George Kennan
Sibirien
George Kennan

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1. Eine Winterreise durch Sibirien.

Freitag, am 8. Januar 1886 verließen Frost und ich Irkutsk, die Hauptstadt Sibiriens, um eine Reise von ungefähr viertausend Meilen nach St. Petersburg vorzunehmen. Die Route, die wir einzuschlagen beabsichtigten, unterschied sich ein wenig von der, die wir bei unserer Reise nach Sibirien verfolgten; sie führte über zwei wichtige Städte, die wir noch nicht besucht hatten: über Minusinsk und über Tobolsk. Die erstere glaubten wir zu erreichen indem wir einen Umweg von ungefähr vierhundert Meilen von Krasnojarsk nach Süden machten; und die letztere, indem wir eine nördlichere Route zwischen Omsk und Tjumen wählten, als die war, die wir auf unserer Fahrt gegen Osten benutzten. Unsere Ausrüstung für diese lange und schwierige Fahrt bestand aus einer stark gebauten Pawoska, einem Reiseschlitten ohne Sitzbank, mit niedrigen Läufern, breiten Spreizen und einer Art Wagendach, das bei schlechtem Wetter mit einem Ledervorhang geschlossen werden konnte; aus einem sehr schweren Schaffellsack von sechs Fuß Breite und neun Fuß Länge, in dem wir hart aneinander der ganzen Länge nach liegen konnten; aus acht oder zehn Polstern und Kissen verschiedener Größen, um die Zwischenräume des Gepäcks auszufüllen und die Kraft der Stöße auf unebener Straße zu mildern; aus drei Überröcken für jeden, aus weichem langflockigem Schafpelz, in Größe und Gewicht derart abgestuft, daß wir uns jeder Temperatur anpassen konnten, vom Gefrierpunkt bis zu achtzig Grad Fahrenheit; aus langen, schweren Filzstiefeln, deren Art in Sibirien unter dem Namen 6 Wallinki bekannt ist; aus Pelzmützen, Fäustlingen und aus einer geringen Menge Proviants, hauptsächlich aus Thee, Zucker, Brot, kondensierter Milch, gekochten Schinken, Suppentafeln und einigen gebratenen Birkhühnern. Nachdem wir unser schweres Gepäck so sorgsam wie nur möglich auf dem Boden der Pawoska verpackt hatten um eine glatte und gleichmäßige Unterlage herzustellen, stopften wir in die Zwischenräume die Polstern und Kissen, bedeckten die etwas rauhe Oberfläche mit einer Strohschicht von ungefähr zwölf Zoll Höhe, legten unsere unbenutzten Überröcke, Decken und den großen Pelzsack darüber und brachten das Brot, den gekochten Schinken, die gebratenen Birkhühner derart im Stroh unter, daß wir darauf sitzen und sie vor der intensiven Kälte schützen konnten,Eine Temperatur von vierzig Grad unter Null würde einen gekochten Schinken in eine Masse verwandeln, die ebenso ungenießbar wäre wie der bekannte »alte Rotsandklumpen« des Tafelberges. Man könnte ihn weder schneiden noch benagen, noch mit einem Schmiedehammer zerstücken. Und wenn man ihn nicht kann aufthauen lassen, um ihn derart zu genießen, so hat man nicht mehr Nahrung daran, wie an einem Beefsteak, das aus einem Fossil bereitet wird. Da wir diese Thatsache aus mancher übeln Erfahrung lernten, gewöhnten wir uns, Lebensmittel, die Feuchtigkeit enthielten, entweder unter uns oder im Pelzsack zu bergen. und schließlich versahen wir noch die Rückwand des Schlittens mit Polstern. Freitag um zehn Uhr morgens war alles zur Abfahrt bereit, und als der Kutscher mit den Pferden von der Poststation kam, sangen wir »Home, sweet Home« als Vorspiel zum nächsten Akt, wickelten dann den Banjo behutsam zu einer weichen Rolle zusammen, den wir hinter unsere Kissen legten, setzten uns in die Pawoska, die Beine in dem umfangreichen Schafpelzsack bergend, und fuhren vom »Hotel Danko« ab, begleitet von einem Chorus »Leben Sie wohl!« und »Gott gebe Ihnen glückliche Fahrt!« der versammelten Menge von Dienern und Beamten.

In einem früheren Kapitel, »Abenteuer in Ostsibirien«, habe ich bereits unsere Erlebnisse der ersten vier Tage nach 7 unserer Abfahrt von Irkutsk beschrieben, einschließlich unseres Besuches in dem Centralgefängnis Alexandrofski und der beschwerlichen Reise längs der halbgefrorenen Angara, bis zu der kleinen Ansiedlung Kamenka. Nahe diesem Orte überschritten wir den Fluß auf einer Eisstauung, gelangten an das westliche Ufer und verblieben die Nacht in der Poststation Cheromka, an der großen sibirischen Heerstraße. Es ist in Sibirien üblich, wenn man mit der Post fährt, Tag und Nacht, ohne längeren Aufenthalt zu fahren. Ich litt jedoch noch an den Folgen der Anstrengungen der vorhergegangenen Nächte, in denen wir Sturm und Kälte im Gebirge an der Angara preisgegeben waren, und bei jedem Atemzug wurde ich durch einen heftigen, stechenden Schmerz in einem der Lungenflügel daran erinnert, daß es klüger wäre, Obdach zu nehmen und mich warm zu halten, bis ich fähig sein würde, freier zu atmen. Aber es war sehr schwierig, sich in dieser Poststation warm zu halten. Während der ganzen Nacht hielten beinahe jede Stunde Reisende dort an, um die Pferde zu wechseln oder Thee zu trinken; und bei jedem Öffnen der Thüre blies der kalte Wind über den kahlen Fußboden, auf dem wir lagen, sodaß sich die Feuchtigkeit der Atmosphäre zu eisigen Dunstwolken verdichtete, und die Temperatur der Stube von zwanzig auf dreißig Grad in ebensoviel Minuten sinken ließ. Ich war so vorsichtig, unseren großen Pelzsack mit hineinzunehmen, und indem ich mich in dessen Tiefe vergrub, entging ich nicht nur der Erkältung, sondern kam sogar unter Anwendung von Arzneimitteln in einen reichlichen Schweiß. Dies bannte meinen Lungenschmerz und am Morgen fühlte ich mich fähig, die Fahrt fortzusetzen. Wir beide konnten nicht zu Schlaf kommen; indes, für einen erprobten Sibirien-Reisenden bildet die Entbehrung des Schlafes einer oder zweier Nächte nur eine geringe Beschwerde. Ich glaube nicht, daß Frost während der ganzen Woche, die wir auf der Reise zwischen dem Centralgefängnis Alexandrofski und Krasnojarsk verbrachten, auch nur zwei Stunden ununterbrochen zu Schlaf 8 kam. Als wir jedoch diesen Ort erreichten, legte er sich sofort angekleidet nieder und schlief ununterbrochen sechzehn Stunden.

In verschiedenen Dörfern, die wir zwischen Cheromka und Nischnibinsk passierten, waren die Etappengefängnisse zweifellos von Verbannten besetzt. Doch wir bekamen keine dieser Abteilungen zu Gesicht bis Mittwoch, wo wir eine während ihres Marsches plötzlich und unerwartet erblickten.

Der Tag war kalt und stürmisch, heftiger Wind und Schneegestöber, und wir lagen in unserem Pelzsack halbvergraben und fuhren der nächsten Werst-Post zu. Die Luft war so dicht mit Schneeflocken gefüllt, daß wir die Straße kaum noch auf eine Entfernung von achtzig bis hundert Meter überblicken konnten; und die Abteilung Verbannter befand sich dicht vor uns als wir erst merkten, daß es nicht ein Zug »Obozes« (Frachtschlitten) war, wie wir erst vermuteten. Genau erkannten wir die Sache erst, als die Spitze des Zuges uns so nahe war, daß wir die Flinten des Kosakenvortrabs erkennen konnten und das bekannte Kettenklirren der Gefangenen vernehmen mochten. Nun befahl ich unserem Jamschick, daß er nach dem tiefen Schnee am Straßenrande ablenke und dort anhalte. Der allgemeine Anblick den diese Abteilung bot, war sehr verschieden von dem anderer Abteilungen, deren Abgang von Tomsk wir im August beobachtet hatten. Diese Sträflinge trugen damals alle leichte Sommergewänder und ihre Gesichter waren sonnengebräunt; sie waren von einer gelben Staubwolke umhüllt, die sich unter ihren schlürfenden, mit Pantoffeln umhüllten Füßen, auf der staubigen Landstraße erhob. Jedoch die Verschickten, die nun vor uns waren, waren alle mit rötlichen »Pulu-Schuba« (kurzen Schafpelzen) bekleidet und hatten »Brodnia« (hohe Lederstiefel) an den Füßen. Ihre Gesichter waren von dem langen Aufenthalt in dem Gefängnis zu Tomsk bleich geworden, und so schritten sie langsam mühevoll über den frischgefallenen Schnee. Die Marschordre war dieselbe wie im Sommer, nur schien mir, daß zufolge des Sturmes 9 und der Beschaffenheit des Weges die Disciplin ein wenig gelockert waren; es herrschte Unordnung und gab auch viele Nachzügler. Die Kleidung der marschierenden Häftlinge bestand aus der gewöhnlichen grauen Tam-Shantermütze, mit einem darüber gebundenen Taschentuch, einem zerlumpten Pelzkragen oder einem alten Strumpf zum Schutz der Ohren, einer Polu-Schuba mit der rötlichen Gerbseite nach außen, langen weiten Lederstiefeln, die um die Füße der Wärme wegen mit Heu ausgestopft waren, wollenen Hosen, Fußlappen oder kurzen Wollstrümpfen und dicken ledernen Fäustlingen. Die Fußketten wurden meistens unter den Stiefelschäften getragen, und die Verbindungskette war in der Mitte durch einen an dem ledernen Leibgurt befestigten Riemen gezogen. Von diesem Unterstützungspunkt aus hing sie an jeder Seite zwischen dem umgeschlagenen Hosenbein und dem Stiefel bis zum Knöchel hinab. Mit einigen geringen Veränderungen – eine Pelzmütze statt der dünnen Kappe u. s. w. – konnte die Bekleidung, wie mir schien, bei gewöhnlichem Winterwetter, Leute, deren Blut durch die Bewegung in lebhafte Cirkulation versetzt wurde, genügend warm halten; doch sie war keineswegs ausreichend zum Schutz kranker oder siecher Sträflinge, die ununterbrochen acht oder zehn Stunden lang im offenen Fuhrwerk aller Unbill der Witterung ausgesetzt waren. Ich bemerkte eine Anzahl solcher, die in dem engen, unbequemen, einspännigen Schlitten lagen, die des Zuges Nachtrab bildeten. Zusammengedrängt und gekrümmt lagen sie da, als ob sie sich durch gegenseitige Berührung erwärmen wollten. Sie alle schienen halb erfroren.

Als der ungeordnete Zug an uns vorüberkam, verließ da und dort ein Sträfling die Reihen, wahrscheinlich mit Erlaubnis der Wache, trat auf uns zu und bat uns barhaupt, mit vorgehaltener Mütze in dem eigenartigen halbjammernden Sang der »Miloscheredmaja«Bittgesang der Verbannten, s. Sibirien I. Teil, Seite 209. um »Christi Willen Erbarmen mit den Eingesperrten.« Ich wußte, daß das ihnen gegebene Geld 10 wahrscheinlich verspielt werde oder an den »Maidanschtschick« als Bezahlung für Wotka gelangen werde. (Der »Maidanschtschick« nimmt bei einer Abteilung Sträflinge ungefähr dieselbe Stellung ein wie der Marketender bei den Soldaten. Er ist zwar Gefangener, doch ist es ihm nach althergebrachtem Brauch gestattet ein kleines Lager Luxussachen zu unterhalten, wie Thee, Zucker und Weißbrot, und es an die Gefangenen zu verkaufen. Nebenbei handelt er auch unter Beistand der von ihm bestochenen Soldaten mit Tabak, Spielkarten und Wotka.) Aber die armen Unglücklichen sahen so durchfroren, ermüdet, hungrig und elend aus, als sie durch den hohen Schnee auf den Weg nach den fernen Minen von Transbaikalien an uns vorüberstampften, daß das Gefühl die Raison überwältigt und ich in jede der mir vorgehaltenen grauen Mütze einige Kopeken warf. Die Sträflinge starrten uns neugierig an als sie vorüberzogen; einige grüßten freundlich, etliche lüfteten die Mütze und in fünf Minuten waren sie alle vorüber, und eine lange dunkle, verworren sich bewegende Linie war alles was ich sehen konnte, als ich ihnen durch das weiße Schneegestöber nachblickte.

Nachdem wir die Sträflingsabteilung passiert hatten, wurde unser monotones Leben der Tag und Nacht währenden Reise durch kein einziges bemerkenswertes Ereignis unterbrochen. Hie und da begegneten wir einem reichen Kaufmann oder einem Offizier der Armee, die mit Postpferden in rasender Hast nach Irkutsk fuhren, oder passierten eine lange Reihe roher einspänniger Schlitten, die mit hellüberzogenen Theekisten für die Messe in Nischni-Nowgorod beladen waren, doch wir sahen keine Verbannten mehr. Die Gegend durch die wir kamen war dünn besiedelt und uninteressant. Die elenden Dörfchen, in denen wir anhielten um die Pferde zu wechseln, oder uns mit Thee zu erfrischen, waren wörtlich zu nehmen im Schnee begraben. An der Poststation Kamischatskaja, 530 Werst von Irkutsk, holten wir zwei politische Verbrecher ein, Namens Schamarin und Peterson, die selbst die Zeit ihrer »Verschickung auf administrativem Weg,« nach Ostsibirien vollendet hatten und 11 auf der Rückkehr nach dem europäischen Rußland waren. Einige Wochen früher hatten wir ihre Bekanntschaft in Irkutsk gemacht und verabredet, mit ihnen, wenn es möglich sein würde, nach Krasnojarsk zu fahren. Unsere Route jedoch wich anfangs von ihrer etwas ab und zufolge unseres Aufenthaltes im Centralgefängnis Alexandrofski und verschiedener Unfälle auf dem Angara blieben wir hinter ihnen zurück. Sie begrüßten uns freudigst, teilten ihr Abendbrot mit uns, und nachdem wir ein, zwei Stündchen in lebhafter Konversation verbracht hatten, wobei wir einander unsere verschiedenen Abenteuer und Erlebnisse mitgeteilt hatten, legten wir die schweren Schubas an, erkletterten unsere Pawoska und fuhren mit zwei Troika (Dreigespann) zusammen ab.

Als wir uns Donnerstag, am 14. Januar der Stadt Kamsk näherten, klärte sich der Himmel auf und das Wetter wurde plötzlich kälter. Das Thermometer sank nachts bis auf dreißig Grad unter Null, in der folgenden Nacht sogar bis auf vierzig. Wir setzten unsere Reise ununterbrochen fort, hatten aber sehr von der Kälte zu leiden, besonders in der langen Zeit zwischen Mitternacht und Dämmerung, wo es unmöglich war auf den Poststationen etwas Warmes zu bekommen und unsere Lebenskraft ihren niedrigsten Punkt erreichte. Trotz der Schwere und Wärme unserer Kleidung wurden wir zwischen den einzelnen Stationen vor Kälte so steif, daß wir kaum unsere Pawoska verlassen konnten. Vom Schlaf konnte da natürlich nicht die Rede sein. Selbst wenn es die Temperatur nicht gefährlich gemacht hätte, so würde es der holperige Weg unmöglich gemacht haben. Durch die vereinte Wirkung eines Dutzend arktischer Schneestürme und vier- bis fünftausend schwerer Frachtschlitten war der tiefe Schnee, der auf diesem Straßenteil lag, zu einer Reihe gewaltiger Querriegel zusammengetrieben und befestigt worden, die den Reisenden in Sibirien als Ukhabi bekannt sind. Diese verhärteten Schneemengen waren etwa fünf Fuß hoch und gegen zwanzig Fuß breit. Das Rütteln und Schütteln unserer schweren 12 Pawoska, wenn sie einen dieser Schneehügel erstieg, um gleich darauf wieder hinabzusinken, durchrüttelte uns alle Glieder und zerrte an jeder einzelnen Nervenfaser. Infolge der Kälte, der Schlaflosigkeit, der Stöße wurde ich schließlich so erschöpft, daß ich mich auf jeder Poststation, besonders in der Nacht, auf den Fußboden ohne Decke und Kissen hätte hinwerfen mögen, um nur die wenigen Minuten, während die Pferde umgespannt wurden, zu schlafen. Auf der einsamen Poststation Kuskunskaja legte ich mich eines Nachts gegen elf Uhr derart auf eine schmale Holzbank in der Gaststube, schlief ein und träumte, ich wäre just aufgefordert worden, in der Sonntagsschule eine Rede aus dem Stegreif zu halten. Die Schule wurde in der Kirche einer religiösen Sekte abgehalten, die sich die »Heiligen Monopolisten« nannten. Ich fragte dann, wer diese heiligen Monopolisten wären und erhielt die Auskunft, das sei eine neue Sekte, die nur an eine einzige Sache glaube. Gerne hätte ich da weiter gefragt, woraus diese einzige Sache bestehe, doch ich schämte mich dessen, denn mir schien, ich müsse das auch ohne zu fragen wissen. Ich trat nun in die Stube, wo die Sonntagsschule abgehalten wurde. Es waren da mehrere Reihen amphitheatralischer Sitzplätze vorhanden und eine niedere Plattform in der Mitte. Auf dieser sah ich ferner, in der Eigenschaft eines Superintendenten, einen bekannten Bürger aus Norwalk, Ohio, den ich seit meiner Kindheit nicht zu Gesicht bekommen hatte. Alle Schüler der Sonntagsschule standen zu meinem großen Erstaunen mit dem Rücken gegen die Plattform. Als ich eintrat, rief der Superintendent aus. »Sie werden nun die Güte haben, Platz zu nehmen!« worauf die Knaben und Mädchen sich wieder umwandten und sich niedersetzten. Der Superintendent bestimmte nun die Hymne, die gesungen werden sollte, und während dies geschah, machte ich auf der Rückseite eines Briefumschlages einige Notizen, die mir bei der Stegreifrede dienen sollten. Ich beschloß den Schülern eine Rede über die vergleichsweise vorhandenen Vorzüge des Buddhismus und Mohammedanismus zu halten, und ich 13 überlegte mir just, ob ich nicht auch den Fetischdienst in Betracht ziehen sollte, als die Hymne beendigt wurde. Der Superintendent sprach nun: »Wir wollen nun die Tageslektion vornehmen«. Recht so, dachte ich mir, damit werde ich Zeit gewinnen, mir meine Rede zu überlegen.

Als das Hersagen begann, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß alle Schüler große runde Soda-Biskuits in der Hand hielten, worauf sie zuweilen blickten, just als ob es Schulbücher wären. Ich hatte indes keine Zeit, dieser sonderbaren Erscheinung nachzuforschen, weil es dringend nötig war, daß ich nun meine flüchtigen Notizen in Zusammenhang brächte, noch bevor mich der Superintendent zum Sprechen aufforderte. Ich beachtete daher nicht die Fragen, die er an die Schüler richtete, bis er an eine kam, die dem Anscheine nach keiner beantworten konnte. Sie lautete: »Wer war der erste Kartenspieler, der nach seinem Tode von der Nation betrauert von Alaska zurückgebracht wurde.« Er wiederholte diese Frage feierlichst einigemal, bis sie endlich meine Aufmerksamkeit erregte. Als ich rundum auf die Gesichter der Schüler blickte, sah ich, daß es alle aufgegeben hatten, sich mit der außergewöhnlichen Frage zu beschäftigen; und ich wandte mich mit Interesse dem Superintendenten zu, in der Erwartung, daß er uns erklären werde, wer dieser betrauerte Kartenspieler von Alaska war. Anstatt es zu thun, verneigte er sich gegen mich und sprach: »Der hochverehrte Freund, der heute in unserer Mitte weilt, wird die Güte haben, mitzuteilen, wer der erste Kartenspieler war, der nach seinem Tode von der Nation betrauert von Alaska zurückgebracht wurde.« Ein kalter Schauer überlief mich plötzlich. Ich sah ein, das müsse etwas Allbekanntes sein, das auch Schuljungen wissen mögen, und ich war dabei so unwissend, daß ich nicht einmal von einem Kartenspieler von Alaska etwas wußte. Um zur Sammlung meiner Gedanken ein wenig Zeit zu gewinnen, sprach ich: »Zeigen Sie mir diese Frage.« Der Superintendent händigte mir ein großes heißes Soda Biskuit ein, als 14 wäre es ein Buch. Ich betrachtete es auf beiden Seiten aufmerksam, konnte aber nichts bemerken, das etwas Gedrucktem ähnlich gewesen wäre. Der Superintendent riß es nun in zwei Stücke und zeigte mir im Innern des Biskuits, einen halben Zoll vom Rand entfernt, die Frage in thibetanischen Lettern aufgeprägt. Ich fand in diesen wunderlich aussehenden Lettern keinen Schlüssel zur Antwort, und überwältigt von Scham, weil ich genötigt wäre, in der Sonntagsschule der Heiligen Monopolisten zu gestehen, ich wisse nicht, wer der erste Kartenspieler war, der von der Nation betrauert von Alaska als Leiche zurückgebracht wurde, erwachte ich. Im ersten Augenblick war ich nicht Meister meiner Sinne. Dem Anscheine nach befand ich mich an einem Orte, wo ich früher nie gewesen, und über mich gebeugt standen zwei Gestalten, die ich mich nicht erinnern konnte, zuvor jemals gesehen zu haben. Einer von ihnen, ein großer starker Mann mit schwarzem buschigem Cirkassierhaar und glänzenden blauen Augen, war mit einer langen, gefleckten »Kukhlanka« (schwerer Pelzrock, der bis zur Wade reicht und um den Leib mit einem Gürtel zusammengehalten wird) aus Renntierfell und hohen Pelzstiefeln bekleidet, während der andere, der eine Art Beamter sein mochte, eine blaue Uniform mit einer Doppelreihe Messingknöpfe trug und über meinem Haupte eine Kerosinlampe hielt. »Was ist los, Mister Kennan?« fragte die Gestalt in der Renntierkukhlanka. »Sie stöhnten ja, als wäre Ihnen nicht wohl.«

Als mein Gedächtnis allmählich zurückkehrte, erkannte ich in dem Sprecher meinen Reisegenossen, den Verbannten Peterson, und in dem Beamten den Postmeister.

»Ich hatte einen bösen Traum,« antwortete ich. »Wie lange hab ich geschlafen?«

»Wir sind erst zehn Minuten hier,« bemerkte Peterson, auf seine Uhr blickend. »Und ich glaube nicht, daß Sie länger als fünf Minuten geschlafen haben. Die Pferde stehen bereit.«

Mit steifen schmerzenden Gliedern hinkte ich zur Pawoska 15 hinaus, kroch zu Frost in den Schlafrock und setzte die lange kalte trübe Nachtfahrt fort.

Zwischen Kuskuskaja und Krasnojarsk erlebten wir die niedrigste Temperatur dieses Winters: fünfundvierzig Grad unter Null, und hatten die Gelegenheit wieder die Erscheinungen zu beobachten, die bei äußerster Kälte sich einstellen. Während der ganzen Zeit entstiegen Dampfwolken den Leibern unserer Pferde. Die Karawanen der Frachtwagen waren stets in Nebel gehüllt; und oft nachdem wir eine passiert hatten, konnten wir die Straße eine Viertelmeile lang mit gefrorenen Dunstniederschlägen dichtbedeckt finden. Wenn wir die Thüre eines Stationshauses öffneten so schien vor uns eine große Menge Dampf hineinzudringen. Kleine Dunstwölkchen spielten in den Höhlungen und Ritzen der Fenster und Thüren, und in einer warmen Stube sammelten sich an den inneren Enden der eisernen Bolzen, die durch die Fensterverkleidung nach außen gingen ein weißer beinahe halbzölliger Reif. Die ganzen Tage, Freitag und Samstag, den 15. und 16. Januar hielten wir fast an jeder Poststation, die wir passierten, um Thee zu trinken und doch konnten wir uns nicht erwärmen. Dies kam von der besonders strengen Kälte und teilweise auch daher, daß wir jede fünf bis zehn Meilen genötigt waren aus der Pawoska zu steigen und halfen die Pferde durch den tiefen weichen Schnee des Straßenrandes zu ziehen, wohin wir ausweichen mußten um eine lange Reihe Frachtschlitten vorüberfahren zu lassen. Sonntag am 17. Januar, neun Tage nach unserer Abfahrt von Irkutsk, gelangten wir nach der Provinzialstadt Krasnojarsk, nachdem wir mit dreiundvierzig Relais eine Fahrt von mehr als siebenhundert Kilometer zurückgelegt hatten. Frost und ich kehrten wieder in demselben Hotel ein, wo wir im verwichenen Sommer, während unserer Hinfahrt gewohnt hatten, während Schamarin und Peterson im Hause eines Bekannten Unterkunft fanden.

Während unseres dreitägigen Aufenthalts in Krasnojarsk erneuten wir unsere Bekanntschaft mit Herrn Innokenti Kusnethoff, dem reichen Minenbesitzer, in dessen Haus wir vor 16 fünf Monaten, während unserer Reise gegen Osten, so gastfreundlich aufgenommen wurden und nahmen ein Frühstück bei Herrn Sawenkoff, dem Direktor der Normalschule des Städtchens. Seine Sammlung archäologischer Gegenstände und Kalksteinabdrücke interessierte uns sehr. Einen Nachmittag verbrachten wir bei Oberst Zagarin, dem Inspektor des Verbanntentransports nach Ostsibirien. Mit seiner Erlaubnis besichtigten wir Mittwoch genau das dortige Stadtgefängnis, das Transportgefängnis und das Gefängnishospital; und es freut mich, von alle diesem nur Gutes sagen zu können.

Die Gefängnisse waren natürlich weit davon entfernt als Muster dienen zu können und ich zweifle nicht, daß sie zu gewissen Jahreszeiten mehr oder minder schmutzig und überfüllt sind; aber als wir sie besichtigten, waren sie in einem besseren Zustand als alle andern Gefängnisse die wir in Sibirien zu Gesicht bekommen hatten, das Militärgefängnis in Ust-Kamenogorsk und das Centralgefängnis Alexandrofski bei Irkutsk ausgenommen. Das mit den Gefängnissen in Krasnojarsk in Verbindung stehende Hospital schien mir eines uneingeschränkten Lobs würdig. Es war von größter Sauberkeit, vollkommen gelüftet, mit Bettzeugen, Arzneien und Chirurgischen Hilfsmitteln ersichtlich gut ausgestattet, kurz es befand sich in einem tadellosen Zustand. Natürlich nicht unmöglich, daß im Spätsommer und Frühherbst, wenn die große Jahresflut der Verbannten ihren Höhepunkt erreicht, dieses Krankenhaus ebenso überfüllt und ungesund sei wie das Hospital des Transportgefängnisses zu Tomsk; aber zur Zeit, als wir es sahen wäre auch ich bereit gewesen dort Unterkunft zu nehmen, falls ich es nötig gehabt hätte.

Das Strafgefängnis von Krasnojarsk war ein großes zweistöckiges Gebäude in Ziegelputzbau, im Stile dem Transportgefängnis von Tjumen ähnlich. Seine »Kammern« (gemeinschaftliche Zellen) waren zwar ziemlich klein, doch zeigte sich keine überfüllt, und die Inschriften der Thüren, wie »Mörder,« »Paßlose,« »Politische« zeigte, daß wenigstens der 17 Versuch gemacht wurde die Gefangenen zu klassifizieren und sie in geeigneter Weise zu scheiden. In den meisten Zellen waren Ventilationsräderchen oder -röhren vorhanden; der Steinfußboden der Korridore war sauber, die Klosettbefestigungen und -verschlüsse waren in gutem Zustande, und obgleich die Luft in einigen Zellen schwer und stagnierend war, den eigenartigen Gefängnisgeruch verbreitend, konnte man sie doch ohne besonderes Unbehagen einatmen, ohne jenen Widerwillen und Ekel, den wir in den überfüllten Zellen zu Tjumen, Tomsk, Irkutsk und den Minen gefühlt hatten. Das Transportgefängnis lag neben dem Stadtgefängnis auf einem mit Staketen umhegten Grundstück und bestand aus drei langen einstöckigen Blockbauten, nach Art der von Tomsk gebaut. Es zeigte dem Blicke nichts was neu oder interessant gewesen wäre. Es enthielt kaum die Hälfte der Zahl Gefangener die darin untergebracht werden konnten. Einige Zellen waren leer und die Luft war überall frisch und gut.

Durch einen günstigen Zufall langten wir bei diesem Gefängnis jetzt an, wo der Abmarsch einer Abteilung von 270 männlicher Sträflinge nach der Provinz Irkutsk und nach den Minen und Gefängnissen von Transbaikalien stattfand. Es war ein bitterkalter Morgen. Etwa zwei Drittel der ausgemusterten Abteilung schritten im Gefängnishof auf und nieder und versuchten sich durch Körperbewegung zu erwärmen, während sie auf die ärztliche Untersuchung der andern warteten. Nachdem wir sie eine Weile beobachtet hatten, traten wir in ein großes, neues Blockhaus, das ein wenig abseits vom eigentlichen Gefängnis stand und trafen darin den Gefängnisarzt, einen intelligenten freundlich dreinblickenden Mann, der damit beschäftigt war, die Untersuchung von etwa achtzig Sträflingen vorzunehmen, die sich als marschunfähig gemeldet hatten. Meinem unerfahrenen Blick schienen sie alle hager, bleich und elend genug, um nicht einem Marsch von zwanzig Meilen auf einer derartigen Straße ausgesetzt werden zu dürfen. Aber nach einer kurzen Prüfung mittelst Fragen, Tasten und mit dem 18 Stethoskop wies der Arzt neun Zehntel aller Klagen als erheuchelt oder sonst unbegründet zurück; für den Rest ließ er Schlitten beschaffen. In weniger als einer halben Stunde war alles zum Abmarsch bereit. Die Bedeckungsmannschaft bildete mit geschultertem Gewehr vor dem Thore Spalier, um die Abteilung zu übernehmen. Der Gefängnisschmied erschien mit Hämmern, Nieten und Reserveeisen und prüfte aufmerksam die Fußfesseln der Sträflinge, als diese hinaustraten. Die Schwachen erklommen die einspännigen Schlitten, die ihrer warteten. Ein Unteroffizier zählte nochmals die Gefangenen, um sich zu gewissern ob alle anwesend waren; und auf das Kommando»Marsch!« setzte sich die ganze Abteilung in Bewegung, wobei die Soldaten an der Spitze des Zuges ein so rasches Marschtempo annahmen, daß manche der Gefangenen laufen mußten. In drei Minuten waren sie uns außer Sicht.

Marschabteilungen Verbannter verlassen während des Winters jede Woche Tomsk und Krasnojarsk und ziehen ihrem Bestimmungsorte zu, ohne daß das Wetter oder der Zustand der Straßen in Betracht käme; letzteres wird nur insofern berücksichtigt, als da nötig ist, zu bestimmen, ob die Straßen gangbar oder absolut ungangbar sind. Es wäre sehr leicht unter Anwendung von Wagen und Pferden das ganze Jahreskontingent der Verbannten während der Sommermonate von Tomsk nach Irkutsk zu bringen, sie mit den Leiden zu verschonen, die jetzt ein unvermeidliches Ergebnis von Winterkälte und Winterstürmen sind. Jedoch aus irgend einem unbekannten Grund verweigerte bisher die Regierung hartnäckig diese humane Maßregel. Sie kann dies weder erklären noch verteidigen mit der Höhe der Kosten, denn die Kosten eines Transports von zehntausend Sträflingen von Tomsk nach Irkutsk würde mit Pferden thatsächlich viel billiger zu stehen kommen, als die Kosten des Transports zu Fuß.

Während ich dies schreibe, liegt vor mir der amtliche Bericht des Obersten Winokuroff, Inspektors des Verbanntentransports nach Westsibirien. Hier weist dieser Offizier nach, 19 daß, wenn alle Sträflinge des Jahres im Sommer von Moskau abgeschickt und von Tomsk nach Atschinsk mittelst einspännigen Wagen geschafft würden, anstatt sie zu zwingen zu Fuß zu gehen – daß dann die Kosten der Verschickung nach letzterem Orte beinahe um fünfzigtausend Rubel sich verringern würden.

Die Strecke der sibirischen Heerstraße, die zwischen Tomsk und Atschinsk liegt und eine Ausdehnung von etwa dreihundert Kilometer hat, ist der einzige Teil der Marschroute der Verbannten, über den Oberst Winokuroff den Befehl führt, und deswegen beziehen sich seine Angaben nur auf diese. In dem erwähnten Bericht giebt er einen mit Anmerkungen versehenen Kostenanschlag für den Transport von 9417 Sträflingen zu Fuß von Tomsk nach Atschinsk im Jahre 1884 und bemerkt dabei: »Daraus ergiebt sich, daß die Kosten der Verschickung von 9417 Sträflingen von Tomsk nach Atschinsk – eine Marschdauer von einundzwanzig Tagen angenommen – nicht weniger als 130 342 Rubel betragen. Das ergiebt 13 Rubel 75 Kopeken für jeden marschierenden Häftling, während die Kosten eines Paars Postpferde von Tomsk nach Atschinsk normal nur 11 Rubel 64 Kopeken betragen.« Mit andern Worten: nach Oberst Winokuroffs Angaben wäre es wohlfeiler, für jeden Sträfling Relais von Postpferden zu mieten und ihn nach seinem Bestimmungsort zu senden, als ob er ein Privatreisender oder gar ein Regierungskurier wäre, als ihn in der üblichen Weise »über Etappen« durch Sibirien marschieren zu lassen. Oberst Winokuroff giebt auch eine mit Anmerkungen versehene Aufstellung über die Kosten, die eine Verschickung von 9417 Sträflingen von Tomsk nach Atschinsk mittelst Wagen und Postpferden verursachen und beweist, daß sie 80 817 Rubel nicht überschreiten würden. Durch die Anwendung dieser Verschickungsmethode würden daher jährlich 49 525 Rubel auf einer Strecke von kaum dreihundert Kilometer erspart. Nach derselben Aufstellung würden auf der Strecke zwischen Tomsk und den Minen von Kara jährlich gegen 350 000 Rubel erspart, vorausgesetzt, daß alle Sträflinge den ganzen Weg zurücklegen.

20 Der verstorbene Oberst Zagarin, Inspektor des Verschickungstransports in Ostsibirien, erzählte mir im Laufe eines langen Gespräches, das Krasnojarsk zum Gegenstand hatte, er habe im Jahre 1882 oder 1883 einen ausführlichen Bericht an den Generalgouverneur Anutschin abgefaßt, worin er die Übelstände des jetzigen Systems erörterte, wonach die Verschickten das ganze Jahr hindurch bei wöchentlicher Absendung eines Transportes marschierten. Er empfahl, die Regierung möge die Verschickung der Sträflinge auf die Sommermonate beschränken und dann sie mittelst Wagen und Wechselpferden ihren Bestimmungsorten zuführen lassen, jeden Tag einen Transport. Schließlich bewies er dem Generalgouverneur durch amtliche Ausweise und Veranschlagungen von Unternehmern, daß die Kosten der Beförderung mittelst Wagen der jährlich verschickten Sträflinge von Atschinsk bis Irkutsk, mehr als 800 Kilometer, während der Sommermonate für jeden Kopf vierzehn Rubel weniger betragen würde, als die Kosten für dieselbe Strecke als Fußmarsch. Außerdem, meinte er, würde sich auch eine Zeitersparnis von mindestens sechzig Tagen ergeben, nicht zu reden von der Ersparnis an Menschenleben, die durch Verkürzung des Aufenthalts in den Trausportgefängnissen und Etappenhäusern geschaffen wäre, und auch durch den Umstand, daß man die Zeit des Transports in eine Jahreszeit verlegte, in der gutes Wetter herrscht und die Straßen in besserem Zustande sind. Die Überfüllung des Transportgefängnisses zu Tomsk, die hiermit verbundenen Übel und die verhältnismäßig große Sterblichkeit daselbst, würden durch die tägliche Abfahrt von Verschickten nach Osten plötzlich ganz verschwunden sein. Die periodischen Typhusepidemien, die hauptsächlich der Überfüllung zuzuschreiben sind, würden aufhören. Der verderbliche Einfluß des Etappenlebens auf verschickte Verbrecher, die noch Neulinge sind und auf die unschuldigen Familien der Verschickten würde bedeutend abgeschwächt werden. Schließlich würden die Verschickten auch ihre Bestimmungsorte in einem verhältnismäßig gesunden und kräftigen 21 Zustand erreichen, anstatt daß wie jetzt, infolge der Mühen und Entbehrungen eines Wintermarsches von mehr als tausend Kilometer, die Leute auf der Straße zusammenbrächen.

»Warum aber um Himmels willen ist diese Änderung nicht vorgenommen worden?« fragte ich Oberst Zagarin, als er mit der Erklärung seines Berichtes fertig war. »Wenn es wohlfeiler wäre, wie es auch menschlicher ist, die Verschickten nur zur Sommerszeit und nur mittelst Wagen zu befördern, warum thut es die Regierung nicht? Wer könnte eine Interesse daran haben sich einer Reform zu widersetzen, die ebenso ersparend wie menschenfreundlich ist?«

»Das erfragen Sie in St. Petersburg, wenn Sie dahin kommen, antwortete der Oberst achselzuckend. »Alles, was wir hier thun können, ist nur die Anregung zu geben.«

Der Grund, weshalb Änderungen, die zweifellos erwünscht sind, die Kosten ersparen und sicherlich auch niemanden schädigen würden, in Rußland nicht vorgenommen werden, ist eines der verblüffendsten und ärgerlichsten Dinge, dich sich der Aufmerksamkeit der Reisenden aufdrängen. Auf jedem Gebiet der Verwaltung stößt man fortwährend auf Mißbräuche oder Mängel, die schon vor Jahren erkannt wurden, die sicherlich den Interessen aller zuwider sind, aber trotzdem fortbestehen. Fordert man von einem Beamten in Sibirien eine Erklärung dafür, so verweist er auf St. Petersburg. Fragt man den Chef des Gefängnisdepartements in St. Petersburg, so wird er antworten, er habe ein »Projekt« gemacht, um dieses Übel zu beseitigen, aber dieses »Projekt« hätte noch nicht die Billigung des Minister des Innern erhalten. Geht man zum Minister des Innern, so erfährt man, das »Projekt« verlange einen vorherigen Aufwand an Geld – mag es auch schließlich Ersparnisse bringen – es könne dieses nicht ohne Zustimmung und Mitwirkung des Finanzministers ausgeführt werden. Verfolgt man dieses »Projekt« bis zum Finanzminister, so kann man nun erfahren, es sei mittelst des Ministeriums des Innern an den Chef des Gefängnisdepartements behufs »Modifikation« 22 zurück geschickt worden. Will einer da noch immer die Sache weiter verfolgen und erfahren, warum nichts geschieht, so mag er dem »modifizierten Projekt« durch das Gefängnisdepartement, das Ministerium des Innern, das Ministerium der Finanzen bis zum Staatsrat nachjagen. Hier kann man dann entdecken, daß gewisse besternte und bebänderte Senatoren und Generale, die von Sibirien kaum mehr als den Namen wissen, ihren Zweifel ob des Vorhandenseins des Übels, mit dem das »Projekt« sich beschäftigt, ausgedrückt haben, daher eine Spezialkommission (mit Gehältern bis zu 20,000 Rubel jährlich nebst Meilengelder) eingesetzt worden ist, um die Sache zu prüfen und Bericht zu erstatten. Verfolgt man diese Kommission nach Sibirien und wieder zurück, forscht man in den Akten des Staatsrates nach diesem Bericht, so wird einem versichert, daß dieses Dokument an den Minister des Innern gesandt wurde, um einem neuen »Projekt« zur Basis zu dienen. Und wenn dann ein Jahrzehnt oder noch mehr vergangen sind, so beginnt die Geschichte von neuem wieder. Bei keinem Haltepunkt dieses Kreislaufprozesses kann man seine Hand auf einen bestimmten Beamten legen und ihm zurufen: »Hier! du bist dafür verantwortlich! Was willst du damit sagen?« An keiner Stelle mag sich ein Beamter finden, der der Reform widerstrebte, oder ein persönliches Interesse hätte, sie zu verhindern. Und dennoch ist die allgemeine Wirkung dieses Kreislaufprozesses dem Reformprojekt viel schädlicher, als es irgendeine intelligente und thätige Opposition wäre. Die verschiedenen Bureaus der Provinzialregierung, des Ministeriums des Innern, der Finanzen, der Justiz, des Ministerialrates, des Staatsrates – sie alle bilden einen ungeheuren administrativen Mahlstrom von Unwissenheit und Indifferenz, in dem ein »Projekt« langsam Monat um Monat und Jahr um Jahr sich herumdreht, bis es schließlich untergehend dem Blick entschwindet, oder vielleicht auch, erfaßt von einem Wirbel persönlicher oder amtlicher Interessen, in den großen Golfstrom des Lebens hineingetrieben wird.

23 Diese Naturgeschichte eines russischen »Projekts« ist weder ein Bild der Phantasie, noch eins der Annahme. Ein Plan für den Transport der Verschickten in Wagen zwischen Tomsk und Irkutsk, ist beinahe dreißig Jahre lang im Sargasso-Meer russischer Bureaukratie herumgetrieben worden. Das Verschickungsprojekt hat seit dem Jahre 1871 wenigstens ein halb dutzendmal in den verschiedenen Ämtern die Runde gemacht, hat die Station »Kommission« erreicht und ist dem Staatsrat vorgelegt worden. Auf dem internationalen Gefängniskongreß zu Stockholm im Jahre 1878 erklärte Herr Kokotsoff, Chef-Stellvertreter im russischen Gefängnisdepartement, seine Regierung erkenne die Übel des Verschickungssystems und wäre dabei, sie zu beseitigen. Das geschah vor dreizehn Jahren. Aus den letztangekommenen russischen Zeitungen ersehe ich, daß das »Projekt« für die Reform der Verschickung vom Staatsrat für »ungenügend« befunden wurde und an den Chef des Gefängnisdepartements zur »Modifikation« zurückgesandt wurde. Mit einem Worte: in dreizehn Jahren ist dieses »Projekt« in der Kreisbewegung vier Stationen nach rückwärts angelangt.

Im Sommer, während unserer ersten Anwesenheit in Krasnojarsk, war es uns nicht gelungen, dort einen politischen Verschickten zu sehen, ja nicht einmal von einem zu hören. Aber unter Führung unserer neuen Reisegenossen Schamarin und Peterson entdeckten wir drei: erstens Frau Dubrowa, die Gattin eines sibirischen Missionärs, dessen anthropologische Forschungen über die Buriaten jüngst erst eine gewisse Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt haben; zweitens einen jungen Studenten der Medizin, Namens Urusoff, der mit Erlaubnis des Gouverneurs Pedaschenko als Assistent im Stadthospital thätig war; drittens eine Dame, die in diesem Hospital aufgenommen wurde, um von Verletzungen geheilt zu werden, die ihr von einem betrunkenen Soldaten zugefügt wurden. Die einzige dieser Verbannten, deren persönliche Bekanntschaft wir machten, war Frau Dubrowa, die im Jahre 1880 vor ihrer Verheiratung nach Ostsibirien verschickt wurde, weil sie vereint mit 24 Frau Rossikowa den Versuch gemacht hatte, die Regierungskasse in Cherson zu berauben. Nach der Annahme des sogenannten »Terrorismus« durch den extremsten Teil der russischen Revolutionspartei im Jahre 1878 verteidigten und übten einige Terroristen eine Praxis, die unter anderem auch in der Fälschung kaiserlicher Erlasse bestand, um dadurch die Bauern zur Revolution zu reizen, ferner in der Beraubung der Regierungsposten und -kassen, um Geld zur Linderung der Leiden politischer Verschickter und auch zu deren Flucht zu verschaffen. Diese Maßregeln wurden von allen russischen Liberalen und auch von den meisten der besonnenen Revolutionäre mißbilligt und verurteilt. Sie wurden aber verteidigt von jenen, die sie gerechtfertigt fanden wider die furchtbare Gewalt, die ihnen (den Terroristen) gegenüberstand, wider die ungerechte, verräterische und grausam wilde Behandlung, die den politischen Gefangenen zu teil wurde. Unter den Terroristen dieser Art befand sich auch Frau Dubrowa, oder, wie sie vor ihrer Ehe hieß, Fräulein Anna Alexeiowa. Im Vereine mit Frau Rossikowa, einer Schullehrerin aus Elisabethgrad, und unter Beistand eines aus Sibirien entsprungenen Verbrechers, machte Fräulein Alexeiowa den Versuch, die Regierungskasse in Cherson zu berauben, indem sie heimlich in der Nacht einen Gang unter den Ziegelboden des Gewölbes grub, in welchem die Staatsgelder sich befanden. Von welcher Seite man die Sache auch betrachten mag, für eine junge Dame, unerfahren im verbrecherischen Treiben, war es jedenfalls ein höchst tollkühnes Unternehmen, und daß es ausgeführt werden konnte, beweist nur, welche Geschicklichkeit, Energie, Geduld und außergewöhnliche Waghalsigkeit damals in gewissen Kreisen der russischen Gesellschaft infolge der Bedingungen des revolutionären Lebens sich entfaltete. Junge, feine und wohlerzogene Frauen aus allen Teilen des Reiches traten auf Gebieten in Thätigkeit, entwarfen und führten Pläne aus, vor denen im Hinblick auf die unvermeidlichen Folgen selbst die beherztesten Männer zurückgeschreckt sein würden. Der Gang unter dem Bau der 25 Regierungskasse wurde ausgeführt ohne daß es entdeckt wurde; durch Entfernung einer der schweren Flurplatten wurde der Eingang möglich und die jungen Frauen schafften anderthalb Million Rubel Bargeld beiseite und verbargen sie. Doch ehe sie das gestohlene Geld in vollkommener Sicherheit unterbringen und sich selbst durch die Flucht retten konnten, wurden sie verhaftet und ins Gefängnis gesteckt; ebenso ihr Helfer, der entwichene Sträfling. Dieser trat als Kronzeuge wider sie auf und gab der Polizei den Ort an, wo das gestohlene Geld zu finden sei. Die Amateureinbrecher wurden nach Sibirien verschickt. Frau Rossikowa, als die Ältere und Urheberin der Sache, wurde zur Zwangsarbeit in den Minen verdammt, während Fräulein Alexeiowa zur Zwangsansiedelung verurteilt wurde und zum Verlust gewisser bürgerlicher Rechte. Nach ihrer Verheiratung mit dem Missionär Dubroff wurde ihr erlaubt unter Polizeiaufsicht in Krasnojarsk zu wohnen.

Lange vor meiner Ankunft in Krasnojarsk hatte ich in Sibirien fast jede Art politischer Verbrecher kennen gelernt, von dem scheuen und ängstlichen sechzehnjährigen Schulmädchen bis zu dem verhärtetsten und verbittertsten Terroristen. Aber ich hatte bisher noch nicht Gelegenheit gehabt, die Bekanntschaft von politischen Kasseneinbrechern zu machen, und darum sah ich dem Ereignis mit einem gut Stück Neugier entgegen, als Schamarin mir den Vorschlag machte, mich mit Frau Dubrowa bekannt zu machen. Oberst Nowikoff in Tschita hatte sie mir als ganz gewöhnliche Diebin geschildert, die, ein milderes Urteil erhoffend, die Maske des politischen Verbrechers vorgenommen hatte. Da aber Nowikoff unwissend war und voller Vorurteile, und überdies einen gewöhnlichen Einbruch als politisches Verbrechen darstellen zu wollen ebensoviel wäre, wie sich eines Mordes beschuldigen, in der Hoffnung, für ein einfaches Vergehen eine gelindere Strafe zu bekommen, so mochte ich seiner Ansicht nicht viel vertrauen.Oberst Nowikoff war einer der Richter des Kriegsgerichtes, das Frau Rossikowa und Fräulein Alexeiowa verurteilte. Allein er war entweder unfähig, den Charakter solcher Frauen zu verstehen, oder er versuchte mich zu täuschen, indem er mir sie schilderte als »nichts anderes als gewöhnliche Einbrecherinnen und Diebinnen«. Frau Rossikowa wurde mir von allen politischen Verbannten, die sie kannten, als ein Weib von hohen sittlichen Eigenschaften und Aufopferungsfähigkeit geschildert. Sie war eine der jungen Frauen, die an der donquixotehaften aber doch edlen Bewegung teilnahmen, die als »zum Volke gehen« bekannt ist. Sie lebte wie eine gewöhnliche Bäuerin sieben oder acht Monate in einem Dorfe, um zu erkennen, was dieser Volksklasse nötig sei. Für die revolutionäre Propaganda wirkte sie sehr erfolgreich, besonders unter den Stundisten oder russischen Baptisten. Sie opponierte dem Terrorismus lange Zeit, doch endlich, unter dem Einflusse von Briefen ihrer verbannten Freunde in Sibirien, die ihre Leiden schilderten, wurde sie selbst Terroristin.

26 Schamarin, Peterson und ich suchten in der nächsten Nacht nach unserer Ankunft in Krasnojarsk Frau Dubrowa auf und fanden sie in einem nett eingerichteten Hause eines anständigen, wenn auch nicht eleganten Teiles der Stadt wohnen, ungefähr fünfhundert Meter von unserem Hotel entfernt. Sie war eine Dame von etwa dreißig Jahren, hatte dunkle Haare, große dunkle Augen, regelmäßige Züge, hellen Teint und ein offenes, angenehm wirkendes Wesen. Zehn Jahre früher mochte sie ein recht anmutiges oder auch schönes Mädchen gewesen sein; aber Gefängnis, Verbannung, Enttäuschung und Leiden hatten unverwischbare Spuren auf ihrem Antlitz zurückgelassen. Sie begrüßte uns herzlich, drückte ihre besondere Freude aus, einem Reisenden aus den Vereinigten Staaten zu begegnen, bedauerte, daß ihr Gatte abwesend sei, und begann dann sofort, mich über die politische Situation in Rußland zu befragen und sich nach ihren Gesinnungsgenossen zu erkundigen, die ich in anderen Teilen Ostsibiriens gesehen hatte. Dann folgte ein allgemein gehaltenes Gespräch, in dessen Verlauf ich Gelegenheit hatte, mir ein rasches, aber doch völlig genügendes Urteil über ihren Charakter zu bilden. Dieses Urteil war in jeder Beziehung günstig. Jeder, der nicht gänzlich vom politischen Haß und Vorurteil verblendet war, mußte einsehen, daß hier ein Frauentypus vorhanden war, der mit gewöhnlichen Einbrechern und Dieben ebensowenig etwas 27 gemein hatte, wie etwa Charlotte Corday mit gemeinen Mördern. Man konnte sie vielleicht als mißleitet, fanatisch, die gesunde Vernunft, das Recht verkennend schildern; aber man konnte sie nicht zu den gemeinen Verbrechern zählen, ohne alle Kennzeichen zu mißachten, die einen John Brown z. B. von einem gewöhnlichen Straßenräuber unterscheiden.

Das Gesetz mag vor allem die That und nicht den Gedanken richten, aber wenn ein Charakter vom geschichtlichen Standpunkt aus beurteilt werden soll, so müssen die Motive völlig in Betracht gezogen werden. Frau Dubrowa wurde zum erstenmal verhaftet – noch bevor sie achtzehn Jahre alt war – weil sie mit Frau Rossikowa auf ein Dorf mit der Absicht gegangen war, die einer ebenso reinen und edlen Menschenliebe entsprang, wie die der gebildeten jungen Frauen von New-England, als sie in der Rekonstruktionszeit nach dem Süden gingen, um in den Negerschulen zu unterrichten. Von dieser Zeit an galt sie als politisch verdächtig, wurde von den Behörden geplagt und gequält und durch ungerechte Behandlung ihrer selbst und ihrer Freunde zur Verzweiflung getrieben, bis sie unter dem starken Einfluß der Frau Rossikowa – ein Charakter von echtem John Brown-Typus – Terroristin wurde. Wie manche andere junge Russen, die heißblütig sind und mit der Geschichte der socialen und politischen Entwicklung der Menschen nur unvollkommen vertraut sind, handelte sie zuweilen unter irrigen Pflichtbegriffen oder mißverständlichen Vorstellungen moralischer Rechtfertigung. Doch dafür ist wieder nur die russische Regierung verantwortlich. Unter dem Vorwand, den moralischen Charakter der Jugend zu schützen, ihn vor der Gefahr der Ansteckung von »revolutionären« Gedanken zu wahren, raubt sie ihr jene Kenntnisse, die nötig sind, um sie bei der Beurteilung der Probleme des Lebens zu führen, giebt ihr ein Beispiel der Ungesetzlichkeit, indem sie sie für ein sociales Wirken bestraft, das völlig unschuldig und gesetzlich ist. Und nachdem sie durch Ungerechtigkeit und Grausamkeit zum Verzweifeln und zum Verbrechen 28 getrieben, stellt sie diese jungen Leute vor der Welt als Ungeheuer von Verworfenheit hin. Ich bin von russischen Beamten beschuldigt worden, den Charakter der politischen Verbannten idealisiert zu haben. Wenn aber die Geschichte der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wird, so wird man, meine ich, finden, daß meine Schilderungen der russischen Revolutionäre, so unvollkommen und skizzenhaft sie notwendigerweise auch ausfallen mußten, den Originalen viel ähnlicher sind, als die Karikaturen menschlicher Wesen, die die Kronanwälte in ihren politischen Reden und Anklagen geschaffen haben.

Am zweiten Tage nach unserer Ankunft in Krasnojarsk entgingen wir im Hause des Bekannten, wo Schamarin und Peterson wohnten, kaum der ernsten Beunruhigung, die eine unerwartete Durchsuchung uns bringen konnte. Dieser Bekannte scheint verdächtig geworden zu sein, denn spät abends, als die erwähnten zwei jungen Leute nicht zu Hause waren, erschien plötzlich die Polizei, um eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Diese fand gehörig statt und es bot sich nichts Verdächtiges, als die beiden doppelt verschlossenen Koffer von Schamarin und Peterson. Als Antwort auf die Frage, was sie enthielten, bemerkte der Hausherr, er wisse das nicht, sie wären das Eigentum zweier seiner Bekannten, die auf ihrer Reise von Irkutsk nach Petersburg für einige Tage bei ihm Aufenthalt genommen hätten. Ferner befragt, wo diese Bekannten jetzt wären, antwortete er, das wisse er nicht, sie gingen gewöhnlich nach Tisch fort, um zwischen elf und zwölf heimzukehren. Nach einer kurzen Beratung entschieden sich die Polizeibeamten dafür, die Koffer nicht gewaltsam zu öffnen, da sie keinen Befehl hatten auch das Gepäck der Gäste des Hausherrn zu durchsuchen. Dagegen verschnürten und versiegelten sie die Koffer, so daß der Inhalt nicht berührt werden konnte; und so sollten sie bis nächsten Morgen bleiben.

Als Schamarin und Peterson gegen Mitternacht heimkehrten, fanden sie also ihre Koffer verschnürt und versiegelt. In einem 29 waren zahlreiche Briefe von politischen Verbannten und Sträflingen in Ostsibirien an Freunde und Verwandte im europäischen Rußland, Briefe, die meine Forschungen schilderten und die Art des Materials, das ich sammelte, die Freunde und Verwandte im europäischen Rußland ersuchten, mir behilflich zu sein. Ferner meine Photographie, die ich Schamarin gegeben hatte, mit einer Widmung oder Aufschrift versehen, die jedem intelligenten Polizisten meine intimen Beziehungen zu den politischen Sträflingen verraten mußte. Was thun? Das Polizeisiegel unter solchen Umständen zu erbrechen, wäre ein sträfliches Vergehen gewesen und hätte wahrscheinlich Gefängnis und Untersuchung zufolge gehabt. Die Briefe und Photographie im Koffer zu lassen, hätte am nächsten Morgen zweifellos zu deren Entdeckung und Beschlagnahme geführt, und das hätte mich, wie die Briefschreiber und ihre Freunde in eine sehr üble Lage gebracht. Endlich beschlossen die beiden jungen Leute zu versuchen, den Koffer zu öffnen, ohne die Schnüre zu entfernen oder die Siegel zu verletzen. Und weil Briefe und Photographie ziemlich unten lagen, weil ferner der Kofferdeckel nicht aufgemacht werden konnte, selbst wenn man den Koffer auch aufschloß, kamen sie überein, einen Teil des Bodens herauszunehmen und ihn dann wieder einzufügen. Den Rest der Nacht damit zubringend, gelang es ihnen auch, eines der Bretter loszumachen. Sie entfernten die verdächtigen Briefe und die Photographie und fügten das Brett wieder ein, ohne auch nur ein einziges Siegel zu verletzen. Als die Polizei morgens wieder kam, standen sie mit heiteren Mienen da und sahen der Untersuchung des Koffers zu. Natürlich wurde nichts gefährlicheres gefunden als eine Haarbürste, nichts verfänglicheres als eine Hotelrechnung.

Noch eine andere kleine Episode in Krasnojarsk beunruhigte uns und das war das offensive Auftreten zweier unbekannten Leute gegen uns eines abends in einer Buchhandlung. Der Leser erinnert sich vielleicht noch des geheimnisvollen Pistolenschusses, der in Tschita gegen die Wand unserer Stube in 30 später Nacht abgefeuert wurde. Dieser Umstand brachte mich zuerst auf den Gedanken, es sei vielleicht darauf abgesehen, uns in irgend einen Konflikt oder dergleichen zu verwickeln, wodurch die Polizei Gelegenheit hätte, uns zeitweilig in Gewahrsam zu bringen und unser Gepäck zu durchsuchen. Ich wußte, daß im Hinblick auf die Schriftstücke, die ich mit mir führte, eine solche Durchsuchung uns sehr verhängnisvoll werden mußte und nahm mir daher vor, äußerst vorsichtig zu sein, daß ich nicht in eine derartige Falle gerate. Bei einer Gelegenheit versagte ich mir sogar, einer Frau zu Hilfe zu kommen, die in der andern Hälfte des Hauses, in welchem ich damals in der Nacht bei einem politischen Sträfling just zu Besuch war, grausam und roh mißhandelt wurde. Ich war überzeugt, ihr Geschrei müsse bald die Polizei herbeirufen, und ich wagte es nicht von ihr an diesem Orte gefunden zu werden und auch mich mit einer Sache zu beschäftigen, die zu einer polizeilichen Untersuchung führen konnte. Allerdings fiel es mir recht schwer, den Jammerschrei des Weibes zu hören, ohne ihr beizustehen.

Der erwähnte Zwischenfall in Krasnojarsk war folgender: Frost und ich, wir begaben uns eines frühen Abends in die erste Buchhandlung von Krasnojarsk, um dort einige Landkarten, Schreibmaterial, Notizbücher und andere dergleichen Dinge zu kaufen, die wir just nötig hatten. In den Laden folgten uns nun zwei Männer in bürgerlicher Kleidung, die ich früher nie gesehen hatte und denen ich anfangs auch nur geringe Aufmerksamkeit widmete. Bald jedoch bemerkte ich, daß der eine von ihnen sich an mich hielt, der andere an Frost, und daß sie beide alles, was wir thaten, in beleidigender Weise nachahmten oder karikierten. Betrunken waren sie nicht; sie richteten auch nicht ihre Bemerkungen an uns, oder besser gesagt, sie machten überhaupt keine eigenen Bemerkungen, sondern ahmten alles nach. Verlangte ich eine Karte der Provinz Jeniseisk zu sehen, so verlangte es der Mann an meiner Seite gleichfalls und ahmte dabei mein Gebahren nach. Schritt 31 ich dem andern Teil des Ladens zu und verlangte dort Schreibpapier, so that er es gleichfalls. Die Absicht zu beleidigen war so deutlich zu erkennen und die Art der Äußerung so deutlich und so außergewöhnlich und überlegt, daß ich sofort eine Polizeifalle vermutete. Zwei vernünftige und nüchterne Bürgersleute konnten nicht zwei ihnen fremden Leuten in eine Buchhandlung folgen, um sich hier derart in absichtlicher und auch verabredeter Weise gegen sie zu benehmen, ohne daß es einen bestimmten Zweck gehabt hätte. Das konnte nur in der Absicht geschehen, ein Duell zu provozieren; und da ich nicht daran denken konnte, mich jetzt in ein Duell einzulassen, blieb mir nichts übrig, als den Einkauf so rasch wie möglich zu beenden und den Laden zu verlassen. Die Beiden folgten uns auf dem Fußsteig, ohne uns jedoch anzusprechen und bald verloren wir sie in der Dunkelheit aus dem Auge. Als ich den Buchhändler am nächsten Tage fragte ob ihm diese Leute bekannt wären: antwortete er mir mit Nein. Im Hinblick auf die Menge von Schriftstücken, Briefen und politischen Zündstoff aller Gattung, die wir auf unserem Leibe und in unserem Gepäck verborgen hatten, und im Hinblick auf die wichtigen Interessen, die hier im allgemeinen zu vertreten waren, mußten Zwischenfälle dieser Art, mochten sie welche Bedeutung auch immer haben, sehr beunruhigend wirken. Lange ehe wir die Grenze des europäischen Rußland erreichten, wurde ich so nervös und so mißtrauisch gegen alles ungewöhnliche, daß ich nachts kaum schlafen konnte.

Mittwoch, am 20. Januar, nachdem wir so viel Zeit in Krasnojarsk verbracht hatten, als wir da nützlich verwenden zu können glaubten und nachdem wir uns von den Mühseligkeiten der Reise von Irkutsk erholt hatten, fuhren wir weiter, gegen die Stadt Minusinsk, die am nördlichen Abhange des Altaigebirges, nahe der Grenze der Mongolei liegt, in einer Gegend, die wir halb im Ernst und halb im Scherz das »Sibirische Italien« genannt haben. Die Entfernung zwischen Krasnojarsk bis Minusinsk beträgt etwa 225 Kilometer. Als 32 Verkehrsweg zwischen beiden Städten wird im Winter die Eisdecke des großen Jeniseistromes benützt. Es ist dies keine regelmäßige Postroute, indes sind die wohlhabenderen und unternehmenderen Bauern gewöhnt die Reisenden gegen Bezahlung der gewöhnlichen Posttaxe zu befördern und man wird dabei nicht länger aufgehalten als auf der großen sibirischen Heerstraße. Als wir Krasnojarsk verließen war das Wetter kalt und stürmisch, der Schnee wehte so heftig auf dem Eise, daß wir hinter der zweiten Station die drei Pferde voreinander spannen mußten und ein viertes Pferd, vor einen leichten Schlitten gespannt, vorausschicken mußten, um den Weg frei zu machen. Da die Bahn völlig eben und die Bewegung der Pawoska gleichmäßig war, so vergruben wir uns bei herannahender Nacht in der Tiefe unseres Pelzsackes und versuchten zu schlafen, unsere Kutscher sich selbst überlassend. Alles, dessen ich mich von dieser Nachtfahrt erinnere, ist, das wir alle drei bis vier Stunden erwachten, aus den Schlitten stiegen, in irgendein Bauernhaus traten, um dort das Anschirren frischer Pferde abzuwarten. Donnerstag fuhren wir den ganzen Tag langsam durch tiefen weichen Schnee auf der Flußdecke dahin, wobei die Pawoska oft bis zu den Spreizen, die Pferde bis an die Knie versanken. Die Flußufer wurden höher als wir südwärts fuhren und nahmen schließlich einen wilden Gebirgscharakter an, mit großartigen Felsbrüstungen und hie und da übereinandergeschichteten Steinpalissaden. Auf diesen Riffen fand Herr Sawenkoff, der verdienstvolle Direktor der Normalschule zu Krasnojarsk interessante Inschriften und Kalksteinabdrücke, die er, wie schon erwähnt wurde, seiner Sammlung einverleibte. Manche Anzeichen weisen darauf hin, daß das Becken des Jeneseis einst der Sitz eines großen und blühenden Volkes gewesen ist. Freitag, nachdem wir die siebente Station hinter Krasnojarsk zurückgelegt hatten, verließen wir für einige Zeit den Fluß und fuhren durch ein begrastes, fast schneeloses Thal, das förmlich einen großen Friedhof darstellt. Nach jeder Richtung hin war es mit 33 zahlreichen Grabsteinen besetzt. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß es mehrere Tausend waren. Während des ganzen Tages bildeten sie den bemerkenswertesten Zug des Landschaftsbildes.

Samstag, am 23. Januar, vor der Morgendämmerung erreichten wir unser vorläufiges Ziel, die Stadt Minusinsk und fanden dort Obdach in einem zweistöckigen Blockhause, das viele Jahre hindurch einen der hervorragendsten politischen Verschickten, dem Fürsten Alexander Krapotkin, zum Aufenthalt diente.

 


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