George Kennan
Sibirien
George Kennan

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2. Meine letzten Tage in Sibirien.

Minusinsk, wo wir unseren letzten Aufenthalt in Ostsibirien nahmen, ist ein aufblühendes Städtchen von etwa fünftausend bis sechstausend Einwohnern und liegt in dem fruchtbaren Thal des oberen Jenisei, ungefähr 3500 Kilometer von der Reichshauptstadt, und gegen 160 Kilometer von der Grenze der Mongolei entfernt. Sie liegt ziemlich auf demselben Breitegrad wie Liverpool und auf demselben Längegrad wie Kalkutta. Von St. Petersburg aus ist es in etwa zwanzig Tagen zu erreichen. Durch den Umstand, daß es weit südlich von der Hauptstraße des Überlandverkehrs liegt, wird es nicht häufig von fremden Reisenden besucht und zur Zeit unserer Anwesenheit war es selbst den Bewohnern des europäischen Rußlands nur oberflächlich bekannt. Für uns hatte es indes ein besonderes Interesse, teils weil es das größte und wichtigste archäologische und naturwissenschaftliche Museum Sibiriens enthält, teils wieder weil es einer Anzahl hervorragender russischer Liberaler und Revolutionären als Verbannungsort zugewiesen war.

Wir erreichten das Städtchen gegen halb sechs Uhr morgens. Die aus den Blockhäusern hier und dort aufsteigenden Rauchsäulen bewiesen, daß wenigstens einige Bewohner schon regsam waren. Doch die dichtschließenden Holzladen waren von den Fenstern noch nicht entfernt und deshalb auch nirgends 34 Licht zu erblicken. Die breiten Straßen lagen verödet; das ganze Städtchen zeigte jenes einsame verlassene Aussehen, das die meisten sibirischen Städte in früher Morgenstunde beim schwachen Schimmer des verblassenden Mondes bieten.

»Wohin befehlen Sie, daß ich fahre?« fragte der Kutscher, die Pferde anhaltend und sich auf seinem Sitze halb umwendend.

»Nach einem Hotel,« antwortete ich. »Es giebt doch hier ein Hotel? Gelt?«

»Eines war da,« antwortete er unsicher; »ob es noch besteht mag der liebe Himmel wissen. Wenn Euer Gnaden sonst keinen Bekannten zum Einkehren hier haben, wollen wir's versuchen.«

Wir waren mit Einführungsschreiben an verschiedene bekannte Bürger von Minusinsk ausgestattet und ich zweifelte nicht, daß wir in dem Hause des einen oder des andern herzlich und gastfreundlich aufgenommen würden; indes, es war ziemlich unschicklich und unangenehm, vor Morgengrauen ein Empfehlungsschreiben einem Herrn zu überreichen, den man just aus den Federn gejagt hat. So beschloß ich denn, wenn wir kein Hotel finden sollten, nach der Regierungspoststation zu fahren. Wir hatten zwar keinen legalen Anspruch, hier Obdach zu finden, da wir mit »freien« Pferden und ohne »Padarosnaja« fuhren, doch die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß die sibirischen Postmeister gegen eine entsprechende Vergütung gerne ein Auge zudrücken, wo es die strikte Ausführung gesetzlicher Vorschriften gilt.

Nachdem der Kutscher um drei oder vier Straßenecken gewendet hatte, hielt er vor einem großen, zweistöckigen Blockhaus nahe dem Innern der Stadt; hier, meinte er, »pflegte ein Hotel zu sein.« Er stieß gegen ein Hofthor und rüttelte daran, daß alle Hunde der Nachbarschaft rege wurden, und bald kam ein verschlafener, mürrisch dreinblickender Diener daher, der uns bedeutete, das sei kein Hotel, sondern ein Privathaus, und daß, wenn wir noch ferner in dunkler Nacht derart den Leuten an die Hausthüre schlügen, wir überhaupt kein Hotel mehr benötigen würden, weil wir von einem Polizisten 35 nach einem passenden Ort, nach dem Gefängnis, gebracht werden dürften. Das war nicht sehr ermutigend; doch unser Kutscher, nachdem er mit dem übelgelaunten Diener einige Komplimente mit umgekehrter Hand gewechselt hatte, fuhr uns nach einem anderen Hause, in einem anderen Stadtteil, wo er mit unverminderter Kraft an einem anderen Hausthor rüttelte und schüttelte. Der Mann, der hier erschien, sagte wohl, er hätte »Stuben für Ankommende«, doch leider waren schon alle »Ankommende« angekommen und die Stuben sonach alle besetzt. Er meinte, wir möchten es im Hause eines gewissen Soldatoff versuchen. Da nichts anderes übrig blieb, begaben wir uns zu Soldatoff, wo uns endlich im zweiten Stockwerk eines alten verwitterten Blockhauses ein großes, helles und dem Anscheine nach auch sauberes Zimmer zum Preise von anderthalb Rubel täglich, die Verpflegung inbegriffen, angeboten wurde. Gern nahmen wir diese Bedingungen an, befahlen unserem Kutscher, die Pawoska auszuleeren und das Gepäck hinauf zu bringen. Das nun aufgefundene Zimmer hatte keine Dielen, keine Fenstervorhänge, weder Waschtisch noch Bett. Aber zur Entschädigung dieser Mängel konnten wir uns an den Anblick eines bejahrten Oleanders erfreuen, der in einem grünen Kübel stand, an zwei Töpfen mit Geranium und an einem etwas schwindsüchtigen Epheu, der an einer Baumwollschnur schüchtern emporrankte, um sich in dem kleinen, unebenen Spiegel zu beschauen. Sobald unser Gepäck hereingebracht wurde, legten wir uns, so wie wir waren, angekleidet mit Pelzmütze, Pelzröcken und Filzschuhen auf den Fußboden nieder und schliefen ruhig bis nach zehn Uhr.

Kurz vor Mittag, nachdem wir die Kleider gewechselt und uns möglichst präsentabel gemacht, gingen wir aus, um einige Besuche abzustatten und einen Blick auf den Ort zu werfen. Wir hielten es nicht für klug, unsere Empfehlungsbriefe an die politischen Verbannten früher abzugeben, als wir uns über die Art und Weise ihrer Beziehungen zu den anderen Bürgern der Stadt vergewissert hatten und etwas Bestimmtes über 36 Charakter und Gesinnung des Isprawniks erfahren mochten. Wir suchten daher erst den bekannten sibirischen Naturforscher N. M. Martjanoff auf, den Gründer des Museums zu Minusinsk, an den wir ein Empfehlungsschreiben vom Herausgeber der »Östlichen Rundschau« in St. Petersburg hatten. Wir fanden Martjanoff in seinem kleinen Droguenladen, in der Nähe unserer Wohnung, eifrig beschäftigt, Heilmittel zusammenzustellen. Er begrüßte uns herzlich.

Das Museum zu Minusinsk, auf das alle gebildeten Sibirier jetzt berechtigt stolz sind, ist eine treffliche Illustration der Ergebnisse, die durch stete Hingabe an eine einzige Sache und beharrliche Arbeit bei ihrer Vervollkommnung zu erreichen sind. Es ist nach jeder Richtung hin eine Schöpfung des Herrn Martjanoff und stellt fast ausschließlich nur das Resultat seiner persönlichen Geschicklichkeit und seines Eifers dar. Als er im Jahre 1874 nach Sibirien auswanderte, gab es kein derartiges Institut in Sibirien, das halb lebende, halb tote Bergwerksmuseum zu Barnahul ausgenommen; und der Gedanke, durch das Zusammenstellen und Ausstellen geordneter Sammlungen von Pflanzen, Mineralien und archäologischen Überresten war selbst bei Fachleuten noch nicht aufgetaucht. Martjanoff, der den Doktortitel in Kasan erworben hatte, und dessen Specialwissenschaft die Botanik war, begann gleich nach seiner Ankunft in Minusinsk eine Sammlung anzulegen mit der Absicht, sie später einem Museum zu widmen. Er hatte weder Mittel noch Muße. Im Gegenteil, er war von seinem kleinen Droguenladen völlig abhängig und den größten Teil des Tages darin beschäftigt. Indem er jedoch seinen Schlaf kürzte, morgens sehr früh aufstand, gewann er täglich einige Stunden für wissenschaftliche Zwecke, und in dieser Zeit legte er ein Dutzend oder mehr gleichartige Sammlungen solcher Pflanzen und Mineralien an, die er sich bei einem einstündigen Gang in der Umgebung verschaffen konnte. Nachdem er die Arten klassifiziert und bezeichnet hatte, sandte er diese Sammlungen an die Schullehrer des Bezirks 37 Minusinsk mit dem Ersuchen, die Schüler zur Anlage ähnlicher Sammlungen in ihrer Gegend zu veranlassen und ihm dann die derart verschafften Exemplare zur Anlage eines Museums einzusenden. Lehrer und Schüler entsprachen pünktlich und gern dieser Aufforderung und in wenigen Monaten häuften sich im Droguenladen des Herrn Martjanoff Sammlungen von Pflanzen und Mineralien aus allen Teilen des Bezirks. Manches davon war natürlich ohne Fachkenntnis oder Unterscheidungsvermögen gesammelt und praktisch wertlos; einiges jedoch war recht wertvoll und selbst die wertlosen Dinge bekundeten wenigstens ein sympathisches Interesse und eine Bereitwilligkeit zum Mitwirken, und das nicht nur seitens der Schüler, sondern auch seitens derer Verwandten und Freunde. Indessen hatte Martjanoff ähnliche Sammlungen, nur größer und vollständiger, der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, verschiedenen russischen Museen, seiner eigenen alma mater, einigen Professoren der Naturwissenschaft an den großen russischen Universitäten eingesandt, mit dem Antrag, ihm dagegen entbehrliche Duplikate aus anderen Gegenden des Reiches zu schicken. In dieser Weise sammelte Martjanoff einzig nur infolge seiner rastlosen Thätigkeit im Verlauf von zwei Jahren gegen 1500 Gegenstände, hauptsächlich aus dem Gebiete der Naturwissenschaft, ferner eine kleine aber wertvolle Bibliothek von etwa hundert wissenschaftlichen Werken, wovon sonst wenige in Sibirien zu finden waren. Im Jahre 1876 schenkte er in förmlicher Weise die ganze Sammlung der Stadt Minusinsk für öffentliche Zwecke. Die Bewilligung der Behörde wurde erteilt, zwei Stuben eines Schulgebäudes der Aufstellung der Gegenstände eingeräumt und das Museum eröffnet. Von dieser Zeit an vergrößerte es sich rapid. Die gebildete Bevölkerung von Minusinsk verband sich zur Uuterstützung Martjanoffs; es kamen Beiträge an Büchern, anthropologischem Material, Lehrmitteln und Geld von allen Teilen der Stadt und des Bezirkes, auch von vielen Orten der Nachbarprovinzen.

38 Nachdem wir einen umfassenden, aber etwas hastigen Überblick über das ganze Museum gewonnen hatten, war Frost und ich der Meinung, daß die Abteilungen für Archäologie und Ethnologie am bedeutendsten und interessantesten wären, daß aber auch die andern Abteilungen viel Wertvolles böten und das Ganze seinem Gründer sowie der Stadt zur Ehre gereiche. Zur Zeit unseres Besuches füllte die Sammlung sieben Räume im Gebäude des Staatsrates und der Katalog wies 23 859 Nummern auf; die Bibliothek umfaßte etwa 10 000 Bände. Das alles war das direkte Resultat der Bemühungen einer einzigen Person, die anfangs nur wenig öffentliche Teilnahme oder Aufmunterung gefunden hatte, fast gar keine Geldmittel besaß und täglich zehn bis zwölf Stunden in einem Droguenladen ausharren mußte. Nach meiner Rückkehr aus Sibirien haben die Direktoren des Museums mit Hilfe von I. M. Sibirjakoff, Inokanti Kusnetsoff und einiger anderer wohlhabender und gebildeter Sibirier einen trefflichen beschreibenden Katalog der archäologischen Sammlung, mit einem Atlas lithographierter Abbildungen herausgegeben, und für das Museum und die Bibliothek einen geräumigen Bau mit 12 000 bis 15 000 Rubel Kosten errichtet. Katalog und Atlas, die von den archäologischen Gesellschaften verschiedener Hauptstädte Europas sehr schmeichelhaft beurteilt wurden, besitzen umsomehr Interesse, weil sie völlig das Werk politischer Verbannter sind. Der beschreibende Text, der fast zweihundert Oktavseiten füllt, rührt her aus der Feder des tüchtigen Geologen und Archäologen Dimitri Clements, der wegen »politischer Unzuverlässigkeit« im Jahre 1881 nach Sibirien verschickt wurde, während die Illustrationen für den Atlas von dem verbannten Künstler A. V. Stankewitsch gezeichnet wurden. Von den Verteidigern der russischen Regierung wurde immer und immer wieder behauptet, daß die sogenannten »Nihilisten«, die von der Regierung nach Sibirien verschickt werden, nichts anderes sind als «Malschischki« (grüne Jungen), »relegierte und durchgefallene Studenten«, 39 »halberzogene Schuljungen« und »verächtliche Juden«. Wenn jedoch die Direktoren des Museums zu Minusinsk die Dienste von Männern beanspruchen mögen, die die nötigen Kenntnisse haben, die schwierigsten archäologischen Fragen zu behandeln, Künstlern, die die nötige Geschicklichkeit haben, die in Grabhügeln gefundenen Gegenstände aufs genaueste bildlich darzustellen, so müssen sie sich an dieselben »Nihilisten«, »halberzogenen Schuljungen« und »grünen Jungen« wenden, die in den amtlichen Verlautbarungen, in den Reden der Staatsanwälte so verächtlich behandelt werden. Derartige falsche Darstellungen mögen vielleicht das Publikum draußen eine Zeitlang täuschen, können aber in Sibirien selbst niemanden beeinflussen. Die Sibirier wissen recht gut, daß dort, wo sie Ehrenhaftigkeit, Fähigkeit und Intelligenz suchen, sich nicht an die offiziellen Repräsentanten der Krone wenden müssen, sondern an die unglücklichen Juristen, Ärzte, Schriftsteller, Journalisten, Statistiker und Nationalökonomen, die wegen politischer Unzuverlässigkeit nach Sibirien verschickt wurden.

Nachdem wir das Museum verlassen hatten, besuchten wir in Begleitung des Herrn Martjanoff mehrere hervorragende Bürger der Stadt, darunter den Bürgermeister Litkin, Doktor Malinin, einen intelligenten Arzt, dessen Haus voll schöner Treibhauspflanzen ist, einen reichen jungen Kaufmann Namens Safianoff, der über die mongolische Grenze fort Geschäfte mit den Sojoten machte und der uns bei unserem Besuch der Katschinski-Tartaren begleiten wollte. Allein besuchte ich auch den Isprawnik, Herrn Snamenski, der jedoch nicht daheim war, weshalb ich meine Karte zurückließ. Gegen vier Uhr Nachmittag kehrten wir zu Soldatoff zurück, wo wir unsere Mahlzeit nahmen und dann den Rest des Tages größtenteils mit Schlafen verbringend, um derart das auf dem Weg Versäumte einzuholen.

Unser Ausflug nach den Ulus der Katschinski-Tataren wurde, wie projektiert, ausgeführt, doch zeigte er sich nicht so interessant wie ich vermutet hatte. Safianoff holte uns um 40 die neunte Morgenstunde in einem großen bequemen Schlitten ab und wir fuhren auf dem Flusse – teils über niedrige ausgedehnte Inseln – nach der Mündung des Abakan, und dann über eine glatte schneebedeckte Steppe den Ulus zu. Die Gegend war flach und kahl; sie wäre ganz interessant gewesen, ohne die immense Zahl von Grabhügeln und Monolithen, die die Landschaft, soweit das Auge reichte, bedeckten und unverkennbare Beweise für den archäologischen Reichtum dieser Gegend waren, aus der auch die Sammlung aus der Bronzezeit des Museums zu Minusinsk herrührte. Einige der aufrechtstehenden Monolithe waren vier bis fünf Meter hoch und einen Meter und darüber breit; sie mochten mit vielen Mühen hierhergebracht worden sein. Alle diese aufrechtstehenden Steine und die Grabhügel, wie auch die Bronzegeräte, die in den Gräbern gefunden und in den Feldern von Minusinsk ausgepflügt wurden, werden von den russischen Bauern einem vorgeschichtlichen Volke zugeschrieben, das sie Tschudi nennen. Fast in jedem Bauernhause im Thale des oberen Jeniseis werden die Kinder oder die Hausfrau auf die Frage nach »Tschudischen Sachen« drei oder vier Pfeilspitzen herbeibringen, oder einen Bronzegegenstand, der aussieht wie eine Scherenhälfte, oder ein eigenartiges Messer von Kupfer in der Form eines kurzen Bumerang mit der Schneide nach innen, wie bei einem Yatagan. Wir erreichten die Ulus der Katschinski-Tartaren gegen elf Uhr. Ich war enttäuscht als ich sah, daß der Ulus sich nicht wesentlich von einem russischen Dorfe oder von einer kleinen Ansiedlung halbcivilisierter Buriaten unterscheide. Die meisten Häuser waren Blockhäuser mit Giebeldächern in russischem Stil, mit Schornsteinen, Ziegelöfen und doppelten Glasfenstern. Die Bewohner erinnerten sehr an die amerikanischen Indianer, die ihre ererbten Gewohnheiten und Kleidungen abgelegt, das Joch der Civilisation auf sich genommen und sich in der Nähe eines Grenzdorfes oder einer Agentur als Bauern niedergelassen haben. Hie und da sah man wohl auch eine Jurte, deren achteckige Form 41 und kegelförmiges Dach aus Baumrinde an eine kirgisische Kibitka erinnerte und andeutete, daß die Ahnen der Erbauer Zeltbewohner waren. Mit Ausnahme dessen war nichts in oder bei der Ansiedlung, was sie von hundert anderen russischen Dörfern dieser Art unterschieden hätte. Von Safianoff geführt, der mit all diesen Tartaren bekannt war, betraten wir und untersuchten zwei oder drei der niedrigen achteckigen Jurten und eines der Giebeldachhäuser, doch wir fanden da wenig Interessantes. Russische Möbel, russische Speisen, russische Truhen, russische Samoware nahmen die Stelle der entsprechenden ursprünglichen Gegenstände ein und ich vermochte nichts zu finden, was als Kennzeichen tartarischen Geschmacks, als Rest tartarischer Vergangenheit hätte dienen können, eine Kinderwiege etwa ausgenommen, die die Form eines kleinen Eskimoschlittens hatte, mit querstehender, statt der Länge nach gehender Schaukel und eine höchst einfache Destillierblase. Diese wurde zum Destillieren eines als Arrak bekannten berauschenden Getränkes benützt und bestand aus einem großen Kupferkessel, der auf einem Dreifuß stand und mit einem dichtschließenden Deckel versehen war, aus dessen Spitze ein gebogenes Holzrohr heraussah, das als Kondensator oder Schlange diente. Der ganze Apparat war so roh wie möglich angefertigt, und das dünne, ätzende Getränk von übelm Aussehen und argem Geschmack, das damit gemacht wurde, war vielleicht nicht minder berauschend und tödlich, wie der giftige »Krötenstuhl« der wandernden Korjäken.S. »Zeltleben in Sibirien« (Univ.-Bibl. Nr. 2795/97, S. 155). Das Innere der von uns besichtigten tartarischen Wohnungen war so freudlos, düster, schmutzig, daß wir es vorzogen, unser Frühstück draußen vor der Thüre, auf dem Schnee zu nehmen. Während dessen überredete Safianoff einige der Tartarenweiber, ihre Festkleider anzulegen, und als das geschehen war, photographierte sie Frost. Der weibliche Typus der Katschinski-Tartaren zeigt sehr deutliche Ähnlichkeiten mit dem indianischen Typus, was 42 übrigens auch in der Kleidung zum Ausdrucke kommt. Alle Katschinski-Tartaren, die wir im Minusinsker Bezirk erblickten, würden zweifellos, wenn sie amerikanische Kleider trügen, in allen Ländern des Westens für Indianer gehalten werden. Ihre Zahl beträgt ungefähr zehntausend. Die meisten von ihnen sind auf der »Katschinski-Steppe« angesiedelt, einer großen weiten Ebene am linken oder westlichen Ufer des Jeniseis, oberhalb Minusinsk, wo das Klima gemäßigt ist, der Schneefall gering und wo für ihre Herden sowohl im Sommer wie auch im Winter vorzügliche Weiden vorhanden sind.

Spät nachmittags, als Frost mit dem Photographieren der Frauen dieser Ansiedlung zu Ende war – sie beeilten sich alle ihre Festkleider anzulegen, um »als Bild aufgenommen« zu werden – kehrten wir nach Minusinsk zurück, und ehe es dunkel geworden, erquickten wir uns mit Karawanenthee und plauderten von den Katschinski-Tartaren im Schatten unseres Epheus und Oleanders, in der Vorderstube des zweiten Stockwerks, im Hause Soldatoffs.

Glaube aber keiner, daß wir uns so sehr mit dem Museum, den archäologischen Überbleibseln und den Katschinski-Tartaren beschäftigt hatten, um darüber die politischen Verbannten ganz zu vergessen. Nichts weniger als das! Die Bekanntschaft dieser Verbannten zu machen, war ja der Hauptzweck unseres Besuches in Minusinsk und wir verloren ihn auch keinen Moment aus den Augen. Doch die Situation war damals eine besonders heikle, da, wegen der vor kurzem erst erfolgten Flucht eines politischen Verbannten Namens Masloff, alle strenger als gewöhnlich bewacht wurden. Der Provinz-Prokurator Skrinikoff und ein Gendarmerieoberst aus Krasnojarsk untersuchten damals die näheren Umstände der erwähnten Flucht, die Ortspolizei war natürlich durch die Folgen ihrer bisherigen Nachlässigkeit und durch die Anwesenheit dieser hohen Beamten zu besonderer Wachsamkeit angeregt, es war daher mir kaum möglich einen Verkehr mit den politischen Gefangenen anzuknüpfen, ohne daß nicht die Behörden davon 43 erfahren hätten. Unter solchen Umständen hielt ich es für nötig, mit größter Vorsicht vorzugehen, die Bekanntschaft mit den Verbannten nur derart anzuknüpfen, daß sie als ganz zufällig scheinen mußte. Bald erfuhr ich von Herrn Martjanoff, daß mehrere der Verbannten sich für das Museum lebhaft interessieren, beim Sammeln und Ordnen der Gegenstände sehr behilflich waren und sowohl das Museum, wie auch die Bibliothek häufig besuchen. Mit dieser Erfahrung hätte ich sehr einfältig sein müssen, um nicht zu erkennen, daß nun Archäologie und Anthropologie als meine Trümpfe zu gelten hätten, daß das Beste für mich wäre, diese Wissenschaften zu pflegen und ein lebhaftes Interesse für das Museum zu bekunden. Glücklicherweise war ich Mitglied der American Geographical Society zu Newyork und der Anthropological Society zu Washington und besaß auch einen genügenden Vorrat oberflächlicher Kenntnisse der Naturwissenschaften um über jeden ihrer Zweige mit Laien oder mit der Polizei plaudern zu können, wenn ich mich auch nicht zur Höhe eines Fachmanns gleich Martjanoff aufschwingen konnte. Ich besuchte daher nicht nur das Museum so früh wie möglich und zeigte ein besonderes anthropologisches Interesse an den Katschinski-Tartaren, sondern ersuchte auch Herrn Martjanoff, mir zu erlauben, einen Sojotenpflug, etliche Kupfermesser, Beile, Bronzespiegel auf unsere Stube zu nehmen, um sie dort mit Muße studieren und zeichnen zu können. Hier mußten sie natürlich von jedem mißtrauischen Beamten gesehen werden, wenn er uns just besuchte, und von ihm für die Zeichen des völlig unschuldigen und lobenswerten Charakters unserer Absichten und Bestrebungen betrachtet werden. Das Resultat unserer scheinbaren Hingabe zur Wissenschaft war, daß Martjanoff unsere Stube mit archäologischen und ethnologischen Gegenständen anfüllte und uns außerdem noch eines Tages den tüchtigen Geologen und Archäologen, den politischen Verbannten Dimitri Clements zum Besuch mitbrachte. Es war dies der Mann, an den ich ein 44 Empfehlungsrundschreiben von allen politischen Verbannten eines andern Teiles Ostsibiriens hatte, der Mann, dessen Biographie in Stepniaks »Unterirdischem Rußland« zu finden ist. Er war groß, stark, etwa vierzig Jahre alt, mit einem Kopf, der in jeder Volksversammlung Aufmerksamkeit erregen mußte, jedoch von den meisten Beobachtern mehr dem asiatischen als dem europäischen Typus zugerechnet werden mochte. Die hohe, kahle, starkentwickelte Stirne glich der eines europäischen Gelehrten und Denkers; die dunkelbraunen Augen jedoch, die gelbliche Hautfarbe, die vortretenden Backenknochen, die ziemlich platte Nase mit den weiten Nüstern erinnerten an die Züge eines Buriaten oder Mongolen. Lippen, Kinn und Umrisse des Unterkiefers wurden durch einen dunkelbraunen Kinn- und Schnurrbart verdeckt; aber der ganze Teil des Gesichtes von der Stirne abwärts konnte ebenso gut dem Mitgliede eines südsibirischen Stammes angehören.

Sobald ich mein Rundschreiben, das Zeugnis meiner Zuverlässigkeit aus dem Ledergürtel unter dem Hemde hervorholen konnte, wo ich alle gefährlichen Schriftstücke verbarg, die ich unterwegs brauchen konnte – übergab ich es Clements mit dem Bemerken, daß, wenn auch Martjanoff meine gesellschaftliche Empfehlung übernommen habe, so kann er doch als neuer Bekannter für meinen moralischen Charakter natürlich nicht verantwortlich gemacht werden, ich wollte mir daher erlauben, ihm meine Referenzen mitzuteilen. Clements las den Brief mit ernster Aufmerksamkeit, ging dann damit in eine Stubenecke, entzündete ein Streichhölzchen, womit er das Papier in Brand setzte, das er zwischen den Fingern hielt. Als es ganz verbrannt war, ließ er die Asche zu Boden fallen, zerstäubte sie und sprach dann zu mir gewandt: »Das ist das Sicherste, was man mit solchen Briefen beginnen kann.« Ich war derselben Meinung, obgleich ich die ganze Zeit nicht nur dergleichen Briefe bei mir führen mußte, sondern noch viel kompromittierendere und gefährlichere Schriftstücke. Nach einem halbstündigen Gespräch schlug Martjanoff vor, wir alle möchten 45 zu ihm zu einer Tasse Thee kommen. Es folgte allgemeine Zustimmung und wir verbrachten in Gesellschaft des Hausherrn und seiner Frau den Rest des Abends.

Am nächsten Morgen fand unser erster Zusammenstoß mit der Polizei von Minusinsk statt. Ehe wir noch aufgestanden waren, trat ein Offizier in Uniform bei uns ein, ohne Karte abzugeben, oder sich anmelden zu lassen und verlangte in recht barscher Weise unsere Pässe. Ich sagte, unsere Pässe wären am Tage unserer Ankunft zur Polizei geschickt worden und lägen noch immer dort.

»Wenn sie dort wären, so wüßte der Nadsiratel (Inspektor) davon,« antwortete er ziemlich dreist.

»Das zu wissen ist seines Amtes,« antwortete ich. »Er hat nicht jemanden herzuschicken, der uns stört, bevor wir aufgestanden sind. Wir sind lange genug im Reich, um zu wissen, was wir mit unseren Pässen anfangen müßten und wir senden sie stets auf die Polizeistation, wenn wir irgendwo anlangen.«

Mein herausforderndes und gereiztes Auftreten mochte den Beamten überzeugen, daß hier seitens der Behörde ein Irrtum oder Mißverständnis vorliege, denn er entfernte sich ziemlich verlegen. Doch in kaum zehn Minuten, – ich lag noch auf unserem gewöhnlichen Bett, dem Fußboden – erschien der Polizeiinspektor selbst, ein Mensch mit verdächtigem, pockennarbigem Gesicht, mit grünlichen verschmitzten Katzenaugen, der ohne Uniform leicht für einen besonders gefährlichen Verbrecher gehalten werden konnte. Er bemerkte, unsere Pässe wären nicht auf dem Polizeiamte, wären auch nicht dort gewesen und er müsse sie sofort haben. Überdies, meinte er, wäre er vom Isprawnik beauftragt, zu erfahren, »welcher Art Leute« wir wären, woher wir kämen, und was wir in Minusinsk zu thun hätten. »Sie haben hier Leute besucht,« sagte er, »ohne daß der Isprawnik etwas von Ihnen zu Gesicht bekommen hätte.«

»Wessen Fehler ist es, daß er noch nichts von mir zu Gesicht bekommen hat?« fragte ich heftig. »Ich besuchte ihn gestern, fand ihn nicht daheim und ließ daher meine Karte 46 zurück. Wünscht er zu wissen, welcher Art Leute wir sind, warum erwidert er nicht meinen Besuch höflicher Weise zur geeigneten Zeit, anstatt mich in früher Morgenstunde von einem Polizeibeamten, der unhöflich Fragen an uns richtet, wecken zu lassen? »Welcher Art Leute« wir sind, werden Sie vielleicht auch aus diesem ersehen.« Damit überreichte ich ihm die Empfehlungsschreiben des Ministers des Innern und des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten. Er überblickte sie rasch und fragte dann mit ganz verändertem Ton und Benehmen:

»Erlauben Sie, daß ich diese Papiere mitnehme, um sie dem Isprawnik zu zeigen?«

»Gewiß,« antwortete ich, »dazu sind sie auch bestimmt.« Er verneigte sich und zog sich zurück, während ich mich zum Hauswirt begab, um zu erfahren, was er mit unseren Pässen angefangen habe. Ich glaubte zu entnehmen, daß sie sogleich aufs Polizeiamt geschickt wurden, aber der Polizeisekretär hätte sie weder lesen, noch sonst etwas damit beginnen können, und in seiner Dummheit oder seinem Ärger sich geweigert, sie zu übernehmen. Da hatte sie der Wirt wieder heimgebracht und in seinem Speiseschrank sicher eingeschlossen. Nach einer halben Stunde kehrte der Polizeiinspektor mit meinen Papieren zurück, die er mir ohne Bemerkung zurückgab. Ich überreichte ihm nun mit einer kurzen Erklärung des Vorfalls die Pässe und dann schieden wir mit Blicken gegenseitigen Mißtrauens und Widerwillens. Es war uns beschieden, ihn bald darauf unter Umständen zu begegnen, die sein Mißtrauen und meinen Widerwillen nur verstärken konnten.

Unter Beistand Martjanoffs und Clements lernten wir im Verlauf der nächsten drei oder vier Tage fast alle im Ort befindlichen politischen Verbannten kennen, darunter einige der interessantesten und anziehendsten Leute, die ich je in Sibirien kennen lernte. Unter denen, mit welchen ich am vertrautesten wurde, befand sich der Gutsbesitzer Iwantschin Pisareff aus der Provinz Jaroslaw, Doktor Martinoff, ein Arzt aus Stawrapol, 47 Iwan Petrowitsch, Belokonski, ein junger Schriftsteller und Journalist aus Kiew, Leonidas Zebunoff, früher Student an der Universität zu Kiew, Fräulein Senaïd Satsagina und Dimitri Clements. Die Frauen von Doktor Martinoff und von Iwantschin Pisareff lebten bei ihren Gatten in der Verbannung; beide sprachen englisch und in ihren gastfreundlichen Häusern wurden wir so freundschaftlich aufgenommen und fühlten wir uns so heimisch, daß wir sie so oft wir's wagen konnten besuchten. Doktor Martinoff war ein reicher, gebildeter Mann und besaß als er verhaftet wurde ein großes Gut bei Stawrapol, im Kaukasus. Als er verschickt wurde, erhielt sein Gut einen vom Minister des Innern ernannten Verwalter und ihm selbst wurden nur zu seinem Lebensbedarf hundert Rubel monatlich ausgesetzt. Er stand nie in gerichtlicher Untersuchung, wurde nie in gesetzlicher Weise seiner bürgerlichen Rechte beraubt; und doch werde ihm auf Befehl des Zaren sein Besitz genommen und er mit Weib und Kind, auf administrativem Wege nach diesem entlegenen Teil Ostsibiriens verschickt. Anfangs wurde ihm auch nicht erlaubt seinen Beruf zu erfüllen, endlich aber erhielt er vom Minister des Innern dazu die Erlaubnis. Eines Abends im Dezember 1885, kurz bevor wir dort eintrafen, pochte ein Mann an Doktor Martinoffs Thür und meldete, ein Bauer aus einem nahen Dorfe wäre im Walde von einem Bären überfallen worden und so schrecklich zerfleischt und zerfetzt, daß es zweifelhaft sei, ob er mit dem Leben davon käme. Ein anderer Wundarzt war nicht im Orte und der Bote bat Doktor Martinoff, dem verwundeten Bauern zu helfen. In der späten Nachtstunde war es unmöglich, die Polizei um Erlaubnis zur Überschreitung der Stadtgrenze zu ersuchen; Doktor Martinoff ging daher ohne diese, in der Voraussetzung, er werde vor Tagesanbruch zurückgekehrt sein und die Dringlichkeit des Falls werde die Verletzung der Vorschrift entschuldigen. Er eilte mit dem Boten nach dem Nachbardorf, richtete die gebrochenen Knochen des Bauerns ein, verband seine Wunden, kurz rettete ihm das 48 Leben. Früh morgens kehrte er nach Minusinsk zurück im Glauben, niemand in der Stadt, außer seiner Frau, wisse von seiner zeitweiligen Abwesenheit. Der Isprawnik Snamenski erfuhr jedoch auf irgend eine Weise den Vorfall, und ein beschränkter, brutaler Formenmensch wie er war, meldete er dem Gouverneur der Provinz, General Pedaschenko, daß der politische Verbannte Martinoff die Stadt ohne Erlaubnis verlassen habe, und ersuchte um Instruktionen. Der Gouverneur bestimmte, daß der Schuldige verhaftet und eingekerkert werde. Daraufhin schrieb Doktor Martinoff dem Gouverneur folgenden Brief:

Minusinsk, 3. Dezember 1885.

Seiner Excellenz dem Gouverneur der Provinz Jeniseisk!

Am 3. Dezember 1885 wurde mir der Befehl Euer Excellenz bekannt gemacht, daß ich verhaftet und eingesperrt werde, weil ich die Stadt Minusinsk zeitweilig ohne Erlaubnis verlassen habe.

Ich halte es für meine Pflicht, Eure Excellenz zu erklären, daß ich das Weichbild der Stadt Minusinsk nur verlassen habe, um einem Kranken, der von einem Bären angefallen wurde, und dessen Leben ob der schweren Wunden und gebrochnen Glieder in höchster Gefahr war, den dringend nötigen ärztlichen Beistand zu leisten. Außer mir existiert in der Stadt kein Wundarzt, an den man sich in solchen Fällen wenden könnte. Meine Dienste wurden sofort beansprucht und im Hinblick auf den Eid, den ich als Arzt geleistet habe, hielt ich es für meine heilige Pflicht, mich noch in derselben Nacht, in der ich gerufen wurde, zu dem Verwundeten zu begeben. Ich hatte daher weder Zeit noch Gelegenheit, die Polizei von meiner beabsichtigten Abwesenheit zu verständigen. Außerdem enthält der mir vom Minister des Innern erteilte Erlaubnisschein nichts, was mir das Überschreiten der Stadtgrenzen verböte, wenn ich ärztlichen Beistand leisten müßte. Wenn ungeachtet dieser Erklärung Eure 49 Excellenz es für nötig finden, mich zur Verantwortung zu ziehen, so bitte ich Eure Excellenz, anzuordnen, daß gegen mich nicht das administrative Verfahren angewendet werde – was auch mit dem 32. Abschnitt der kaiserlich bestätigten »Verordnungen betreffs der Polizeiüberwachung« nicht übereinstimmen würde – sondern auf der in der »Bemerkung« bezeichneten Weise, die dem erwähnten Abschnitt folgt und anordnet, daß eine Person, die sich willkürlich von dem zugewiesenen Aufenthaltsort entfernt, regelrecht abgeurteilt werden soll. Damit derlei Mißverständnisse künftig nicht mehr vorkommen mögen, bitte ich Eure Excellenz, mir auf Grund des 8. Abschnittes der »Verordnungen betreffs der Polizeiüberwachung« die Erlaubnis geben zu wollen, zur Ausübung meiner ärztlichen Thätigkeit zeitweise das Weichbild der Stadt verlassen zu dürfen.

Sergius W. Martinoff.

Gouverneur Padaschenko fand sich nicht veranlaßt diesen Brief einer direkten Antwort zu würdigen, sondern schickte ihn dem Isprawnik Snamenski mit der lakonischen Randglosse: »Er soll abgeurteilt werden.« Natürlich kann ein »Verbrecher« in Rußland nicht erwarten, in weniger als einem Jahr, nachdem die Anklage erhoben wurde, abgeurteilt zu werden, und zur Zeit unserer Abreise von Minusinsk wartete der Angeklagte noch immer auf die Vorladung. Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten erfuhr ich aus Briefen von Sibirien, daß Doktor Martinoff zu weiteren fünf Jahren Verbannung verurteilt wurde. Ob ihm diese Ergänzungsstrafe zugesprochen wurde, weil er sich erkühnte, einem armen Bauern ohne Erlaubnis des Isprawniks das Leben zu retten, oder nur darum, weil sein Gebahren im allgemeinen das eines russischen Edelmannes war und nicht das eines kriecherischen Sklavens – das weiß ich nicht. Wenn das Ende der Verbannungszeit eines Verschickten naht, so werden die Lokalbebörden aufgefordert, einen Bericht über sein Betragen 50 abzustatten. Lautet dieser ungünstig, so werden noch ein bis fünf Jahre Verbannungszeit zugefügt. Vielleicht berichtete der Isprawnik, Doktor Martinoff sei »widerspänstig«, und sehr wahrscheinlich war er es auch. Sicherlich hatte er auch genug Anlaß dazu. Etwas, was ihn ganz besonders aufregen mußte, ereignete sich während meiner Anwesenheit. In den meisten sibirischen Strafansiedelungen ist nämlich eine administrative Verordnung in Kraft, wonach die politischen Verschickten verpflichtet sind, täglich, halbwöchentlich oder wöchentlich auf dem Polizeiamt zu erscheinen und ihre Namen in den Registern einzutragen. Die Absicht dessen ist sicherlich, die Flucht zu erschweren, indem die Verschickten genötigt sind, in kurzen Zwischenräumen bei der Ortsbehörde sich zu melden und gewissermaßen zu sagen: »Ich bin noch hier, ich bin nicht entflohen.« Und als Beweis, daß er nicht entflohen ist, läßt man ihm seinen Namen im Register einzeichnen. Es ist eine alberne Verordnung, die gegen die Flucht keine Gewähr bietet und nur geeignet ist, das Ehrgefühl der Verschickten zu demütigen, besonders wenn die Beamten zufällig brutale, trunksüchtige oder sonst verrohte Menschen sind. Und diese Verordnung schafft auch mehr Kummer und Entrüstung, als irgendeine des Verbannungsgesetzes.

Eines Morgens, ungefähr eine Woche nach unserer Ankunft in Minusinsk, saß ich just in Iwantschin Pisaroffs Haus, als Doktor Martinoff eintrat. Im ersten Augenblick erkannte ich ihn kaum. Sein Blick war erregt, sein Antlitz fahl, seine Lippen bebten – er kämpfte ersichtlich mit einer tiefen und starken Bewegung.

»Was ist geschehen?« rief Frau Iwantschin Pisaroff aus, indem sie auffuhr.

»Der Isprawnik hat Marie (seine Frau) befohlen aufs Polizeiamt zu kommen,« antwortete er.

Einen Augenblick konnte ich die Sache nicht verstehen und auch nicht begreifen, was ihn dabei so erregen mochte. Doch einige Worte der Erklärung machten mir die Sache deutlich. 51 Frau Martinoff sah nämlich stündlich ihrer Entbindung entgegen. Ich erinnerte mich nun, daß ich erst tags zuvor eine Einladung von Martinoff erhielt, den Abend bei ihm zu verbringen, und daß er mir dann mit einigen Zeilen abschrieb, weil seine Frau erkrankt wäre. Da nun zufällig der Tag war, an dem alle politischen Verbannten ihre Namen im Polizeiregister eintragen mußten, so war Doktor Martinoff zum Isprawnik gegangen und hatte ihm den Umstand erklärt, gesagt, daß sie nicht fähig wäre auszugehen und gebeten, sie zu entschuldigen. Der Isprawnik machte eine rohe Bemerkung über sie, die anzuhören dem Gatten sehr schwer fallen mußte, der aber Martinoff nichts zu erwidern wagte; er bemerkte auch, daß, wenn seine Frau nicht ausgehen könne, so vermöge sie natürlich auch nicht im Polizeiamt zu erscheinen. Das war Freitag Nachmittag, an demselben Tage, wo Martinoff mir schrieb, ich möchte nicht kommen, weil seine Frau krank wäre. Es zeigte sich indes, daß ihre Wehen nur vorübergehender Art waren, und auf den Rat ihres Gatten hin ging sie morgens vor dem Hause eine Zeitlang auf und nieder. Zufällig ging da der Isprawnik vorüber und sah sie. Er begab sich sofort aufs Polizeiamt und sandte einen Beamten zu Martinoff mit einer kurzen Zuschrift, worin er sagte, wenn sie fähig wäre auszugehen, so könne sie auch aufs Polizeiamt kommen. Sollte sie in einer kurzen bestimmten Frist nicht erscheinen, so wäre er genötigt, »die ganze Strenge des Gesetzes« gegen sie in Anwendung zu bringen. Das arme Weib hatte jetzt nur die Wahl zwischen der Gefahr auf dem Polizeiamte, in Gegenwart des Isprawniks und seines grünäugigen Assistentens ein Kind zu gebären, und zwischen der Gewißheit, es in einer Zelle des dortigen Gefängnisses zur Welt zu bringen. Würde es ihrem Gatten einfallen, sie zu verteidigen oder den Beamten, der sie verhaften kommt, Widerstand entgegen zu setzen, so würde er ganz einfach niedergeschlagen werden, und in eine Einzelzelle gebracht, um dann vielleicht durch ein Verbannungsdekret nach den arktischen Regionen von Irkutsk 52 gesendet zu werden, ganz von seinem Weibe getrennt, auf Grund der allgemeinen und sehr dehnbaren Beschuldigung des »Widerstands gegen die Behörde.« Die blöde Brutalität der Handlungsweise des Isprawniks war in diesem Falle noch ersichtlicher als sonstwo, weil Frau Martinoffs Verbannungszeit etwa noch vierzehn Tage betrug, worauf sie freigewesen wäre. Also nicht nur, daß ihr Zustand eine Flucht unmöglich gemacht hätte, es gab auch keinen vernünftigen Grund dazu. Viel früher, als sie von ihrer Entbindung genug gekräftigt gewesen wäre, um zu reisen, hätte es ihr freigestanden, sich wohin sie wollte zu begeben, doch den Isprawnik war das ganz einerlei. Eine gewisse administrative Verordnung gab ihm die Macht, eine zarte, feine, wohlerzogene Frau im Augenblick, wo sie Mutter werden sollte, aufs Polizeiamt zu schleppen – und er that es auch. Ich glaube, diese Handlungsweise war mehr noch die Folge einer stupiden, widersinnigen Formalität, als einer überdachten Böswilligkeit. Die Vorschriften und Regeln, die die Handlungsweise eines kleinen russischen Bureaukraten beherrschen – das gerade Gegenteil eines Menschens – heischten das zeitweise Erscheinen der politischen Verbannten auf dem Polizeiamt. Das Gesetz macht keine Ausnahme für Frauen, die unmittelbar vor ihrer Entbindung stehen, für Frauen, deren Verbannungszeit zu Ende geht, und der Isprawnik Snamenski handelte bei dieser Frau just so, wie er es einem Manne gegenüber gethan hätte, das heißt er folgte den Vorschriften mit einem stupiden, brutalen Außerachtlassen aller besonderen Umstände.

Die zwei Wochen, die wir in Minusinsk zubrachten, waren reich an Interesse und abenteuerlicher Aufregung. Der Isprawnik war offenbar trotz unserer Empfehlungsbriefe mißtrauisch gegen uns geworden und erwiderte unseren Besuch nicht. Der grünäugige Polizeiinspektor überraschte mich eines Tages im Hause des politischen Verbannten Iwantschin Pisaroff, worüber er seinem Vorgesetzten zweifellos Bericht erstattet hatte. Zuweilen schien es sogar als sollte mich 53 die ganze Wissenschaft nicht schützen. Es gelang mir indes, freundliche Beziehungen mit dem Gendarmerieobersten und dem Regierungsprokurator von Krasnojarsk anzuknüpfen. Ich erzählte ihnen offen alles von unserer Bekanntschaft mit Clements, Iwantschin Pisaroff und den anderen Politischen, als sei es selbstverständlich, daß ich mit ihnen aus Interesse für Archäologie und Anthropologie verkehren müsse. Ich gab mir im allgemeinen den Anschein, als mache es mir das größte Vergnügen, ihnen – dem Gendarmerieobersten und dem Prokurator – alles mitzuteilen, was ich in Minusinsk thäte und alle meine Erfahrungen mit ihnen auszutauschen. Was für Bericht über uns nach Petersburg geschickt wurde, ist mir unbekannt, indes er hatte kein übles Resultat. Wir wurden weder durchsucht noch verhaftet.

Auf das Anraten einiger Freunde hin beschloß ich, mich all meiner Notizbücher, Schriftstücke, Briefe von politischen Verbannten und was ich sonst noch an gefährlichen Papieren bei mir führen mochte, insofern zu entledigen, indem ich sie durch die Post an einen Freund in Petersburg schickte. Es schien mir höchst gewagt, ein solches Material dem russischen Postdepartement anzuvertrauen, doch meine Freunde versicherten mir, die Postbeamten in Minusinsk wären Ehrenmänner, die der Polizei sicherlich nicht verraten würden, daß ich ein derartiges Paket abgesendet habe; daß ferner wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden sei, es werde in St. Petersburg selbst geöffnet und untersucht werden. Meine Freunde meinten, die Gefahr, meine Papiere auf der Post zu verlieren, sei nicht annähernd so groß wie die Gefahr einer polizeilichen Untersuchung bei mir selbst. Das betreffende Material mochte wohl ein Gewicht von zwanzig Kilogramm haben; doch da die russische Post Pakete jeden Umfangs regelmäßig befördert, so konnte dieses Gewicht nichts Auffälliges bieten. Ein verbannter polnischer Zimmermann fertigte mir nun eine Kiste an, die nachts nach meiner Stube geschafft wurde, und ich legte dann das Ergebnis meiner Erfahrungen hinein, nachdem ich die 54 gefährlichsten Papiere in Buchdeckeln und in Hohlräumen kleiner Büchsen versteckt hatte. Dann nähte ich die Kiste sorgfältig in starke Leinwand ein, siegelte sie mit mehr als zwanzig Siegeln und adressierte sie an einen Freund in St. Petersburg, dessen politische Gesinnung keinen Verdacht erwecken konnte und dem daher, meiner Meinung nach, eine Postsendung nicht beanstandet werden mochte. Donnerstag morgens, eine halbe Stunde vor dem Abgang der halbwöchentlichen Post nach St. Petersburg, nahm ich die mit einem Oberrock bedeckte Kiste in den Hof hinunter, legte sie auf meinen Schlitten, band sie mit einem Strick fest und fuhr damit nach dem Postamt. Die Beamten stellten keine Fragen, wogen das Paket, gaben mir einen Empfangsschein und warfen dann die Kiste ohne weiteres zu einem Haufen anderer Poststücke, die ein Diener in großen Lederbeuteln unterbrachte. Ich warf einen letzten Blick noch darauf und verließ dann schweren Herzens das Postamt. Von dieser Zeit an wurde ich die Angst um die Papiere nicht mehr los. Das Paket enthielt das ganze Ergebnis meiner Arbeit über Sibirien, sein Verlust wäre mir daher unersetzlich gewesen. Als Woche um Woche verging, ohne daß ich etwas davon vernahm, fühlte ich mich stark veranlaßt, bei meinem Freunde telegraphisch anzufragen, ob er es erhalten habe. Doch da ich wußte, daß ein solches Telegramm die Gefahr nur noch vergrößern könnte, unterließ ich es.

In mancher Beziehung bedauerten wir es mehr Minusinsk verlassen zu müssen, als irgend einen Ort, den wir auf unserem Heimweg berührt hatten. Allein noch lag zwischen uns und St. Petersburg eine Entfernung von mehr als dreitausend Kilometer und wir mußten bestrebt sein das europäische Rußland noch vor Eintritt des Thauwetters auf den winterlichen Straßen zu erreichen. Donnerstag, am 4. Februar, nahmen wir daher Abschied von den politischen Verbannten Martjanoff, Safianoff und Doktor Malinin, die sich uns besonders freundlich erwiesen hatten, und machten uns auf 55 einer Troika mit »freien« Pferden auf den Weg nach der beinahe fünfhundert Kilometer entfernten Stadt Tomsk. Anstatt den Jenisei bis nach Krasnojarsk zurückzuverfolgen, was uns weit vom Weg abgebracht hätte, entschlossen wir uns, den Fluß eine kurze Strecke unterhalb Minusinsk zu verlassen und für eine kurze Zeit die Steppe durchquerend, direkt gegen Tomsk zu fahren, wobei wir stets die große sibirische Heerstraße zu unserer Rechten hatten. Es ereignete sich bis spät abends nichts Bemerkenswertes. Als wir aber da vom Flusse ablenkten, um in ein Dörfchen zu fahren, dessen Namen ich bereits vergessen habe, wurden unsere Pferde durch das plötzliche Erscheinen eines wild aussehenden Mannes, der in einen langen, zerschlissenen Schafpelz gehüllt war, aufgeschreckt. Er sprang hinter einem Felsvorsprung hervor, stieß einen rauhen, unverständlichen Warnungsruf aus und schwenkte in der Luft ein Bündel brennender Birkenrinde und Stroh.

»Was ist los?« fragte ich unseren Kutscher, als unsere Pferde erschrocken zurückbäumten.

»Der Pestwächter,« antwortete er. »Er sagt, wir müßten geräuchert werden.«

Im Thale des oberen Jenisei herrschte damals die Rinderseuche und die Bauern dieses Dorfes hatten ringsum einen Pestkordon aufgestellt, in der Hoffnung, dadurch ihren Viehbestand vor der Ansteckung zu schützen. Sie hatten etwas von dem Nutzen einer Räucherung vernommen und unterwarfen nun diesem Prozeß jedes Fuhrwerk, das die Grenzen des Dorfes überschritt. Der »Pestwächter« verbrannte nun Stroh, Birkenrinde und andere brennbare und Rauch erzeugende Substanzen ringsum und unter unserer Pawoska, bis wir halb erstickt waren und unsere Pferde aus Furcht scheu wurden. Dann sagte er uns ganz ernst, daß wir »gereinigt« wären und weiterfahren könnten.

Freitag, einen Tag nach unserer Abfahrt von Minusinsk, wurde das Wetter kalt und stürmisch. Nachdem wir den 56 Jenisei verlassen hatten, wurde die Straße sehr schlecht und überdies überfiel uns spät abends, auf einer großen, öden Ebene etwa 40 Kilometer westlich des Jeniseis und 170 Kilometer von Minusinsk entfernt, ein heulender arktischer Schneesturm. Die Straße war bald von Triebschnee verweht und es gab da keine Hecken oder Telegraphenstangen, die den Weg bezeichnet hätten. Wir konnten nicht schneller als im Schritt vorwärts kommen und alle drei- bis vierhundert Meter mußten wir absteigen um unsere Pawoska aus den Schneewehen herauszuziehen. Etwa eine Stunde nach der Abenddämmerung irrten wir ganz vom Wege ab und kamen in ein Labyrinth von Schneetreiben und engen Schluchten, so daß wir wenig oder gar nicht vom Flecke kamen und schließlich unsere Pferde unter Ausschlagen sich weigerten, weiter zu gehen. Vergeblich wechselte sie unser Kutscher um, schirrte sie hintereinander, schmeichelte, fluchte, hieb auf sie ein. Sie waren sich völlig bewußt von der Straße abgewichen zu sein und daß es nutzlos wäre, ohne Ziel die ganze Nacht auf der Schneefläche herumzuirren. Der Kutscher jammerte: »Ak Boschemoi, Boschemoi!« (Ach, mein Gott, mein Gott!) und flehte zu seinem Schutzpatron, ihm mitzuteilen, wodurch er eine solche Strafe verdient habe; zuletzt jammerte und weinte er wie ein Schuljunge in seinem Zorn und seiner Mutlosigkeit. Endlich schlug ich ihm vor, es wäre das Beste, wenn er uns am Platz ließe und eines der Pferde bestiege, um somit die Straße ausfindig zu machen; daß er sich nach dem nächsten Ort begäbe und von dort mit Leuten, Laternen und frischen Pferden wiederkäme. Er that es, und Frost und ich blieben in der halbverdeckten Pawoska allein auf der Steppe zurück, hungrig. müde und durchfroren bis auf die Knochen, um dem Heulen des Sturmes zu horchen und nachzudenken, ob es unserem Kutscher in der Dunkelheit und in solchem Wetter gelingen werde, eine menschliche Wohnstätte aufzufinden. Die lange bange Nacht ging schließlich vorüber, der Sturm legte sich ein wenig und bald nach Tagesanbruch kam unser Kutscher 57 mit Stricken, Hebebäumen, drei frischen Pferden und einem Bauernknecht aus dem nächsten Dorfe. Sie befreiten uns bald aus unserer Lage, wir fuhren fort und erreichten in den Vormittagsstunden die kleine Ansiedlung Ribalskaja. Hier stiegen wir aus unserer Pawoska, in der wir vierzehn Stunden lang auf einer öden Steppe, ohne Schlaf, Speise und Trank, einem Wintersturm ausgesetzt waren. Als wir uns in einer Bauernstube mit heißem Thee erwärmt und erquickt hatten, aßen wir zum Frühstück was uns geboten werden konnte, und schliefen dann zwei, drei Stunden auf einer Holzbank, um endlich unseren Weg mit frischen Pferden und einem anderen Kutscher fortzusetzen.

Eine Überlandfahrt im Winter, von der Grenze Ostsibiriens bis nach St. Petersburg ist häufig schon von englischen und amerikanischen Reisenden ausgeführt und beschrieben worden, daß es mir unnötig scheint, bei ihren Beschwerden, Entbehrungen und kleinen Abenteuern zu verweilen. Wir erreichten Tomsk bei einer Temperatur von dreißig Grad unter Null, am fünften Tag nach unserer Abfahrt von Minusinsk, erneuten hier unsere Bekanntschaften im Kreise der Verbannten, erzählten ihnen die neuesten Nachrichten von ihren Freunden in Transbaikalien und Kara und setzten dann unsere Heimfahrt fort. Am 22. Februar – Washingtons Geburtstag – erreichten wir Omsk, wo wir einen Tag rasteten und ruhten und schlugen dann den sogenannten »Kaufmannsweg« nach Tobolsk ein. Wieder wurden wir in der Umgebung von Omsk durch den Anblick von Kameelen überrascht. Daß es im Sommer hier Kameele gäbe, davon hatten wir uns natürlich schon überzeugt, wir hatten aber nie gedacht, daß sie auch im Winter fortkämen, waren daher nicht wenig erstaunt, als wir im Mondschein einer kalten Nacht drei oder vier Kameele kirgisische Schlitten ziehen sahen.

Hinter Omsk begegneten uns riesige Frachtschlitten, deren Bauart uns neu war, die mit sechs oder acht Pferden bespannt und mit Waren für die Messe von Irbit beladen waren. Einige waren so hoch wie der Giebel einer 58 Dorfhütte und besaßen oben einen Kasten, wo der Kutscher, der Händler und sein Schreiber Platz genommen. Die große Jahresmesse von Irbit in Westsibirien steht an Bedeutung der weltberühmten Messe von Nischni-Nowgorod nach; sie wird von Kaufleuten und Händlern aus den fernsten Gegenden Nordasiens besucht. Die Frachtschlitten, die gegen Ende des Winters zahlreich dahin fahren und von dort kommen, zerfahren die Straßen in der Umgegend von Tjumen und Tobolsk derart, daß sie wegen ihrer tiefen Gleise, Höhlungen und langen, gefährlichen Hügeln fast unbenutzbar werden. Trotz der weiten Spreizen unsers Schlittens, warfen wir auf dieser Strecke zweimal um; einmal wurden wir in unserer gestürzten Pawoska einen langen steilen Hügel hinabgeschleift und arg durchschüttelt und zerschunden, bevor es uns gelang, uns aus dem Pelzsack zu befreien und herauszukriechen. Ruhe und Schlaf waren auf einem solchen Wege natürlich unmöglich und ich hatte bald Grund, über Frosts Gesundheitszustand ernstlich besorgt zu sein. Er war ruhig und geduldig, ertrug Leiden und Entbehrungen mit außergewöhnlicher Stärke, und ließ nie eine Klage laut werden. Doch nichtsdestoweniger ward mir klar, daß er allmählich, unter dem Drucke von Schlaflosigkeit, Rütteln, Furcht vor Gefangennahme zusammen breche. Als wir am 28. Februar Tobolsk erreichten und in dem kleinen Blockhaus-Hotel, das man uns empfohlen hatte, die schweren Pelze ablegten, war ich über sein Aussehen sehr erschrocken. Wie ernst sein Zustand war, läßt sich aus dem Umstand ersehen, daß er um Mitternacht geräuschlos zu mir hinkroch und mir mit heiserer Stimme ins Ohr flüsterte: »Sie wollen uns ermorden!« Ich war so überrascht und bestürzt, daß ich meinen Revolver, der unter dem Kissen lag, hervorriß und spannte, ehe ich noch soweit ermuntert war, um die Situation zu erkennen und zu sehen, daß Frost infolge dauernder Schlaflosigkeit sich in einem hochgradigen, nervösen Fieber befand und die vermuteten Mörder nichts anderes als ein Wahngebilde waren.

59 Im Verlauf des nächsten Tages nahm ich in Tobolsk unter Führung des Polizeichefs eine höchst überflüssige Besichtigung zweier Gefängnisse vor, wo sich nichts Bemerkenswertes zeigte. Ich besichtigte auch den Glockenstuhl, wo der erste sibirische Verbannte hängt: die berühmte Glocke von Uglitsch, die 1593 auf Befehl des Zaren Boris Gudenoff nach Sibirien verbannt wurde, weil sie das Zeichen zum Aufstand bei der Ermordung des Kronprinzen Dimitri gegeben. Die verbannte Glocke wurde von diesem Verbrechen wieder freigesprochen, erhielt die kirchliche Weihe und ruft jetzt die orthodoxen Gläubigen von Tobolsk zum Gebet. Die Bewohner von Uglitsch haben sich jüngst wieder bemüht, ihre Glocke zurückzubekommen, mit dem Bemerken, daß die Glocke für ihre »politische Unzuverlässigkeit« im Jahre 1593 durch eine dreihundertjährige Verbannung genügend bestraft sei, und sie wird jetzt vielleicht die Erlaubnis zur Heimkehr erhalten.

In später Nachmittagsstunde besuchte ich noch eine kleine Anhöhe im Osten der Stadt, wo ein Monument zu Ehren Jermaks, des Eroberers von Sibirien steht. Dann kehrte ich in den Gasthof zurück, bezahlte unsere Rechnung, bestellte Postpferde und fuhr nach Tjumen, wo wir am nächsten Tage anlangten.

Eine Woche Rast in Tjumen, genügender Schlaf und reichliche Nahrung, nebst anregender Gesellschaft englischsprechender Leute, stellten Frosts Kräfte bald wieder her, sodaß wir es am 9. März wagen konnten, mittelst Eisenbahn nach St. Petersburg zu fahren. Wie angenehm es uns war in einem behaglichen Eisenbahnwagen schnell dahinzurollen, kann nur der ermessen, der in einem Fahrzeug ohne Federn tausende Kilometer auf sibirischen Landstraßen zurückgelegt hat.

Wir erreichten die russische Hauptstadt am 19. März. Sobald ich Frost und unser Gepäck in einem Hotel untergebracht hatte, nahm ich eine Droschke und fuhr zu meinem Freunde, den ich die Kiste mit den wertvollen Schriften gesandt hatte. Mit pochendem Herzen zog ich die Schelle und gab dem Diener meine Karte. Bevor mein Freund erschien befand ich mich in einer fieberartigen Erregung und Angst. Angenommen, 60 die Kiste wäre von einem Postbeamten oder Polizeibeamten geöffnet worden und ihr Inhalt mit Beschlag belegt – was wäre mir da von der Arbeit und den Mühen eines Jahres übrig geblieben? Wie viel von allem, was ich gesehen und gehört hatte, war mir in Erinnerung noch geblieben? Was sollten mir auch Aufzeichnungen ohne Namen, Daten und all die genauen Einzelheiten nützen, die einer Erzählung erst das Wahrheitsgepräge verleihen?

Ruhig und mit gleichmütiger Miene trat mein Freund in die Stube, als hätte er nie etwas von einer Kiste mit Schriften gehört. Mein Herz sank. Ich hatte erwartet, die Kiste auf seinem Antlitz zu erblicken. Ich weiß nicht mehr, ob ich der Freude des Wiedersehens Ausdruck gab, ob ich Fragen über sein Wohlbefinden stellte. Für einen atemlosen Moment war er mir nichts anderes als der Hüter meiner Kiste. Ich glaube, er fragte mich, wann ich angelangt wäre und bemerkte, daß er Briefe für mich habe. Doch genau ist mir in Erinnerung, daß ich, nachdem ich eine Weile mit mir selbst gekämpft hatte, bis ich ohne ersichtliche Aufregung sprechen konnte, einfach die Frage an ihn richtete. »Haben Sie eine Kiste von mir erhalten?«

»Eine Kiste?« wiederholte er fragend. Wieder sank mein Herz. Sicherlich hatte er sie nicht erhalten!

»Ja!« rief er plötzlich aus mit aufleuchtendem Verständnis. »Eine große viereckige Kiste in Packleinwand. Ja, die ist hier!«

Man sagte mir später, es wäre in diesem Augenblick in dem trüben Märzwetter von St. Petersburg kein Wechsel eingetreten; doch ich bin überzeugt, daß wenigstens vier Sonnen der größten Art, die den Astronomen bekannt sind, plötzlich durch die Fenster meines Freundes zu scheinen begannen, und daß ich den Gesang der Rotkehlchen und Feldlerchen des ganzen Newski-Prospekt hörte.

Ich schickte die kostbaren Schriftstücke durch einen Sonderboten über die Grenze, um die Gefahr einer möglichen Durchsuchung meiner Sachen an der Grenze zu vermeiden und vier Tage später waren Frost und ich in London.

 


 


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