf der Kama war recht angenehm gewesen, so daß wir Mittwoch, am 10. Juni in Perm nur ungern von dem kleinen Dampfschiff »Alexander« schieden.
Perm ist die Hauptstadt der Provinz gleichen Namens, hat 32 000 Einwohner und liegt an dem linken Ufer der Kama, ungefähr 190 Kilometer von der Grenze des asiatischen Rußlands entfernt. Sie ist die westliche Endstation der Uralbahn und die Durchgangsstelle des ganzen, nicht unbedeutenden sibirischen Handels. Sie unterscheidet sich äußerlich nicht wesentlich von anderen russischen Provinzialstädten gleichen Ranges, und obgleich es reinlicher und behäbiger als Nischnii-Nowgorod ist, bietet sie doch in Bezug auf Bauart und Lage weniger Reize als diese Stadt.
Wir übernachteten nur in Perm, hatten aber schon hier unseren ersten Konflikt mit der russischen Polizei. Wenn auch der Zwischenfall ganz bedeutungslos ist, will ich ihn doch erzählen, denn er bekundet, wessen ein Reisender in Sibirien ausgesetzt und wie groß dort die Macht der Polizei ist, wie sie jeden verhaften kann und einem Verhör unterziehen. Nach 21 unserer Ankunft wollten wir uns nach einer östlich liegenden Anhöhe begeben, um von dort aus eine Skizze der Stadt aufzunehmen. Der Weg führte uns zufällig an dem Gefängnis vorüber und da es das erste russische war, welches wir zu Gesicht bekamen, und da es überdies auch auf der Route nach Sibirien sich befand, betrachteten wir es mit vielem Interesse. Wir schritten weiter, erkannten jedoch bald, daß jener Hügel entfernter sei, als wir erst annahmen und da die Zeit bereits stark vorgeschritten war, beschlossen wir, die Sache auf den nächsten Tag zu verschieben. Wir machten also Kehrt und kamen zum zweitenmal an dem Gefängnis vorüber.
Am nächsten Morgen führten wir unsere Absicht aus. Mein Genosse, Herr Frost, skizzierte die Stadt und dann kehrten wir zurück. Als wir über eine große Wiese schritten, kamen uns zwei Droschken entgegen, in welchem vier Offiziere in voller Uniform und mit allen Waffen ausgerüstet saßen. Ich bemerkte wohl, daß die beiden in der ersten Droschke uns eine besondere Aufmerksamkeit widmeten, da mir aber damals die russische Uniformierung noch nicht recht bekannt war, wußte ich nicht, daß es Polizisten waren. Der erste Wagen fuhr an uns vorüber, der zweite hielt vor uns, die beiden Offiziere stiegen aus und kamen dann von verschiedenen Seiten auf uns zu. Zurückblickend bemerkte ich, daß die Ersteren gleichfalls ihren Wagen verlassen hatten und ebenso uns sich näherten. Jetzt erst durchzuckte mich der Gedanke, diese Vier müssen Polizeibeamte sein, denen wir aus irgend welchen Gründen verdächtig sind und die uns nun verhaften wollen. Sie umzingelten uns, einer von ihnen richtete recht höflich die Frage an uns, wer wir seien.
»Wir sind amerikanische Reisende.«
»Wann sind Sie hier angelangt?«
»Gestern!«
»Woher kommen Sie?«
»Aus Nischnii-Nowgorod.«
»Wohin reisen Sie?«
22 »Nach Sibirien.«
»Hm, Sibirien! Darf ich fragen, zu welchem Zwecke?«
»Wir reisen, um zu reisen.«
»Man macht keine Vergnügungsfahrten nach Sibirien,« bemerkte er nun mit einem leisen Anflug von Spott. »Ihre Reise muß daher einen bestimmten Zweck haben. Welches ist dieser Zweck?«
»Wir Amerikaner reisen überall hin und unser Zweck ist höchstens Land und Leute kennen zu lernen.«
Meine Antwort schien ihn nicht zu befriedigen. Er setzte nun das Verhör fort, um aus der Menge der beantworteten Fragen vielleicht doch etwas zu erforschen, was seinen Verdacht bestärken konnte. Dann fragte er weiter:
»Sie passierten gestern das Gefängnis?«
»Ja.«
»Warum?«
Ich erklärte ihm den Grund.
»Sie betrachteten es recht aufmerksam.«
Zustimmung.
»Warum geschah dies?«
Ich erklärte ihm nochmals den Grund.
»Sie haben aber den Hügel nicht bestiegen, sondern gingen nur an dem Gefängnis vorüber, kehrten dann um und betrachteten es wieder recht auffällig. Warum?«
Ich konnte mich nicht enthalten, ihm ins Gesicht zu lachen. Den Polizeioffizieren schien jedoch die Sache keineswegs so komisch. Ich wiederholte daher meine Erklärungen. Sie mochten aber ganz und gar nicht befriedigen; mit trockenen Worten forderte man unsere Pässe.
Ich bemerkte, unsere Papiere wären im Hotel, worauf sie uns für verhaftet erklärten, bis wir unsere Identität nachgewiesen haben und auch unseren Aufenthalt in Perm genügend zu begründen vermögen.
Mein Genosse mußte nun in Begleitung des Offiziers, der uns ausfragte, den einen Wagen besteigen, ich unter 23 Bewachung eines graubärtigen Herrn – ich vermutete in ihm den Polizeipräsidenten – den andern Wagen und nun fuhren wir ins Hotel. Sie hielten uns wahrscheinlich für politische Verschwörer, die einen Genossen aus dem Gefängnis befreien wollten. Während die Polizeibeamten unsere Papiere prüften, bot ich ihnen Thee und Cigaretten an. Unser Inquirent von vorhin sah mich da mit recht argwöhnischen Blicken an, als hätte er da vor sich eine neue, noch nicht bestimmte Art Bestien, von denen man das Ärgste zu erwarten habe. Unsere Pässe schienen ihnen nicht ganz in Ordnung zu sein; als ich jedoch das Empfehlungsschreiben des Ministers vorwies, kam der ganze Spaß zum Ende. Der junge Offizier errötete beim Durchlesen dieser Zeilen; im Flüstertone sprach er mit dem alten Herrn, dann trat er auf mich zu und entschuldigte sich etwas verlegen ob des unliebsamen Mißverständnisses. Wir erfuhren nun, daß man uns für zwei gefährliche deutsche Verbrecher hielt, welchen man hier auf der Spur zu sein glaubte. Als Zeichen der Versöhnung baten sie nun darum, uns die Hand reichen zu dürfen und empfahlen sich mit vielen Komplimenten.
Dieser Vorfall interessierte mich wohl als charakteristisches Zeichen russischer Polizeikunst, aber er beunruhigte mich auch für die Zukunft. Wenn wir schon diesseits der sibirischen Grenze wegen Anblick eines Gefängnisses von außen verhaftet werden, wie mag es uns ergehen, wenn wir unsere Forschungen ernstlich aufnehmen!
Donnerstag den 11. Juni 9½ Uhr abends fuhren wir mit der Bahn von Perm nach Jekatarinenburg. Von den Anstrengungen der letzten Tage ermüdet, schliefen wir gleich ein und ich erwachte erst um die achte Morgenstunde, just als der Zug an der Station Biser hielt.
Auf dem wolkenlosen Firmament stieg die Sonne in voller Pracht empor; die Luft war erfüllt mit dem angenehmen Duft der Blumen und Bergfichten; aus dem nahen Birkenwäldchen ließ der Kuckuck seinen Ruf erschallen.
24 Mein Genosse konnte sich nicht enthalten, längs des Schienenstranges zu botanisieren, und er pflückte da Alpenrosen, Gänseblümchen, Stiefmütterchen und andere mir ganz unbekannte Blumen.
Wir bestiegen wieder den Eisenbahnwagen und fuhren in Windungen durch bewaldete Hügel, stundenlang durch dichtes Gehölz ohne eine Spur menschlichen Lebens zu erblicken. Dann wieder kamen wir an Lagerstätten vorüber, wo zahlreiche Männer und Frauen Goldsand wuschen, zuweilen auch an prächtigen Waldlichtungen, von deren saftigen Rasen Silberbirken emporragten. Überall gab es Blumen in Fülle, die Natur zeigte sich in ihrer schönsten Sommerpracht.
Wir waren erstaunt in dieser weltentlegenen Gebirgsgegend, am äußersten Ende des europäischen Rußlands, eine so trefflich eingerichtete, luxuriös ausgestattete Bahn zu finden. Die Stationshäuser waren die besten die wir in Rußland sahen. Der Bahndamm war recht solid erbaut, die Wagen konnten mit denen jeder anderen Linie den Vergleich aushalten, kurz, alles was zur Eisenbahn gehörte, war in bester Ordnung. Auch die Umgebung der Stationen zeigte eine sorgsame Pflege, selbst die Meilensteine zeigten die Entfernung in zierlicher, musivischer Schrift an, die in den drei bis vier Fuß im Durchmesser habenden Blöcken eingesetzt war.
In Nischnii Tagil, das an der asiatischen Seite des Urals liegt, hielt der Zug eine halbe Stunde, die wir mit dem Mittagessen ausfüllten. Diese Eisenbahnstation hätte jeder Linie ersten Ranges alle Ehre gemacht. Das massive, steinerne Stationsgebäude war geschmackvoll bemalt und mit Blech eingedeckt. An seiner etwa 35 Meter langen Front zog sich ein 7 Meter breiter Perron hin; ein großer, schön angelegter Park mit Springbrunnen schloß sich an. Der Speisesaal hatte Eichenparketten, die Wände bis zur halben Höhe getäfelt und den andern Teil mit eichenfarbigen Tapeten belegt, die Decke war mit Stuck verziert. In des Saales Mitte befand sich die lange Tafel, gedeckt mit schneeweißem Linnen, mit hübschem Porzellan, 25 Tafelaufsatz, Krystallleuchter, fein geschliffenen Gläsern und Flaschen, Blumen und Topfpflanzen und endlich auch einem Aquarium. Die Stühle waren hübsch geschnitzt, eine kostbare Uhr an dem einen Ende des Saales wies die Stunde, während der große, bronzierte Ofen am andern Ende die Bestimmung hatte, bei kaltem Wetter den Raum behaglich zu wärmen. Die Kellner waren in voller Toilette; die Köche im sauberen, weißen Linnen gekleidet, auf den Köpfen viereckige, weiße Mützen. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dies wäre der geschmackvollste, öffentliche Speisesaal gewesen, den ich irgendwo in der Welt je betreten hatte. Als ich die aus vier Gängen bestehende Mahlzeit einnahm, der alles Lob gebührte, konnte ich es nicht recht fassen, daß ich mich in dem fast unbekannten Bergwerksbezirk Nischnii-Tagil, an der asiatischen Seite des Urals befinde. Das war aber auch für längere Zeit hinaus der letzte Genuß luxuriöser Behaglichkeit, denn während unserer weiteren beschwerlichen Fahrt bekamen wir überhaupt keine Eisenbahn zu Gesicht.
Am 22. Juni, Freitag abends, kamen wir in Jekatarinenburg an, eine Stadt, die am östlichen Abhang des Urals liegt, ungefähr 230 Kilometer von der sibirischen Grenze entfernt. Die Eisenbahn von hier nach Tjumen war damals noch nicht vollendet, wir waren daher genötigt von hier aus im Wagen zu fahren, neun Monate lang und eine Strecke von ungefähr 13 000 Kilometer.
Es bestand damals zwischen den erwähnten zwei Städten ein Expreßdienst, der die Reisenden in der verhältnismäßig kurzen Zeit von 48 Stunden von der einen nach der andern beförderte. Der Betrieb lag in den Händen einer Gesellschaft, die durchgehende Billets ausgab, die Reisenden mit einem Wagen versah, dessen Pferde zu je 18 Meilen gewechselt wurden. Der im Sommer für die Reisenden bestimmte Wagen »Tarantas« genannt, war groß, schwer, vierrädrig, ein bootförmiger Kasten ohne Sitze; er hatte ein Lederdach und einen Vorhang, der Schutz gegen ungünstiges Wetter gewährte. Der 26 Kasten ruhte auf einigen Stangen, welche Vorder- und Hinteraxe verbanden und eine Art Federung bildete, welche die Kraft der Stöße auf holperigem Wege abschwächen sollte. Der Reisende legt sein Gepäck gewöhnlich in die Tiefe des Wagens, bedeckt es wie er just kann und nimmt darauf seinen Sitz ein, die Rückenlehne mit Kissen versehend. Der Kutscher sitzt an der Ecke des Wagens vor dem Passagier und lenkt mit vier Zügeln das nebeneinandergeschirrte Dreigespann. In dieser Weise wird auf guter Straße ungefähr 13 Kilometer in der Stunde zurückgelegt.
Am 16. Juni abends, nachdem wir uns die Fahrscheine gelöst, einen Tarantas ausgewählt und unser Gepäck so gut es möglich war, untergebracht hatten, erklommen wir den Wagen, setzten uns auf Mister Frosts großen Koffer und gaben das Zeichen zur Abfahrt. Unser graubärtiger Kutscher ergriff die aus alten Stricken bestehenden Zügel, dann rief er den Pferden zu: »Auf denn, Kinderchen!« und unter dem gemessenen nicht sehr harmonisch klingenden Geläut zweier großen, am Bogen über dem Deichselpferd angebrachten Schellen, fuhren wir durch die breiten, ungepflasterten Straßen Jekatarinenburgs. Wir fuhren über einen großen Platz der vor der Kaserne lag, an zwei mit Doppeladlern versehenen Pfeilern vorbei und gelangten bald in ein düsteres Nadelgehölz. Wir fuhren jetzt auf der großen sibirischen Straße, die sich in einer Länge von 4800 Kilometer vom Uralgebirge bis zu den Quellen des Amurs erstreckt. Wären wir der Ansicht gewesen, Sibirien sei ein unfruchtbares Gebiet, wir wären eines Besseren belehrt worden, durch den Anblick der vielen Lastwagenkarawanen, die uns entgegenkamen auf ihrer Fahrt von der Grenze nach Jekatarinenburg. Diese Wagen, »Obozes« sind charakteristische Kennzeichen der Gegend zwischen Uralgebirge und Tjumen: kleine, vierräderige Einspänner, plump und kunstlos zusammengestellt, hochbeladen mit sibirischen Produkten, die mit Matten bedeckt sind, welche von Holzklammern festgehalten werden. Jedes Pferd ist durch einen langen Strick an den 27 vorherfahrenden Wagen befestigt, so daß der Zug von 50–100 Obozes eine zusammenhängende Karawane bildet. In kaum zwei Stunden zogen 538 dieser Fahrzeuge an uns vorüber und im Verlauf unserer ersten Tagesreise zählte ich 1445. Braucht es da noch des Beweises, daß Sibirien nicht aus unfruchtbaren Steppen besteht! Aus Wüsteneien lassen sich nicht täglich 1500 Tonnen Gewicht Handelsgüter versenden.
Als es um Mitternacht allmählich dunkel geworden, machten diese Karawanen Halt, um zu nächtigen; häufig sahen wir sie im Weiterfahren am Waldessaum lagern, die Fuhrleute neben ihren Wagen um ein loderndes Feuer versammelt, während die ausgespannten, an den Füßen gekoppelten Pferde grasten oder ein wenig ungeschickt herumtummelten. Das düstere Nadelgehölz auf dessen Gipfeln noch der matte Schimmer nordischer Dämmerung ruhte, während die Loderflammen sie von unten beleuchteten, die roten und schwarzen Umrisse der Fuhrwerke, die um das Feuer gelagerten theetrinkenden Männer in ihren scharlachroten und blauen Hemden – all das bot ein ebenso eigenartiges wie fesselndes echt russisches Bild.
Wir fuhren die ganze Nacht durch, auf ziemlich befriedigender Straße und machten nur Halt wo ein Pferdewechsel nötig war. Die Sonne, die erst um halb 10 Uhr untergegangen, ging schon um halb 3 Uhr auf, so daß sich die Dunkelheit nicht besonders bemerkbar machte. Die Dörfer, die wir passierten, waren oft sehr groß, bestanden aber gewöhnlich nur aus zwei Häuserreihen, deren Giebel nach der Straße gekehrt waren. Die Häuser waren von eingehegten Höfen umgeben, aber nirgends war da ein Baum oder ein Grashalm zu sehen. Eines dieser Dörfer zog sich mit seinen zwei Häuserreihen ungefähr acht Kilometer lang dahin. Jedes Dorf war mit einem 80–200 Hektar großen eingehegten Weideplatz umgeben, an dessen beiden Enden je ein Thor und die Hütte des Wächters sich befand. Dieses Amt versieht gewöhnlich ein alter Mann, irgend eine herabgekommene Existenz; in Sibirien ist es gewöhnlich ein verbannter Verbrecher. Seine Pflicht ist das 28 Vieh zu bewachen und den durchfahrenden Wagen das Thor, das die Straße versperrt, zu öffnen. Für diesen Dienst erhalten sie von der Dorfgemeinde einen Monatslohn von drei oder vier Rubel; sie wohnen in jämmerlichen, aus Lehm und Astwerk errichteten Hütten, in welchen das ganze Jahr das Feuer brennt und die immer auch mit Rauch erfüllt sind.
An dem Tage, an welchem wir von Jekatarinenburg fortfuhren, erblickten wir zum erstenmal ein Etappenhaus für Verbannte und begegneten auch einem dieser Züge auf seinem Wege nach Sibirien. Seitdem zwischen Nischnii-Nowgorod und Perm der Dampfer regelmäßig verkehrt und die Uralbahn vollendet ist, werden die Verbannten von allen Gegenden westlich des Urals, aus den Etappengefängnissen von Moskau, Nischnii-Nowgorod und Kasan, mittelst Eisenbahn oder Schiff bis Jekatarinenburg befördert. Ist aber einmal der Ural überschritten, so werden die Verbannten in Gruppen geteilt, die nun zu Fuß nach ihrem Bestimmungsorten in Westsibirien marschieren; nur für Angehörige der »besseren Gesellschaft« wird eine Ausnahme gemacht. Kranke und Sieche werden in »Telagas«, das sind recht primitive Wägelchen, weiter gebracht.
Am zweiten Tag nach unserer Abfahrt von Jekatarinenburg, als wir zwischen den Dörfern Markawa und Tugulinskaja durch einen gelichteten Wald fuhren, hielt unser Kutscher plötzlich an und sprach: »Hier ist die Grenze!«
Wir stiegen aus dem Tarantas und sahen nun an der Straße einen aus Ziegelsteinen aufgeführten, etwa vier Meter hohen Pfeiler, der auf der einen Seite das Wappen der europäischen Provinz Perm, auf der anderen das der asiatischen Provinz Tobolsk zeigte. Sibiriens Grenzstein!
An keinem Punkt zwischen St. Petersburg und dem stillen Ocean mögen sich so viel schmerzliche Erinnerungen knüpfen, wie an dieser Stelle. An diesen vom Weh geheiligten Grenzzeichen haben schon viele, sehr viele Männer und Frauen, Kinder und Greise, Fürsten und Bauern, den Verwandten und Freunden, der Heimat, ein Lebewohl für immer zugerufen. 29 Kein anderer Grenzstein der Welt sah auch soviel menschliches Elend, soviel gebrochene Herzen an sich vorüberziehen. Seit dem Jahre 1878 zogen hier 170 000 Verbannte vorüber, seit unseres Jahrhunderts Beginn mehr als eine halbe Million. Dieses Grenzzeichen bildet ungefähr die Mitte zwischen der letzten europäischen und der ersten sibirischen Station. Es ist daher üblich, den Verbannten hier eine kurze Rast zu gönnen, den die Gemüter noch mehr als die Körper nötig haben. Der russische Bauer, und wäre er auch ein Verbrecher, liebt sein Vaterland innig. Die herzzerreißendsten Scenen boten sich hier schon dar: manche überlassen sich ganz ihrem Weh, manche wieder versuchen die Schluchzenden zu trösten, andere knieen nieder und pressen das Antlitz auf den Boden der geliebten Heimat, oder küssen die nach Europa gekehrte Seite des starren Steines, als wäre es das Sinnbild alles dessen, was sie nun verlassen müssen.
»Bildet Reihen!« lautet nun der Befehl des Unteroffiziers, der den Zug leitet. Die Verbannten erheben sich, um den Befehl zu vollziehen. – »Vorwärts marsch!« – Eilig bekreuzen sie sich noch und dann geht es kettenklirrend, langsam über die Grenze Sibiriens.
Bis vor kurzem war das Grenzzeichen mit kurzen Inschriften, Abschiedsworten oder Namenszeichen bedeckt, sie waren in dem harten Cementbewurf eingeritzt oder draufgeschrieben. Zur Zeit unserer Anwesenheit war dieser jedoch fast gänzlich abgefallen; nur wenige Worte oder Buchstaben waren übrig geblieben. An einer Stelle fand ich: »Leb wohl, Marie!« – Wie teuer mußte dieser Name jenem Verbannten gewesen sein, wenn er als letzter Gruß von seiner Seele kam. Ihm mochte dieses »Marie« eine ganze Welt bedeuten, und er mußte nun, die Grenze überschreitend, von ihr scheiden, vielleicht für immer.
Wir pflückten am Fuße des Grenzzeichens einige Blumen, stiegen zu Wagen, riefen Europa »Lebewohl!« zu, wie es so viele vor uns zuriefen und fuhren weiter – nach Sibirien. 30