George Kennan
Sibirien
George Kennan

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5. Auf administrativem Wege verschickt.

Nur wenige Seiten meines Tagebuchs aus Sibirien wecken in mir so angenehme Erinnerungen wie jene, die unsere Erlebnisse im Altaigebirge verzeichnen. Haftet mein Blick an der Stelle, die »Altaistation am 5. August« datiert ist, so erscheint mir jenes malerische Kosakendorf mit all seinen Einzelheiten. Und wenn ich die Augen schließe ist mir, als hörte ich das Rauschen des klaren Quells, der seine Straße durchrieselt, als sähe ich die blumigen Halden mit den schneebedeckten Bergesgipfeln im Hintergrunde, als fühlte ich ihre erquickende, duftige Luft. Wäre es eine Lustfahrt gewesen, die uns nach Sibirien führte, so hätten wir zweifellos den ganzen Sommer hier verbracht, denn nirgends konnten wir eine reizendere Sommerfrische finden. Die reine, frische Gebirgsluft, die Fülle von Blumen – ich vermehrte dort mein Herbarium um fast 1000 Arten –, die fischreichen Flüsse und das wildreiche Gehölz – alles war geeignet, den Aufenthalt aufs angenehmste zu gestalten. Ein Trupp Kirgisenreiter war stets bereit, uns an die mongolische Grenze zum wundervollen Alpensee Marka-Kul, oder zu den noch unerforschten Schluchten des chinesischen Altaigebirges zu geleiten. Der freundliche Kommandant versuchte es, uns zurückzuhalten, indem er uns eine Reihe verlockender Ausflüge in Aussicht stellte; allein so gern wir auch geblieben wären, wir mußten doch fort, da der Sommer mit seiner günstigen Witterung bald entschwinden mochte und wir die Bergwerke von Kara noch vor Beginn des Winters erreichen wollten. Schon war die erste Woche des August 97 verstrichen und noch trennten uns gegen 4000 Kilometer von den Quellen des Amur.

Unser nächstes Ziel war Tomsk, das beiläufig 1200 Kilometer von der Altaistation entfernt ist. Wir mußten, um diese Stadt zu erreichen, einen Teil des zurückgelegten Weges noch einmal machen, am Ufer des Irtisch stromaufwärts bis Pianojarofskaja fahren. Hier gabelt sich die Straße: die eine führt nach Semipalatinsk, die andere in nördlicher Richtung durch den Bergwerksbezirk des Altai und die Station Barnaul nach Tomsk. Der Weg führte uns auch durch zwei Kolonieen politischer Verbannter, die eine bei dem Kosakendorf Ulbinsk, 260 Kilometer von der Altaistation entfernt, die andere im Städtchen Ustj-Kamenogorsk. Wir beschlossen, in beiden einen kurzen Aufenthalt zu nehmen.

Donnerstag, am 6. August, in den Morgenstunden, packten wir unsere Sachen, bestellten Postpferde, frühstückten mit dem gastfreundlichen Kommandanten im Kreise seiner Familie, und nachdem wir von allen Bekannten Abschied genommen, schieden wir von diesem schönen Alpendorf.

Unsere Reise durch das Bukhtarmathal und über die dürre Irtischsteppe erfolgte nun in umgekehrter Richtung wie früher und sie gestaltete sich auch wie die vorherige. Der Unterschied war nur: damals fuhren wir von einer Wüste in die Alpen, jetzt dagegen von den Alpen in eine Wüste. Freitag nachmittags gelangten wir zur Kolonie von Bukhtarma. Hier durchschneidet der Irtisch einen Ausläufer des Altais und die Straße wendet sich vom Flusse ab, dem Gebirge zu. Postpferde waren nicht zu haben und das Wetter ließ das Beste nicht erhoffen. Die Straße nach Alexandrowskaja war zufolge des Regens nicht im besten Zustande, so daß wir anfangs keinen Bauer finden konnten, der bereit war seine Pferde zu opfern, indem er sie vor unseren schweren Tarantas spannte, um ihn mitten in einer finsteren und voraussichtlich auch stürmischen Nacht die steile, schmutzige Bergstraße hinaufzuschleppen. Endlich fanden wir aber doch, durch Vermittlung 98 des Postmeisters, einen zur Fahrt willig, und fort ging es mit vier »freien« Pferden. Bald kamen wir zu der Erkenntnis, daß es besser gewesen wäre, den Rat des Kutschers zu befolgen und in Bukhtarma zu übernachten. Die Straße war im Argen und wir hatten noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als es dunkel wurde und überdies auch ein entsetzliches Wetter mit Donner und Blitz niederging. Mehr als einmal irrten wir von der Straße ab und unser Wagen sank in tiefe Pfützen, endlich stürzte er in einen vom Regen ausgehöhlten Graben. Der Kutscher hieb scheltend und fluchend auf die armen Mähren ein; wir zündeten nun Heubündel an, um die Stätte unseres Mißgeschickes zu beleuchten und versuchten den Tarantas aufzurichten, wobei wir von oben bis unten kotig wurden, ohne nur das Geringste zu erzielen. Einige Kutscher, die mit der Post Bukhtarma kurze Zeit nach uns fortfuhren und mit ihren leichten Telegas besser fortkamen, befreiten uns endlich aus dieser fatalen Situation, indem sie unserem Kutscher den Wagen flott machen halfen. Dann fuhren sie fort und waren unsern Blicken bald entschwunden.

Auch wir fuhren weiter; da ich aber fürchtete, dieser Unfall könne sich wiederholen und uns nötigen, die Nacht im Freien zu verbringen, so ging ich dem Wagen eine Zeitlang voraus, die Straße untersuchend und mit dem Taschentuch dem Kutscher die Weisung für die Fahrt gebend. Endlich aber wurde ich zu müde, um noch länger in stockfinsterer Nacht, im strömenden Regen, Pfützen ausfindig zu machen, ich bestieg wieder den Tarantas, wickelte mich in die durchnäßte Decke und beschloß dem Schicksal freien Lauf zu lassen.

Es verging kaum eine Viertelstunde und unser Wagen lag wieder in einem Graben. Wir tasteten umher und da wir fanden, daß wir ohne Hilfe nicht von der Stelle kommen könnten, beschlossen wir die Nacht hier zu verbringen und indes den Kutscher zu Pferde auszusenden, damit er von irgendwo Beistand hole.

Es war ungefähr elf Uhr. Der Sturm hatte sich gelegt, 99 aber der Regen währte fort; hie und da brach ein Blitzstrahl durch das Dunkel und beleuchtete für einen Augenblick die unheilvolle Stelle. Durchkältet, durchnäßt, müde und hungrig, krochen wir in den gestürzten Tarantas, wo wir wenigstens vor dem Regen geschützt waren, und warteten bis zum Morgengrauen, bis endlich unser Kutscher in Begleitung eines Kosaken aus Alexandrowskaja zurückkehrte, versehen mit Laternen, Seilen, Hebebäumen und auch mit anderen Pferden, und damit gelang es uns auch den Wagen aufzurichten und weiterzufahren. In Alexandrowskaja tranken wir Thee, schliefen zwei Stunden im Posthause auf dem Fußboden und setzten dann mit acht Pferden und drei Kutschern die Fahrt fort.

Die Entfernung zwischen Alexandrowskaja und Severnaja beträgt ungefähr 30 Kilometer; ein Drittel dieses Weges führt durch eine wilde Schlucht, über kahles Gebirge, um sich dann wieder durch eine tiefe Schlucht in das Thal des Ulbinsk zu senken, welches sie dann auch bis Ustj-Kamenogorsk nicht verläßt.

Die schlechten Straßen und auch die Bergfahrt ließen uns nur langsam vorwärts kommen; obgleich wir acht Pferde vorgespannt hatten – später nur fünf – brauchten wir doch zehn Stunden um nach Severnaja zu gelangen. In der Bergfahrt verließen wir den Wagen und pflückten Blumen, womit wir den Tarantas schmückten.

Samstag, in der Abendzeit, fuhren wir im raschem Trab durch die lange, schöne Schlucht, die ins Ulbathal führt, und ehe es dunkel geworden, saßen wir schon im Posthaus von Ulbinsk und erquickten uns an Brot, Milch und Himbeeren.

Zu den damals dort anwesenden politischen Verbannten zählten auch: Alexander L. Blok, ein junger Rechtshörer aus Saratow an der Wolga, Apollo Karelin, der Sohn eines bekannten Photographen in Nischnii-Nowgorod, Severin Groß, ein Rechtshörer aus der Provinz Kowno, und Dr. Vitert, ein Arzt aus Warschau. Herrn Karelin hatte seine Frau nach Sibirien begleitet, die andern waren – irre ich nicht – ledig.

Schon in Semipalatinsk lernte ich ihre Namen kennen 100 und einen Teil ihres Schicksals; aus diesem und auch noch aus einem andern Grunde wollte ich ihre Bekanntschaft machen. Ich glaubte nämlich, die politischen Verbannten von Semipalatinsk, die einen so guten Eindruck auf mich machten, wären in Bezug auf Intelligenz doch Ausnahmen; ich konnte noch immer den Gedanken nicht ganz abwehren, ich müsse in Sibirien Leute treffen, die meiner einstigen Vorstellung von den Nihilisten doch einigermaßen ähnlich wären.

Wir weilten noch keine Stunde im Dorfe, als schon zwei der Verbannten, die Herren Blok und Groß, uns aufsuchten. Jener gewann sofort meine Zuneigung. Er mochte in der zweiten Hälfte der Zwanzig sein, war von kräftiger Mittelgröße, hatte dunkles Haar und dunkle Augen, ein bartloses Gesicht, in dem sich Geist, Ernst und Kraft ausprägten. Mark Aurel sagt irgendwo in seiner kräftigen Weise: »Ein Mann, der ehrlich ist und gut, muß dem gleichen, der einen starken Geruch an sich hat, so daß jeder, der ihm nahe kommt, ihn riecht, ob er nun will oder nicht.« Die Ehrlichkeit und Güte Bloks schienen mir dieser Art zu sein; ich faßte eine Zuneigung zu ihm, noch ehe ich mir des Grundes bewußt wurde. Herr Groß war ein hübscher Dreißiger, mit braunem Haar und Bart, blauen Augen und feinen, ebenmäßigen Zügen. Seine Stimme klang einschmeichelnd, er sprach lebhaft und hatte die Gewohnheit, im Moment der Erregung oder wenn ihn etwas besonders interessierte, die Augen weit aufzureißen. Beide hatten promoviert und waren der deutschen und französischen Sprache mächtig. Ersterer las auch englisch und interessierte sich gleich seinem Genossen ganz besonders für Nationalökonomie. Man hätte sie dem Aussehen nach für junge Professoren gehalten. Schon nach einer kurzen Unterhaltung mit ihnen war ich vollkommen überzeugt, daß sie in Bezug auf Intelligenz einen Vergleich mit den politischen Verbannten von Semipalatinsk aushielten und ich wußte, daß ich die wilden Nihilisten meiner Einbildung in einem noch entlegeneren Winkel Sibiriens aufsuchen müßte.

101 Wir plauderten im Posthause bis neun Uhr, dann folgten wir der Aufforderung Bloks und besuchten mit ihnen die andern politischen Verbannten des Ortes. Alle wohnten in ärmlich eingerichteten Blockhäusern, die sie von den dortigen Kosaken in Miete nahmen; überall zeigte sich Armut und Entbehrung, die sie aber würdig, ohne auf Mitleid berechnete Klagen ertrugen. Sie schienen recht gesund zu sein, ausgenommen Frau Karelin, die mager, blaß und vergrämt aussah, und Dr. Vitert, ein wohlunterrichteter Mann, der schon das dritte Mal in der Verbannung war, zehn Jahre seines Lebens teils im Gefängnis, teils in Sibirien verbrachte und der nun ganz das Aussehen hatte, als würde er die russische Regierung, die ihm sein Lebensglück zertrümmerte, nicht lange mehr »beunruhigen«. Erst 43 Jahre alt, war er schon ganz gebrochen und konnte sich nur mühsam, auf einen Stock gestützt, fortbewegen; er litt beständig an Rheumatismus, den er sich im Gefängnis zuzog. Das Gespräch kam auch auf die Vereinigten Staaten, er richtete dabei Fragen an mich, die eine mehr als oberflächliche Kenntnis der Verhältnisse bekundeten.

In allen Wohnungen fand ich einen Schreibtisch, Bücher, Zeitschriften, wie z. B. »Revue des deux Mondes«, »Russki Vestnik«. Herr Blok besaß auch eine kleine gewählte Bibliothek, die außer russischen Büchern noch Werke englischer, französischer und deutscher Autoren enthielt, hauptsächlich nationalökonomische, juristische und historische Schriften. Ich brauche wohl nicht ausführlich zu erörtern, daß solche Leute weder rohe Fanatiker sind, noch »unwissende Schuhflicker und sonstige Handwerker«, wie sie mir ein russischer Offizier einst bezeichnet hat. Wenn solche Männer in ein einsames sibirisches Dorf an der mongolischen Grenze verbannt sind, anstatt im Dienste des Staates diesem zu nützen, dann – um so schlimmer für diesen Staat!

Den ganzen Abend und einen Teil des nächsten Tages verbrachten wir in Gesellschaft der politischen Verbannten zu 102 Ulbinsk und wir wären gern noch länger geblieben, wenn es unsere Zwecke gestattet hätten, die durch unseren Ausflug ins Gebirge ohnehin um eine beträchtliche Zeit verkürzt wurden. Sonntag nachmittags setzten wir unsere Fahrt nach Ustj-Kamenogorsk fort. Blok und Karelin begleiteten uns zu Pferd bis zum Fährboot, das uns über die Ulba setzen mußte. Wir nahmen in herzlichster Weise Abschied und sie baten dabei, sie nicht zu vergessen, wenn wir in ein »freieres und glücklicheres Land« zurückgekehrt sind. Wir setzten über den Fluß. Lange blickten sie uns noch nach und winkten uns Grüße zu, bis der Wald uns aufnahm und ihren Blicken entzog.

Sollten diese Blätter jemals in das einsame Haus der politischen Verbannten zu Ulbinsk getragen werden, so seien sie ihnen ein Zeichen, daß wir ihrer auch in einem »freieren und glücklicheren Lande« nicht vergessen haben, daß wir oft ihrer gedenken, voll Achtung und Sympathie!

Sonntags in der Abenddämmerung gelangten wir nach Ustj-Kamenogorsk und kehrten im Posthause ein.

Das Städtchen besteht aus 600 bis 800 Blockhäusern mit etwa 5000 Einwohnern; es liegt mitten in einer kahlen Ebene, am rechten Ufer des Irtisch, bei der Mündung der Ulba. An bemerkenswerten Gebäuden besitzt es einige Moscheen, russische Kirchen, eine »Ostorg«, d. h. Citadelle, ein hoher Erdwall im Geviert, der von einem trockenen Graben umgeben ist und der ein Gefängnis, eine Kirche und einige Amtshäuser umfaßt.

Die Moscheen, die weißbeturbanten Mullahs, die Kirgisenreiter mit ihren Spitzmützen, der Gebetruf der Muezzins, die Kameele, die langsam und feierlich durch die Straßen ziehen – das alles verleiht der Stadt ein orientalisches Aussehen, wie wir solches schon in Semipalatinsk bemerkten und man glaubt, sich auch hier in Nordafrika oder Mittelasien zu befinden und nicht in Sibirien.

Während wir im Posthause beim Thee saßen, wurden wir durch die Ankunft des Herrn Groß überrascht, der in den Morgenstunden hierher kam. Kaum jedoch hatte er Platz 103 genommen, als die Frau des Postmeisters uns mitteilte, ein russischer Offizier wünsche mit uns zu sprechen und bevor ich noch Zeit hatte, Herrn Groß zu fragen, wie seine Beziehungen zu den Lokalbehörden wären, trat der Offizier, Herr Schaitanoff schon ein. Ich war in Verlegenheit. Ich kannte den Eingetretenen nicht näher, ich fürchtete, er könnte sich dem anwesenden politischen Verbannten gegenüber, der nun mein Gast war, in einer Weise benehmen, die mir ein energisches Austreten zur Pflicht machen würde. Aber es kam besser! Der Kosakenoffizier zeigte sich als Mann von Bildung und Takt und was er immer auch für Gedanken gehabt haben mag, da er so kurz nach unserer Ankunft einen politischen Verbannten in unserer Gesellschaft fand, er zeigte sich weder überrascht, noch unwillig. Als ich ihn Herrn Groß vorstellte, verbeugte er sich höflich und in wenigen Minuten führten sie ein lebhaftes Gespräch über Bienen, Seidenwürmerzucht und Tabakspflanzungen. Herr Schaitanoff erwähnte, daß er versucht habe, in der Nähe von Ustj-Kamenogorsk Maulbeerbäume und Tabak zu pflanzen, was ziemlich guten Erfolg hatte, so daß er hoffe, um nächstes Jahr die Seidenwürmerzucht einführen zu können und den schlechten heimischen Tabak durch besseren amerikanischen zu ersetzen.

Nach einem halbstündigen Geplauder verabschiedete sich der Offizier und wir besuchten nun mit Herrn Groß die dortigen politischen Verbannten. Von unserem Besuch vorher benachrichtigt, versammelten sie sich, etwa ein Dutzend an der Zahl, in eines Genossens Haus, das so ziemlich mitten in der Stadt lag.

Es wäre unmöglich und es wäre auch unnötig, alle politischen Verbannten, die wir während unserer sibirischen Reise kennen lernten, näher zu schildern; meine Absicht ist, den Lesern nur einen allgemeinen Begriff von ihnen zu geben und darzustellen, welchen Eindruck sie auf mich machten. Die Verbannten in Ustj-Kamenogorsk zeigten eine größere Mannigfaltigkeit der Typen und der früheren gesellschaftlichen Stellung, 104 als jene, die ich früher traf. Hier befand sich an dem einen Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter ein Bauernschuster, an dem anderen eine kaukasische Prinzessin und zwischen diesen standen Ärzte, Apotheker, Schriftsteller, Journalisten, Verleger, Studenten und Grundbesitzer. Die meisten waren adelig, oder gehörten einer sonst privilegierten Klasse der russischen Gesellschaft an und einige Männer und Frauen besaßen einen hervorragenden Grad von Intelligenz und Wissen. Zu jenen, die ich näher kennen lernte, gehörte auch Herr Konowaloff, der das Englische recht gut verstand, aber nur mangelhaft sprach; sechs Monate nach meiner Reise von Ustj-Kamenogorsk gab er – nebenbei bemerkt – seinem Leben durch Selbstmord ein Ende, Herr Milinschuck, ein dunkelhaariger Georgier aus Tiflis und Herr Adam Bialoweski, Schriftsteller aus der Provinz Pultawa. Diesen hielt ich für besonders begabt; er kannte genau die russische Geschichte und die russische Rechtskunde, er war völlig vertraut mit der Geschichte und der Litteratur der westeuropäischen Völker. Er war maßvoll und vorurteilsfrei in seinem Urteil und obgleich seine Weltanschauung stark pessimistisch gefärbt war, nahm er sein trauriges Schicksal ergeben und gelassen hin. Ich besprach mit ihm die russischen Verhältnisse recht ausführlich und seine leidenschaftslose Beurteilung der revolutionären Bewegung und der betreffenden Maßregeln der russischen Regierung machte auf mich den günstigsten Eindruck. Einen derartigen Mann als »Nihilisten« zu betrachten, schien mir einfältig und ihn als gesellschaftsgefährlich nach Sibirien zu verschicken, mehr noch als das. In jedem anderen civilisierten Land der Welt hätte er nur für einen Parteigänger des maßvollsten Liberalismus gegolten.

Diese Kolonie der politischen Verbannten zu Ustj-Kamenogorsk war die letzte, die wir im Steppengebiet zu Gesicht bekamen; ich will daher, ehe ich die Beschreibung unserer Reise fortsetze, in aller Kürze das verzeichnen, was man in Rußland »auf administrativem Wege verschicken« nennt. Man versteht darunter die Verschickung »unbequem« gewordener 105 Personen aus einem Teil des Reiches in einen andern, ohne dabei auch nur im geringsten jene Formen anzuwenden, die sonst überall in der civilisierten Welt jeder Rechtsentziehung oder Bestrafung vorausgehen. Der »administrativ Verschickte« braucht just keines Verbrechens oder Vergehens bezichtigt zu sein, es genügt, wenn irgendeine Lokalbehörde seine Anwesenheit für »der gesellschaftlichen Ordnung nachteilig« hält; er wird verhaftet und mit Billigung des Ministers des Innern nach irgend einem Orte innerhalb des weiten Reiches verschickt, wo er dann fünf Jahre unter Polizeiaufsicht steht. Zuweilen wird ihm nicht einmal der Grund dieser Maßregelung mitgeteilt, aber selbst wenn er ihn schon erfährt, so steht er ihr doch hilf- und machtlos gegenüber. Er kann keine Untersuchung, kein Verhör verlangen, er kann nicht fordern, jenen Leuten gegenübergestellt zu werden, auf deren Aussage hin er als »der gesellschaftlichen Ordnung nachteilig« befunden wurde, er kann keine Freunde um Beistand anrufen ohne etwas Anderes zu bezwecken, als daß auch diese von demselben Unheil betroffen werden. Sein Verkehr mit der Welt ist plötzlich abgeschnitten worden, so daß oft seine nächsten Angehörigen nicht wissen, was mit ihm geschehen ist.

Um zu zeigen, was da alles für »der gesellschaftlichen Ordnung nachteilig« erklärt wird, will ich von den vielen Fällen, die mir bekannt wurden, nur zwei sehr charakteristische anführen. Der erste betrifft Herrn Konstantin Stanjukowitsch. Er war der Sohn eines russischen Admirals und hatte als Seeoffizier Aussicht auf eine glänzende Carriere. Er begleitete den Großfürsten Alexis bei dessen Fahrt nach Amerika, trat jedoch, liberal in seinen Anschauungen, nach seiner Rückkehr aus dem Marinedienst und widmete sich der Schriftstellerei.

Er schrieb dann Novellen und Schauspiele, die wohl dem Publikum gefielen, nicht aber der Regierung. Anfangs der achtziger Jahre wurde er Eigentümer und Redakteur der bekannten Monatsschrift »Djello«. Im Sommer 1884 machte er mit seiner Familie eine Reise ins Ausland und kehrte im 106 Herbst nach Petersburg zurück; Frau und Kinder blieben in Baden-Baden. An der russischen Grenze wurde er verhaftet, nach Petersburg gebracht und in der Petropawlowsk-Festung in Haft gehalten. Seine Frau wußte von dem ganzen Vorgang nichts; als jedoch ihre Briefe unbeantwortet blieben, telegraphierte sie an die Redaktion der Zeitschrift »Djello«, und der zeitweilige Leiter antwortete ihr dann, Herr Stanjukowitsch sei dort nicht angelangt, er selbst sei der Meinung gewesen, der Chef wäre noch in Baden-Baden. Die geängstigte Frau eilte nun nach Petersburg, wo sie jedoch nichts von ihrem Gatten erfahren konnte; keiner seiner Freunde hatte in den letzten zwei Wochen etwas von ihm erfahren– er war plötzlich in geheimnisvoller Weise verschwunden. Sie befolgte nun einen Freundesrat und erkundigte sich bei dem Gendarmeriekommandanten General Orzhefski und dieser gab ihr die Auskunft, daß ihr Gatte in der Festung gefangen säße. Die Polizei hatte vorher seine Briefe aufgefangen und daraus ersehen, daß er mit einem bekannten russischen Revolutionär, der in der Schweiz lebte, im Briefwechsel stand; dieser war zwar ganz unsträflichen Inhalts, er bezog sich nur auf die Mitarbeiterschaft beim »Djello«, allein der Umstand, daß ein liberal Gesinnter mit einem flüchtigen Revolutionär überhaupt in Verbindung stand, genügte, um ihn für »die gesellschaftliche Ordnung nachteilig« erscheinen zu lassen. Erst im Mai 1885 wurde er auf administrativem Wege für die Dauer von drei Jahren nach Tomsk in Westsibirien verschickt. Seine Zeitschrift wurde selbstverständlich unterdrückt und damit war er auch finanziell zu Grunde gerichtet. Wenn die russische Regierung gegen einen Mann von Ansehen und Vermögen so willkürlich verfährt, wie mag es erst mit den Studenten, Ärzten und kleinen Grundbesitzern in der Provinz geschehen, wenn sie ihr als »der gesellschaftlichen Ordnung nachteilig« erscheinen!

Und nun der zweite Fall: In der Stadt Iwangorod, Provinz Tschernigoff, lebte im Jahre 1879 ein junger, tüchtiger Arzt Namens Doktor Belloj. Er war zwar liberal, 107 gehörte jedoch keineswegs zu den Agitatoren oder Revolutionären, er beteiligte sich überhaupt nicht an Politik. Eines Tages besuchten ihn zwei Damen und überbrachten ihm Empfehlungsbriefe. Sie waren in Petersburg, wo sie Medizin studierten, wegen »Neblagonadhezhnost«, politischer Unzuverlässigkeit nach ihrer Heimat ins Innere Rußlands verwiesen worden. Sie wollten jedoch ihr Studium fortsetzen und ausüben und baten nun den jungen Arzt, er möge ihnen Unterricht erteilen und auch die Benutzung seiner Bibliothek gestatten. Da beide »Ungesetzliche« waren, Leute, die sich an einem Ort aufhielten, wo es ihnen nicht gestattet ist, so wäre es nun seine Unterthanenpflicht gewesen, die beiden Damen, die ihn vertrauensvoll aufsuchten, der Polizei auszuliefern; er that es nicht, sondern stellte sie seiner Frau vor und willfahrte im übrigen ihren Bitten. Im betreffenden Jahre war in Rußland die Revolutionspartei ganz besonders thätig; es erfolgten Attentate auf höhere Beamte und die Polizei wurde noch wachsamer und mißtrauischer, als sie bisher war. Die häufigen Besuche der zwei Damen im Hause des Arztes erweckten Verdacht, die Polizei forschte nach und entdeckte bald, daß die eine einen falschen Paß habe, die andere überhaupt keinen und daß beide wegen »politischer Unzuverlässigkeit« aus Petersburg ausgewiesen worden. Die unerlaubte Anwesenheit in Iwangorod und ihre heimlichen Besuche bei Herrn Doktor Belloj waren in den Augen der Polizei nichts anderes als Bündelei wider den Staat und am 10. Mai 1879 wurden sowohl die Damen wie der junge Arzt verhaftet und auf »administrativem Wege« nach Sibirien verschickt; er kam nach der Nordpolgegend, nach dem unter dem 67,20. Breitegrad gelegenen Dorfe Werchojansk in der Provinz Jakutsk, wo ihn 1882 die dahin gelangten Überlebenden der »Jeanetteexpedition« gesehen haben.

Seine junge, schöne Frau sah ihrer Entbindung entgegen, sie konnte ihn daher nicht begleiten. Nach der Geburt des Kindes jedoch übernahmen es ihre Verwandte und sie trat die 108 Reise von 10 000 Kilometer an, um ihren Gatten aufzusuchen. Die Geldmittel für diese kostspielige Reise besaß sie nicht, sie mußte daher den Minister des Innern bitten, es möge ihr gestattet werden, mit dem Verbanntentransport zu ziehen, was ihr auch gewährt wurde. Bis Tomsk werden alle Verbannte mittelst Eisenbahn oder Dampfschiff befördert; von hier weiter müssen die gewöhnlichen Verbannten marschieren, während die politischen in Telegas fahren, die etwa 95 Kilometer wöchentlich zurücklegen, wobei an jedem dritten Tag in einem Etappengefängnis Rast gehalten wird. Derart hätte die arme Frau ihren Gatten erst nach einer sechzehnmonatlichen beschwerlichen Reise erreichen können. Doch es sollte nicht geschehen! Wochenlang gaben ihr Hoffnung und Liebe den Mut das Gerüttel des Telegas, Staub, Hitze und Regen, schlechte Nahrung, die harten Pritschen, die verpestete Luft und das Ungeziefer der Etappenhäuser klaglos hinzunehmen, aber endlich nahm auch ihre Kraft ein Ende. Unter der Wucht der Leiden und Entbehrungen, in beständiger Sorge um den Gatten, um das Kind, das sie seinetwegen verlassen, brach ihr Körper und ihr Geist zusammen. Aber noch hielt sie sich aufrecht, obgleich sie eine geistige Störung erkennen ließ. In der Nähe von Irkutsk erholte sie sich, sprach fortwährend von ihrem Manne, den sie nun bald zu sehen hoffte. Sie nahm nämlich irrtümlich an, er befände sich in dem unweit von Irkutsk liegenden Dorfe Werkholensk, währenddem er in Werchojansk sich befand, das noch 4500 Kilometer weiter liegt. Und als sie nun erfuhr, daß sie noch einen weiten Weg vor sich habe, durch Steppen und Wälder, daß sie noch viele Wochen auf Hunde und Renntierschlitten allein fahren müßte, um zum Ziel zu gelangen, da brach der Wahnsinn mit ganzer Macht hervor und sie starb wenige Monate später im Gefängnisspital zu Irkutsk, ohne ihren Mann wieder gesehen zu haben, dem zu Liebe sie so vieles erlitten hat.

Ich habe mich auf eine flüchtige Skizzierung dieser entsetzlichen Tragödie beschränkt. Aber wenn der Leser diese 109 Geschichte, so wie ich, hätte von Verbannten erzählen gehört, die mit im Zuge waren, die sahen, wie der Geist dieser Frau umnachtete und die sie liebevoll pflegten, so würde sie ihm noch viel wehvoller klingen und er würde weniger über den Umstand staunen, daß die »Verschickung auf administrativem Wege« einzelne Terroristen macht, als darüber, daß nicht die ganze Nation dazu wird.

Ich könnte ganze Seiten füllen, wollte ich das traurige Schicksal von Leuten erzählen, die in den letzten zehn Jahren nicht nur ohne Recht, sondern überhaupt ohne Ursache nach Sibirien verschickt wurden. Der bekannte russische Novellist Wladimir Korolenko wurde im Jahre 1879 zufolge eines amtlichen Irrtums – den später die Regierung auch eingestand – nach Ostsibirien verschickt. Einflußreichen Freunden gelang es, diesen Irrtum aufzuklären und er durfte zurückkehren, noch ehe er seinen Bestimmungsort erreichte. Wütend über das Unrecht, das ihm geschehen und der vielen Leiden, die er ertragen mußte, weigerte er sich, Alexander III. bei seiner Thronbesteigung den HuldigungseidVon den politischen Verschickten wurde dieser Eid gefordert. Davon ist später noch ausführlicher die Rede. (A. d. Übers.) zu leisten und wurde deswegen nach der Provinz Jakutsk verschickt. Herr Borodin, ein bekannter Mitarbeiter der Zeitschrift »Vaterländische Jahresschrift« wurde nach Irkutsk verschickt wegen »gefährlichen und verderblichen« Inhalts eines Manuskriptes, das gelegentlich einer Hausdurchsuchung bei ihm gefunden wurde. Es war die Abschrift eines Aufsatzes über die Provinz Wiatka, den er der Redaktion der erwähnten Zeitschrift sandte und der bis dahin noch nicht veröffentlicht war. Herr Borodin mußte also im grauen Sträflingsrock mit dem gelben Viereck nach Sibirien, weil er einen Aufsatz schrieb, der vier Monate später in jener Zeitschrift erschien. Der Minister des Innern hatte ihn also verschickt, weil er ein »gefährliches und verderbliches« Manuskript besaß, das später die Censur in Petersburg als völlig harmlos zum Abdruck zuließ.

110 Ein gewisser Otschkin aus Moskau wurde im Jahre 1885 auf administrativem Wege nach Sibirien verschickt, weil er – wie der Haftbefehl lautete – verdächtig war »einen ungesetzlichen Standpunkt anzustreben.« Sein Verbrechen bestand, nicht amtlich gesprochen, darin, daß er eine Namensänderung beabsichtigte. Was ihn dabei eigentlich in den Verdacht brachte »einen ungesetzlichen Standpunkt anzustreben« hat er nie erfahren können.

Ein anderer Verbannter, den ich kennen lernte, Herr I., wurde einzig nur darum verschickt, weil er mit einem Herrn Z. befreundet war, den man der Teilnahme an einer politischen Verschwörung beschuldigte. Allein Z. wurde von den Gerichten für unschuldig befunden und freigelassen, während sein Freund I. auf administrativem Wege nach Sibirien verschickt wurde.

Ein anderer Fall! Ein junger Student, Namens Wladimir Sidorski – ich setze einen fingierten Namen her – wurde in Moskau an Stelle eines verdächtig gewordenen Herrn Viktor Sidorski verhaftet. All sein Protestieren und Erklären, daß er Wladimir und nicht Viktor heiße, war vergeblich; die Polizei mußte »Verschwörungen« entdecken und »Verdächtige« auffinden, sie hatte daher keine Zeit die Identität eines unbedeutenden Studenten festzustellen. »Etwas ist immer an der Sache,« dachte sie sich, »sonst wär' er nicht verhaftet worden. Das Klügste ist doch, man schickt ihn nach Sibirien.« Und so geschah es. Als der zugführende Offizier die Namen der Verbannten ausrief, schwieg Wladimir, als Viktor Sidorski genannt wurde. Ärgerlich rief der Offizier aus: »Viktor Sidorski, warum antwortest du nicht?« – »Weil das nicht mein Name ist, es gilt einen ganz anderen Sidorski.« – »Wie heißt denn du?« – »Wladimir.« –»Das ist einerlei!« bemerkte mit einer Gelassenheit der Offizier, strich den Namen Viktor von der Liste und setzte an dessen Stelle Wladimir.

Im Jahre 1874 wurde ein Student Namens Jagor Lazareff in einer südöstlichen Provinz Rußlands, wegen geheimer revolutionärer Propaganda verhaftet, vier Jahre lang in 111 Petersburg in Einzelhaft in Untersuchung gehalten und schließlich doch freigesprochen. Es wäre kein Wunder, wenn einer, den so viel Gewalt und Unrecht angethan wird, der Partei der Terroristen sich zuwendet; Herr Lazareff aber nahm nun wieder seine Studien auf und verhielt sich ganz ruhig. Er wurde später Rechtsanwalt und ließ sich in Saratow an der Wolga nieder, ohne von der Polizei irgendwie belästigt zu werden.

Eines Tages jedoch, es war im Sommer 1884, erschien plötzlich bei ihm ein Polizist mit der Weisung, er möge zum Gouverneur kommen. Herr Lazareff, der mit diesem Herrn recht gut bekannt war, begab sich unbesorgt zu ihm, wo er die trockene Mitteilung erhielt, daß er für die Dauer von drei Jahren nach Sibirien verschickt werde.

Herr Lazareff war ganz starr vor Schreck und Staunen. Endlich faßte er sich: »Darf ich, Excellenz, um den Grund fragen?«

»Den kenne ich nicht. Ich habe nur den Befehl vom Minister des Innern,« war die Antwort.

Nur der Vermittlung einflußreicher Bekannte in Petersburg hatte er es zu verdanken, daß ihm ein vierzehntägiger Aufschub bewilligt wurde, zur Ordnung seiner Angelegenheiten. Dann wurde er nach Moskau geschickt und verblieb dort bis zum nächsten Frühling im Etappengefängnis, da der letzte Transport für das betreffende Jahr bereits abgegangen war. Von hier aus richtete er an die Polizei die schriftliche Bitte, ihm den Grund seiner Verhaftung bekannt zu geben und erhielt darauf den kurzen Bescheid: »Sie werden in Ostsibirien unter Aufsicht der Polizei gestellt, weil Sie Ihr früheres verbrecherisches Treiben nicht eingestellt haben.« Das heißt also, er wurde ins Baikalgebiet verschickt, weil er angeblich »ein verbrecherisches Treiben« nicht einstellte, dessen er sich laut richterlichen Urteils gar nicht schuldig gemacht.

Während seiner Anwesenheit im Etappengefängnis zu Moskau, besprachen eines Tages mehrere politische Verbannte, darunter auch er, ihr Geschick. Der eine erzählte, man hätte bei ihm verbotene Bücher gefunden, der andere, er sei der 112 revolutionären Propaganda bezichtigt, ein dritter gestand, Mitglied einer geheimen Verbindung gewesen zu sein. Als sie Lazareff nach dem Grund seiner Verhaftung befragten, antwortete er, der wäre ihm unbekannt.

»Sie wissen nicht warum?« rief einer der Leidensgenossen aus. »Hat Ihr Vater nicht eine gescheckte Kuh?«

»Möglich,« antwortete er, »mein Vater hat viele Kühe.«

»Nun sehen Sie!« erklärte der andere sarkastisch. »Braucht's noch mehr? Dieser Grund ist doch genügend, um zwanzig Menschen zu verschicken!«

Am 10. Mai 1885 wurde Herr Lazareff von Moskau nach Sibirien verschickt und am 10. Oktober, nach 22 Wochen, gelangte er nach Tschita, jenseits des Baikals, wo ich ihn auch kennen lernte.

Die Quelle all des beispiellosen Unrechts, der rohen Brutalität und der tollsten »Mißverständnisse« und »Irrtümer«, welche die Geschichte der administrativen Verschickungen als Ausgeburt höllischer Phantasie erscheinen lassen, entspringt dem russischen Absolutismus, der keine Beschränkung der Exekutivgewalt, keine Verantwortung für ungesetzliche Maßregeln kennt. Den politischen Verbannten gegenüber hat der Minister überhaupt keine gesetzlichen Bestimmungen; und da er unmöglich alles zu prüfen imstand ist, was ihm zur Entscheidung vorgelegt wird, so muß er einen Teil seiner unverantwortlichen Macht auf Polizeileiter, Gendarmeriekommandanten, Gouverneure und andere Beamte übertragen. Diese geben wieder einen Teil an ihre Unterbeamten ab, wovon viele beschränkt, unwissend oder böswillig sind. Und solche Leute halten Untersuchungen, von welchen Leben und Freiheit der Bürger abhängig ist!

Der Theorie nach sollten alle Fälle, die politische Verbrechen oder administrative Verschickungen betreffen, von einem Kollegium überprüft werden, das aus dem Minister des Innern als Vorsitzenden, sowie drei seiner Beamten und zwei des Justizministeriums gebildet ist. In der Praxis jedoch unterbleibt 113 dies schon aus dem einfachen Grunde, weil der Minister keine Zeit dazu hat. Wie die russische Zeitung »Strana« mitteilte, wurden nur im Jahre 1881 nicht weniger als 1500 derartiger politischer Angelegenheiten von der kaiserlichen Polizeiabteilung verhandelt. Vieles wurde auf administrativem Wege erledigt, und wenn der Minister nur dem vierten Teil davon jene Aufmerksamkeit hätte widmen wollen, welche zu klarer Einsicht nötig war, so wäre ihm für etwas Anderes keine Zeit geblieben. Er unterzeichnete daher ungelesen die ihm vorgelegten Schriftstücke.

Wie leicht es in Rußland ist, das Signum eines hochgestellten Beamten für ein Schriftstück zu erhalten, beweist folgende Anekdote, die für wahr zu halten ich guten Grund habe. Ein Bureauvorstand der Provinzialverwaltung von Tobolsk rühmte sich einst seines Einflusses und wettete mit einem der Beamten, daß ihm der Gouverneur jedes Schriftstück beliebigen Inhalts unterschriebe, insofern es nur gestempeltes Papier in Aktenform sei. Die Wette galt und der Bureauvorstand gewann sie, denn der Gouverneur unterzeichnete das in Aktenform niedergeschriebene – Vaterunser.

Wieviel durch leichtfertige Signierungen verschuldet wurde, besonders in Fällen administrativer Verschickung, bekundet auch der Umstand, daß der liberale Minister Loris Melikoff nach seinem Amtsantritt im Jahre 1880 es für nötig hielt, eine Kommission zur Untersuchung der administrativen Verschickungen einzusetzen; sie sollte so viel wie möglich alle »Irrtümer«, »Mißverständnisse« und »Unregelmäßigkeiten« ordnen, gegen die nun die Opfer aus allen Teilen des Reiches hoffnungsvoll Protest erhoben. Man berechnete damals die Zahl der administrativ Verschickten und anderer politischer Sträflinge auf 2800. Bis zum 23. Januar 1881 hatte diese Kommission unter Vorsitz des Generals Tscherewin 650 Fälle politischer Häftlinge untersucht und beantragt, daß 328 Personen, also mehr als die Hälfte der Zahl der Untersuchten, sofort in Freiheit gesetzt und nach ihren früheren Wohnorten zurückbefördert werden sollen.

114 Das einzige Mittel, einem derartigen Zustand ein Ende zu machen, wäre, die Untersuchung politischer Vergehen der unverantwortlichen Polizei zu entziehen, um sie den Gerichtshöfen zu übergeben, und daß den Angeklagten das Recht der Verteidigung zugestanden werde. Davon will jedoch die Regierung nichts wissen. Die Moskauer »Adelsversammlung« richtete ein Bittgesuch dieses Inhalts an die Krone; es blieb erfolglos, ja es wurde sogar – wenn ich nicht irre – gar nicht beantwortet.

Vor dem Jahre 1882 wurden die Bestimmungen über politische Verbannte in Sibirien nur mittelst geheimer Rundschreiben des Ministers des Innern den Gouverneuren der Provinzen von Zeit zu Zeit mitgeteilt. Zufolge Wechsels der Personen und Systeme im Ministerium wurden diese Verhaltungsbefehle schließlich so widerspruchsvoll und schufen so viel »Irrtümer«, »Mißverständnisse« und »Unregelmäßigkeiten« zwischen Verbannten und Lokalbehörden, daß der Minister genötigt war, mit Genehmigung des Zaren am 12. März 1882 eine neue Vorschrift herauszugeben. Eine amtliche Kopie davon brachte ich aus Sibirien mit und sie liegt jetzt vor mir. Der Titel ist: »Vorschriften über Polizeiaufsicht.«

Das Wunderlichste dabei ist, daß die Regierung Verschickungen und Polizeiaufsicht nicht als Strafen für begangene Verbrechen betrachtet, sondern nur als Vorsichtsmaßregeln zur Verhinderung ihrer Ausführung. Der erste Paragraph lautet: »Polizeiaufsicht (wozu auch die Verbannung auf administrativem Wege gehört) ist ein Mittel, Verbrechen gegen die bestehende kaiserliche Ordnung zu verhindern; sie kann auf alle Personen sich erstrecken, die der gesellschaftlichen Ordnung gefährlich sind.« – Die Entscheidung, wer »der gesellschaftlichen Ordnung gefährlich« ist, liegt in den Händen der Generalgouverneure, der Gouverneure, der Polizei und diese beurteilen dabei weniger nach dem, was einer gethan hat, als nach dem, was er ihrer Meinung nach thun könnte. Es dürfte ihnen auch ein anderer Beschluß kaum möglich sein, da der Zweck der 115 administrativen Verschickung auf der Vorsicht beruht. Sie soll die That verhindern, indem sie die Meinung unterdrückt. Unter solchen Umständen müßten die »Vorschriften über Polizeiaufsicht« eigentlich betitelt sein: »Vorschriften über Privatmeinung,« und in diesem Sinne werden sie auch von der russischen Polizei gedeutet.

Die Behauptung, administrative Verschickung sei keine Strafe, sondern nur Vorsichtsmaßregel, ist eitel Wortetrug. Wenn eine fünfjährige Verbannung nach der Provinz Irkutsk keine Strafe ist, da muß das Wort »Strafe« in der russischen Rechtspflege eine gar wunderliche Bedeutung haben. Für Frauen oder Mädchen ist die Verschickung nach Sibirien sehr häufig ein Todesurteil.

Im Jahre 1884 wurde ein junges, schönes Mädchen, Sophie Nikitina, das in Kiew studierte, auf administrativem Wege nach einer entlegenen Provinz Ostsibiriens verschickt. Während des Weges zwischen Tomsk und Atschinsk, nachdem sie in der Winterkälte etwa 4800 Kilometer zurückgelegt hatte, erkrankte sie an Typhus, den sie sich in einer der Pesthöhlen, genannt Etappenhäuser, zugezogen hatte. Der Gefangenentransport wird von keinem Arzt begleitet und man schleppt die Erkrankten unbekümmert weiter, wie immer auch ihr Zustand und die Witterung ist, bis der Transport zum nächsten Gefängnisspital gelangt. Zwischen Tomsk und Irkutsk, in einer Distanz von mehr als 1600 Kilometer befinden sich nur vier dieser Krankenhäuser und so werden die Erkrankten oft zwei Wochen lang in Schlitten oder Telegas weiter geschleppt, wenn sie nicht in der Zwischenzeit sterben. Wie viel Tage Fräulein Nikitina in der Winterkälte krank auf der Straße zubrachte, weiß ich nicht; bald nach ihrer Ankunft im Gefängnisspital zu Atschinsk hauchte sie ihr junges Leben aus. Aber doch! welche Befriedigung muß dieses arme Wesen empfunden haben, das in einer schmutzigen Hütte 5000 Kilometer fern von der Heimat im Sterben lag, wenn sie bedachte, daß sie keine »Strafe« für ein begangenes Verbrechen erdulde, sondern daß diese 116 Verschickung nur eine Vorsichtsmaßregel der väterlichen Regierung sei, damit sie etwa nicht in Versuchung komme, zu thun, was für »die gesellschaftliche Ordnung gefährlich« ist.

Helene Machet starb in Moskau, kurz nach ihrer Rückkehr aus der vieljährigen Verbannung, und ihr Gatte Gregor Machet, ein begabter Schriftsteller, wurde auch administrativ verschickt. Dasselbe Schicksal traf den Fürsten Alexander Krapotkin, einen hochgebildeten Mann, geschickten Mathematiker und Astronom. Es geschah, weil er der Bruder des bekannten russischen Revolutionärs Fürst Peter Krapotkin war. Zehn Jahre verbrachte er in Sibirien und endete im Jahre 1886 in Tomsk durch Selbstmord.

Viktoria Gukofskaja, ein Kind von 14 Jahren, wurde 1878 von Odessa nach Sibirien verbannt und – erhängte sich in Krasnojarsk.

Ein auf administrativem Wege Verschickter Namens Bochim wurde im Jahre 1884 im Dorfe Amga wahnsinnig und tötete sein Weib, sein Kind und sich selbst.

Und angesichts dieser entsetzlichen Tragödien, denen ich noch manche beifügen könnte, wagt die russische Regierung zu behaupten, die Verschickung sei keine Strafe!

Ja, wenn damit noch der beabsichtigte Zweck erreicht würde, dann wäre es vom Standpunkt einer despotischen Regierung vielleicht erklärlich, aber dieser Zweck wird nicht erreicht, wie auch aus dem Bericht des Generalmajors Nikolai Baranoff, Gouverneurs der Provinz Archangel, an den Minister des Innern zu erkennen ist. Hier heißt es unter anderm:

»Zufolge Erfahrungen früherer Zeit und eigener Beobachtung bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß die Verschickung auf administrativem Wege, politischer Gründe wegen, den Charakter eher verdirbt als verbessert. Der Übergang von einem befriedigenden Leben zu einem entbehrungsvollen, von Geselligkeit zur Einsamkeit, von Thätigkeit zur erzwungenen Unthätigkeit wirkt so verderblich, daß diese Verbannten oft wahnsinnig werden und auch Selbstmord begehen. Es ist 117 dies die direkte Folge der außergewöhnlichen Verhältnisse, in welchen der Verbannte zu leben gezwungen ist. Bisher ist es noch nicht vorgekommen, daß ein auf administrativem Wege Verschickter bei seiner Rückkehr in die Heimat mit der Regierung versöhnt und von seinem Irrtum überzeugt war, daß er ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, ein treuer Diener des Zaren wurde. Dagegen kommt es oft vor, daß ein aus Irrtum oder administrativen Mißverständnisses wegen Verschickter erst an dem Verbannungsorte politisch unzuverlässig wird, teils durch den Einfluß anderer Verschickter, teils wieder aus Verbitterung. Ist jemand aber ein Feind der Regierung, so trägt seine Verbannung nur dazu bei, seine Feindschaft zu verschärfen, aus dem Theoretiker einen Praktiker, das heißt einen wirklich gefährlichen Menschen zu machen.«

Eine vollere Wahrheit, als diese Worte enthalten, ist wohl von einem höheren russischen Beamten noch nie verzeichnet worden, und um die Zweckmäßigkeit des Verbannungssystems zu kennzeichnen, könnte ich mich mit der Anführung dieses freimütigen Berichtes begnügen. Die Sache aber soll noch von einem andern Standpunkte aus betrachtet werden als von dem der Zweckmäßigkeit, vom Standpunkte des Rechts, der Humanität und der Sittlichkeit, und das soll im Nachfolgenden auch geschehen. Hier wollte ich hauptsächlich nur beweisen, in welcher leichtfertigen, rücksichtslosen und ungerechten Weise russische Bürger auf administrativem Wege nach Sibirien verschickt werden.

 


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