Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Unsere Verbindungen einerseits mit Regierungsbeamten, andererseits mit politischen Verschickten, brachte uns zuweilen manche Verlegenheiten.
190 Kurz vor unserer Abfahrt von Tomsk, saßen just in unserer Stube im »Hotel Europa« der bereits erwähnte Wolkhofski und sein Genosse Tschudnofski, als der Diener Seine Excellenz, den Wirklichen Staatsrat, zur Zeit Gouverneurstellvertreter, Petukoff anmeldete.
Ich wußte nicht was anfangen vor Verlegenheit! Wie die Beziehungen zwischen diesem Herrn und den politischen Verschickten waren, war mir fremd. Wir hatten ihn einigemal besucht, ohne jedoch unsere Bekanntschaft mit den »Politischen« zu erwähnen, wie wir überhaupt im Verkehr mit russischen Beamten gegen diese Art Gefangene uns ganz gleichgültig stellten, um jeden Verdacht, jedes lästige Ausforschen zu vermeiden. Und nun sollte der Gouverneur selbst an unserem Tische zwei der hervorragendsten Verbannten bei einer Schreibarbeit finden! Kaum konnte ich an die beiden die Frage richten, ob sie es für ratsam fänden, daß ich sie dem Gouverneur vorstelle, als auch schon der Betreffende in voller Uniform eintrat. Im ersten Augenblick schien er ob unserer Besucher ganz erstaunt zu sein, doch, das Überkleid ablegend, hatte er sich schon gefaßt und nichts in seinen Mienen ließ Befremden oder Verdrossenheit erkennen, als er mit zum Gruß ausgestreckter Hand auf uns zutrat. Auch den beiden zu Zwangsarbeit Verurteilten reichte er freundlich die Hand und begann das Gespräch in einer Weise, daß auch jene daran sich beteiligen konnten. In fünf Minuten plauderten alle wie alte Bekannte. Eine sonderbare Gesellschaft! Ein Journalist aus Amerika, ein Künstler von demselben Erdteil, zwei politische Verschickte, die bereits zu Einzelhaft, Ketten und Zwangsarbeit verurteilt wurden, und endlich der höchste Provinzialbeamte jener Regierung, die beide verurteilt hat; und diese alle ließen hier verschiedene Bedenken beiseite und unterhielten sich in höflicher Ungezwungenheit. Ich weiß nicht, ob der Gouverneurstellvertreter dem Minister des Innern Mitteilungen bezüglich unseres Verkehrs mit politischen Verbannten machte, aber es dünkt mich nicht wahrscheinlich. Ich schätzte 191 ihn als einen Mann, der seinem Fürsten zwar ganz ergeben war, der aber dabei auch Vernunft und Bildung genug hatte, um einzusehen, daß unter den politischen Verbannten auch Männer sich befinden, die mit Wissen und Charakter zu sehr hervorragten, als daß sie den fremden Reisenden nicht interessieren sollten.
Zur Zeit unserer Anwesenheit in Tomsk befanden sich hier ungefähr dreißig politische Verschickte, sechs oder acht Frauen inbegriffen. Einige von ihnen waren auf administrativem Wege verschickt worden und erst vor kurzer Zeit aus Rußland angelangt, andere wieder waren Strafkolonisten, die erst nach den entlegensten Teilen Sibiriens verbannt waren und die später, wo ihre Gesundheit schon vernichtet war, die Erlaubnis erhielten, in einer günstiger gelegenen Gegend Aufenthalt zu nehmen. Einige wieder waren von jenen »193« die viele Jahre in den Kasematten der Petropawlowskfestung eingekerkert und dann nach den Steppen Westsibiriens verschickt wurden.
Mich wunderte es nicht wenig hier zu hören, daß administrative Verschickte erst nach langem Aufenthalt in den Eisgefilden Jakutsk hierher gelangten.
»Ist es möglich,« sprach ich zu einem, »daß Sie als administrativ Verschickte nach der ärgsten Gegend Ostsibiriens ziehen mußten? Ich glaubte nach der Provinz Jakutsk werden nur gefährliche politische Verbrecher und aufrührerische Strafkolonisten verschickt.«
»Die Sache ist so und doch auch anders,« antwortete er. »Die administrativ Verschickten werden wohl gewöhnlich nach Westsibirien verbannt, aber es kommt dann häufig vor, daß sie nach Jakutsk müssen. Ich selbst wurde erst auch nach Westsibirien verschickt, kam aber im Jahre 1881 in die Provinz Jakutsk, weil ich dem Zaren Alexander III. den Huldigungseid nicht leisten wollte.«
»Fordert denn die Regierung, daß jene, die wegen Verrats verurteilt, einen Eid der Treue leisten sollen?«
192 »Sie fordert es. Und weil ich diesen Eid nicht leisten konnte, nicht wollte, wurde ich in eine »Ulus«, in eine elende Jakutenansiedlung verbannt.«
»Ich begreife nur nicht wie die Regierung diese Forderung stellen kann.«
»Sie fordert noch mehr. Ich sollte auch schwören, daß ich alles, was mir über die revolutionäre Bewegung bekannt sei, angebe, daß ich also, deutlicher gesagt, meine Freunde verraten sollte. Das hätte ich nie thun können, auch dann nicht, wenn mich die Verschickung in einen treuen Unterthan des Zaren verwandelt haben würde.«
Im Laufe dieses Gespräches erfuhr ich, was mir bis dahin unbekannt war: daß im Jahre 1881, als Zar Alexander III. zur Regierung kam, von allen auf administrativem Wege Verbannten der Huldigungseid gefordert wurde. Ein ganz unsinniges Verlangen, daß Personen, die wegen Untreue gegen den Zaren Alexander bestraft wurden, seinem Nachfolger Treue schwören sollten. Und doch glaubte der Minister des Innern, daß es geschehen könne, oder stellte sich wenigstens so, als glaube er's, um die Verweigerung als Handhabe zur Verschärfung der Strafe zu benutzen. Wenn ein verbannter »Verbrecher« sich weigert anzuerkennen, daß er unrecht gehandelt habe, so mag dies wohl kein Grund sein, ihm die Strafe zu verkürzen, aber es ist auch kein Grund seine Strafe zu verschärfen. Waren diese Leute keine Hochverräter, so durften sie nicht verschickt werden, galten sie dafür, so war es höchst unsittlich und ungerecht sie zu nötigen zwischen Meineid und Aufenthalt in einer erbärmlichen Jakutenhöhle zu wählen. Und wie viele, die keines neuen Verbrechens beschuldigt werden konnten, wurden nach jenen Eisregionen verschickt, einzig nur, weil sie einen Eid nicht leisten wollten, der mit ihrem Gewissen nicht zu vereinbaren war.
Einer dieser Unglücklichen war der talentvolle Novellist Wladimir Korolenko. Dreimal wurde er schon verschickt – einmal davon infolge eines»Irrtums« der Behörden – und 193 nun sollte er sich lebendig begraben lassen, das heißt nach der Provinz Jakutsk verschickt werden, weil er seine Freunde nicht verraten mochte, weil er nicht küssen wollte die Hand, die ihn so schwer getroffen, weil er nicht schwören konnte ein getreuer Unterthan des »Gesalbten des Herrn« Zars Alexander III. zu sein.
Damit keiner wähne, ich übertreibe es, wenn ich den Aufenthalt in einem Jakutenulus mit einem Begrabenwerden bei lebendigem Leibe vergleiche, will ich diesen mit den Worten schildern, die ein gut unterrichteter, unbefangener Russe dafür gebrauchte. Es war im Anfang des Jahres 1881, als in Rußland der liberale Minister Loris Melikoff berufen wurde und ein Stückchen Preßfreiheit gewährt wurde; in dieser Zeit nun veröffentlichte der bekannte Schriftsteller S. A. Priklonski, der eine Zeitlang dem Gouverneur der Provinz Olonets zugeteilt war, in der liberalen, bald darauf auch unterdrückten Zeitung »Semstwo« einen umfangreichen und sorgfältig gearbeiteten Aufsatz über »Verschickung auf administrativem Wege«. In diesem Aufsatz, der vor mir liegt, schildert der Verfasser das Leben der Verbannten in den Jakutenulus wie folgt:
»Es existiere in der Provinz Jakutsk eine Art der Verschickung, strenger und barbarischer als das russische Publikum glauben könnte: es ist die Verbannung in die »Ulus«. Auf administrativem Wege Verschickte werden in die weitzerstreut liegenden Jakutenhütten einzeln untergebracht. Eine jüngst erschienene Nummer der »Russischen Zeitung« (Nr. 23) teilte in einem Bericht aus Jakutsk folgenden Auszug aus dem Briefe eines Verschickten mit, wo die schreckliche Lage geschildert ist, in der sich ein in jene Wildnis verstoßener Mensch befindet:
Die Kosaken, die mich aus der Stadt Jakutsk hierher führten, kehrten bald wieder zurück und ich blieb allein unter Jakuten, die kein Wort russisch verstehen. Fürchtend, daß sie für meine Flucht bestraft werden könnten, beobachten sie 194 mißtrauisch jeden meiner Schritte. Wenn ich die einsam gelegene, dumpfe Hütte verlasse, um einen Spaziergang zu machen, folgt mir ein Jakute nach; nehme ich ein Beil zur Hand, um mir einen Stock abzuhauen, so deutet mir ein Jakute mimisch an, ich möge das unterlassen und nach der Hütte zurückkehren; und bin ich daheim, so sehe ich einen nackten Jakuten an dem Herd hocken und in seinen Kleidern nach Läusen suchen – ein ergötzlicher Anblick! Die Jakuten leben in ihrer Hütte mit dem Vieh zusammen. Der Unrat des Viehes, der Kinder, der Schmutz und die Unordnung, verfaultes Stroh und Lumpen, die Menge Ungeziefer, die Unmöglichkeit, ein Wort russisch zu sprechen – das zusammengenommen kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Die Nahrung der Jakuten ist ungenießbar; sie ist roh zubereitet, ohne Salz und oft auch aus verdorbenen Mitteln, daß derjenige, der an dergleichen nicht gewöhnt ist, das Genossene gleich wieder erbrechen muß. Und doch muß ich da mitessen, ja ich habe nicht einmal meine eigenen Kleider. Nirgends ergiebt sich die Möglichkeit, ein Bad zu nehmen; ich bin während der acht Wintermonate so schmutzig, wie ein Jakute. Die nächste Stadt ist 200 Werst von meinem Aufenthaltsort entfernt, somit für mich ganz unerreichlich. Ich wohne abwechselnd bei den verschiedenen Familien, aller sechs Wochen anderwärts. Weder Bücher, noch Zeitungen bekomme ich zu Gesicht; alles was in der Welt vorgeht, bleibt mir unbekannt . . .«
»Härter kann die Strenge nicht mehr angewendet werden,« fügte Herr Priklonski, der diesen Brief glossiert, dazu. »Grausamer vielleicht wäre noch, jemanden an den Schweif eines wilden Rosses gebunden, in die Steppe zu jagen, oder ihn an einen Leichnam zu fesseln und dann seinem Schicksale zu überlassen. Es ist fast unglaublich, daß Menschen ohne richterliches Urteil einzig nur auf einen Befehl der Verwaltung hin, solchen Qualen ausgesetzt werden können, solchen Strafen, wie sie das civilisierte Europa selbst für den verkommensten Verbrecher, der seiner Schuld überführt wurde, nicht mehr 195 kennt. Trotz alledem kann uns der Korrespondent der »Russischen Zeitung« mitteilen, daß in der Provinz Jakutsk keinem der Verschickten eine bessere Behandlung zu teil wird, daß zehn erst kürzlich angelangte Verschickte in die Jakutenhütten verwiesen wurden und daß bald noch andere dazukommen sollen.« . . .
Der kühne und begabte Verfasser dieses Aufsatzes, Herr Priklonski, ist bereits gestorben; ich kann daher, ohne ihm zu schaden, bekennen, daß er selbst mir diesen Aufsatz mitteilte und mir auch viele auf die Verbannung sich beziehenden Schriften gab. Erwähnt sei auch, daß »Semestwo«, jene Zeitschrift, wo dieser Aufsatz erschien, keineswegs der revolutionären Richtung angehörte, sondern das nichtoffizielle Organ der russischen Provinzialversammlungen war. Ich erwähne dies, um zu zeigen, daß die Regierung keinen genügenden Entschuldigungsgrund für die Fortdauer solcher entsetzlicher Zustände hat, da sie darauf von Personen aufmerksam gemacht wurde, deren Charakter und Patriotismus verdient haben, daß ihre Worte ernste Beachtung finden.
Übrigens – die in jenem Aufsatze geschilderten Zustände finden eine Bestätigung durch zahlreiche Briefe von Ulusverschickten, die in meinem Besitze sind, durch die Aussagen vieler politischer Verschickter, die dasselbe erlebten und endlich auch durch meine eigenen Beobachtungen. Auch ich habe in den mit Erde bedeckten Jakutenhütten geschlafen, in der Nähe des Hausviehes; auch ich habe einen Teil jener Entbehrungen verspürt, welchen der Bewohner dieser elenden Örtlichkeiten ausgesetzt ist und ich weiß, wie entsetzlich es für einen civilisierten Menschen sein muß, besonders für eine Frau, in dieser Umgebung Monate, Jahre zu verleben. Aber der Wahrheit zu Recht sei auch bemerkt, daß hier einigen der administrativ Verschickten erlaubt wurde, von ihren Angehörigen Geld zu empfangen und sich Hütten zu kaufen oder aufbauen zu lassen, was ihnen das Dasein doch einigermaßen erträglicher macht. So bewohnt auch der Novellist Korolenko sein eigenes 196 Häuschen und andere nach den Ulusen Verschickte erzählen uns, daß sie dort unter Beistand ihrer Freunde Blockhäuser bauten, kauften oder mieteten und derart von dem Schmutze und der Unordnung der Jakuten befreit sind. Einige besaßen sogar etliche Bücher und durften einmal, zweimal im Jahre unter Aufsicht der Polizei Briefe absenden und empfangen. Aber trotz dieser Begünstigungen mußten sie noch immer genug Leiden und Entbehrungen ertragen. Herr Linoff, ein gebildeter Mann, der auch einige Jahre in den Vereinigten Staaten lebte, klagte mir, daß er in der Zeit, wie er unter den Jakuten verleben mußte, oft monatelang kein Brot hatte und sich nur von Fisch und Fleisch nährte. Seine Gesundheit wurde auch dort völlig zerstört und er starb im Mai 1886 in einem ostsibirischen Etappenhaus, kurz, nachdem ich ihn kennen lernte. Unter günstigen Umständen selbst ist den Ulusverschickten das Leben noch immer unerträglich, das beweist schon der Umstand, daß viele von ihnen freiwillig in den Tod gehen. Von den im Jahre 1882 nach der Provinz Jakutsk verschickten 79 Personen haben sich bis zum Jahre 1885 sechs selbst getötet; wie viele noch nachfolgten, weiß ich nicht.
Oft staunte ich über die Gelassenheit mit der die politischen Verschickten in Tomsk, zuweilen von den empörendsten Gewaltthaten und fürchterlichen Duldungen sprachen. Die Männer und Frauen, die man in die Provinz Jakutsk verschickt hatte, weil sie sich weigerten Alexander III. zu huldigen, die in dieser Eiswüste alles erlitten, was zu erleiden nur möglich ist, schienen gar nicht bewußt zu sein, daß ihnen ganz Ungewöhnliches widerfahren. Wohl geschah es, daß ein Mann, dessen Gattin in der Verbannung zum Selbstmord getrieben wurde, krampfhaft die Hand ballte, und daß die Zornesröte in seinem Antlitz aufstieg, wenn er des traurigen Vorfalls gedachte; oder, daß ein armes Weib, der ihr Kind unterwegs in ihren Armen erfror, nur vom Schluchzen unterbrochen ihr Leid erzählen konnte, gewöhnlich jedoch sprachen sie gleichmütig von den vielen Qualen und den vielen Vergewaltigungen, die sie zu erdulden 197 hatten, als wäre das nichts anderes als ein Übel, wie es das Leben sehr häufig bietet. Ein Herr X . . . zeigte mir eines Tages eine Sammlung von Photographien seiner revolutionären Freunde. Wenn mir dabei ein Gesicht durch seine Schönheit oder charakteristischen Ausdruck auffiel, so erkundigte ich mich näher um die Person.
»Das stellt Fräulein A . . dar,« erklärte er mir ganz ruhig nach einigen meiner Fragen. »Sie war früher Dorfschullehrerin und starb vor drei Jahren im Gefängnis zu Kiew an der Schwindsucht. – Dieser Herr mit den langem Barte heißt B . . . Er war früher Friedensrichter in A. und wurde in Petersburg gehängt. – Dieses zartgebaute Mädchen hieß E. Sie war eine der sogenannten Propagandisten und wurde in der Untersuchungshaft wahnsinnig. – Jene hübsche junge Dame mit dem Kreuz auf dem Ärmel ist Frau D . . Sie war eine Schwester vom »Roten Kreuz« und pflegte während des letzten russisch-türkischen Krieges die Verwundeten in den Feldlazaretten. Sie wurde zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt und befindet sich jetzt in den Goldgruben von Kara. Die Dame ihr gegenüber, auf derselben Seite ist Fräulein E . ., früher Studentin der Medizin in Petersburg. Nach zweijähriger Einzelhaft in der Festung durchschnitt sie sich mit einem Glasscherben den Hals.«
Derart erklärte mir Herr X. mit dürren Worten seine ganze Photographiensammlung. Er bekundete keinerlei Erregung; wer ihn sprechen hörte, hätte meinen müssen, es gehöre das zu den Alltagsdingen, daß die Freunde gehängt werden, nach den Goldgruben verschickt und daß sie im Kerker wahnsinnig werden oder verzweiflungsvoll mit einem Glasscherben ihrem Leben ein Ende machen. Man glaube jedoch nicht, daß seine Ruhe Zeichen der Gefühlsrohheit waren, oder den Mangel an Sympathie erkennen ließen; er war eben im Laufe der Zeit gegen den Schrecken dieser entsetzlichen Tragödien schon abgestumpft worden. Man gewöhnt sich endlich an alles. Die russischen Revolutionäre haben so viel Gewaltthaten, so 198 viel Elend erlebt, daß sie ohne Erregung von Dingen sprechen können, deren Erwähnung die Zornesröte auf mein Antlitz lodern ließ und mein Herz vor Mitleid und Entrüstung beben machte.
»Zweimal in meinem Leben,« sprach einst ein bekannter russischer Liberaler zu mir, »hab' ich völlig erkannt, was da heißt ein freier Bürger sein. Das erste Mal, als ich in den siebziger Jahren aus den Vereinigten Staaten nach Rußland zurückkehrte und hier an der Grenze den Unterschied der Behandlung fühlte, welchen die russischen Gendarmen zwischen mir und einigen Engländern machte. Und das zweite Mal geschah es erst jüngst, als ich die Wirkung beobachtete, die Herrn B.'s Erzählung bei Ihnen hervorbrachte. Ihre Mienen gaben zu erkennen, daß Ihnen das Mitgeteilte schauderhaft, unglaublich erschien. Auf mich machte die Sache keinen größeren Eindruck als irgend ein gewöhnlicher Straßenunfall. Und als ich nun Ihren Gesichtsausdruck sah und mich dabei auf Ihren Standpunkt zu stellen versuchte, da fühlte ich wieder tief im Innern, was da heißt Bürger eines freien Staates zu sein oder russischer Unterthan.«
Die politischen Verbannten in Tomsk befanden sich in einer besseren Lage, als ihre Genossen in einer anderen von uns besuchten Gegend Sibiriens. Fürst Krapotkin beklagte sich zwar über das schlechte Klima, mir aber schien es nicht ungünstiger zu sein als etwa jenes vom Norden Neuenglands. Der gebildete Teil der Bevölkerung war liberal gesinnt und regsam; die Stadt besaß eine Bibliothek, ein Theater, gute Schule, sie besaß eine Buchhandlung und ein liberales Tageblatt, dieses freilich nur zur Zeit – wo es nicht mit Beschlag belegt wurde. Die Provinzialregierung war weniger hart als jene von Tobolsk; die politischen Verbannten konnten ungehindert miteinander verkehren und die meisten durften sogar ohne Polizeiüberwachung Briefe absenden und erhalten. Ihre Lebensweise schien mir also nicht gar so unerträglich. Man erzählt sich jedoch, Tomsk soll künftig nicht mehr den 199 Verschickten als Aufenthaltsort dienen, weil die Regierung endlich die dort errichtete Universität eröffnen will. Da sie vorsichtig bestrebt ist, daß die studierende Jugend von jenen »staatsgefährlichen« Gedanken nicht vergiftet werden, so läßt sich auch annehmen, daß die Regierung in der Umgebung der Hochschule so viel »unzuverlässige« Personen nicht dulden werde. Vernünftige junge Leute, die Gelegenheit hätten, Männer wie Chudnofski, Krapotkin kennen zu lernen, ihre Erlebnisse zu vernehmen, könnten sehr leicht zu Gedanken kommen, die sich mit den Begriffen der russischen Regierung von Unterthanentreue nicht vereinigen lassen.
Wir nahmen von den politischen Verschickten, von Oberst Jagodkin, der sich uns besonders gastfreundlich zeigte, und von einigen bekannten Offizieren Abschied, besorgten uns einen neuen Fahrschein und bestiegen Freitag am 28. August unseren alten Tarantas, um mit einem Dreigespann guter Postpferde nach Irkutsk, der etwa 1700 Kilometer von Tomsk entfernten Hauptstadt Ostsibiriens zu fahren. Der Gouverneur Petukoff versprach uns einen Empfehlungsbrief an alle ihm untergeordneten Eskorteoffiziere, damit uns diese die Besichtigung der Etappengefängnisse gestatteten; aber er hatte entweder sein Versprechen vergessen, oder er hielt es für besser es bleiben zu lassen, nachdem er ganz unvermutet politische Verschickte in unserer Wohnung sah; wir erhielten diesen Empfehlungsbrief nicht und waren darauf angewiesen, uns selbst den erwähnten Zutritt zu verschaffen.
Bis Atschinsk, der ersten Stadt in Ostsibirien, zeigte sich uns nichts Bemerkenswertes. Wir fuhren durch eine hügelige Gegend, die teilweise bewaldet war, teilweise angebaut. Zuweilen führte der Weg stundenlang durch dichtes Birken-, Pappel- oder Nadelgehölz, das keinen freien Ausblick gestattete; wir sahen nur über uns den Himmel und vor uns die schmutzige Straße. Dann bot sich wieder zur Abwechselung breites Wiesenland, weite Thäler, dessen Grenzhügel mit angebauten Feldern bedeckt waren. Das Wetter war herbstlich 200 kühl, jedoch die Stechfliegen belästigten uns noch immer. Zwischen Itatskaja und Bogotolskaja, etwa 80 Kilometer von Atschinsk entfernt, zeigte sich uns das anmutigste und auch am besten angebaute Gebiet während unserer ganzen Fahrt. Das fruchtbare Hügelland, das schon herbstlich gefärbt war, die Silberbirken und Pappeln auf beblumten Wiesen, die Ährenfelder voll gereifter Frucht mit den bunt gekleideten Mähdern und Mähderinnen – das alles gab ein farbenprächtiges Bild, wert den Pinsel eines Künstlers in Thätigkeit zu setzen.
Die Dörfer in dieser Gegend machten nicht den besten Eindruck. Sie bestanden gewöhnlich aus zwei Reihen Holzhäuser, die sich der Straße entlang streckten. Nirgends bot sich dem Blick ein erquickendes Grün, den Kranz der vor der Schnapsschänke hing, etwa ausgenommen. Diese Schänken, deren es gar viele und mannigfaltige giebt, mögen dem Staate eine ergiebige Einnahmequelle bieten, den Bauern jedoch bringen sie nur den Ruin; sie sind hauptsächlich daran schuld, daß die sibirischen Dörfer so vernachlässigt und armselig sind. In Westsibirien kommen dreißig Schnapsschänken auf eine Schule, in Ostsibirien sogar fünfunddreißig. In einem Lande, wo die Gelegenheit zu lernen in einem solchen Mißverhältnis steht, zur Gelegenheit sich zu betrinken, kann wohl keine größere Ordnung und Reinlichkeit, kein größerer Wohlstand herrschen.
Die Friedhöfe der sibirischen Dörfer interessierten mich oft mehr als diese selbst. Auf einem Friedhof sah ich die Hälfte aller Gräber mit schwarzen Kreuzen versehen und mit bunten Pfählen eingezäunt. Manche Kreuze zeigten die Aufschrift I. H. S., andere wieder das Bild des Gekreuzigten in weißer Farbe; die Beine waren ganz besonders dünn und reichten bis hinunter. Der Anblick hatte etwas Geisterhaftes an sich, obgleich die Vorliebe der Russen für Farbenbuntheit auch hier zum Ausdrucke kam. Ich kann mich nicht erinnern, dergleichen jemals auf irgend einem Friedhofe der Welt gesehen zu haben.
Überall hatte die Ernte begonnen, wir fanden die Dörfer 201 ganz menschenleer, da alles mit der Feldarbeit beschäftigt war. In einem Dorfe sahen wir auf der einsamen Straße einen etwa fünfjährigen Blondkopf, nur mit einem schmutzigen Hemd bekleidet und eine Schelle um den Hals, vergnügt an einer Möhre nagen und dabei in der Pfütze herumwaten.
In der Nähe eines anderen Dorfes sahen wir ein Pferd grasen, das mit Handschellen gekoppelt war, und dieser Anblick erinnerte uns, daß wir in die Nähe einer Strafkolonie gelangt wären. Ich hörte einst die wunderliche Mähr, daß die Regierung einmal eine widerspänstige Kirchenglocke durchpeitschen ließ – das ist die berühmte Glocke von Uglitsch, die sich jetzt in Tobolsk befindet – und dann nach Sibirien verschickte, weil sie die Kühnheit hatte, zu läuten, als sie gezogen wurde, aber daß die russische Regierung nun auch schon »unzuverlässige« Pferde nach Sibirien schicken soll, schien mir doch nicht wahrscheinlich. Der Postmeister gab mir da die Aufklärung. Demnach hätte sich die Mähre keineswegs der »gesellschaftlichen Ordnung nachteilig« erwiesen, indem sie bei dem Regierungsantritt des neuen Zaren in loyaler Weise zu wiehern sich geweigert hätte, sondern es war ganz einfach ein Ausreißer, den der Eigentümer in dieser nicht zu fern liegenden Art zum bleiben zwang.
Zwischen Krasno-Retschinskaja und Bielojarskaja, etwa 32 Kilometer westlich von Atschinks, passierten wir die Grenze der Provinzen Tomsk und Jeniseisk, die durch zwei Ziegelpfeiler kenntlich gemacht war; an der Ost- sowie an der Westseite befanden sich die Wappen der betreffenden Provinzen. Von hier aus verdoppelte sich die Gebühr für Postpferde, ohne daß jedoch auch die Schnelligkeit der Beförderung zugenommen hätte, oder auch nur die Bequemlichkeit. Die höheren Preise aller Nahrungsmittel soll die Ursache dieser Steigerung sein. Dem Verbannten gegenüber wird das natürlich nicht berücksichtigt; ob in West- oder in Ostsibirien, ob das Brot zwei oder fünf Kopeken kostet, er erhält immer nur seine zehn Kopeken für die Tagesverpflegung. In Westsibirien kann er 202 damit doch den Hunger stillen, im Osten muß er – was bereits früher gesagt wurde – hungern.
Dienstags, am ersten September gelangten wir nach Atschinsk und von hier aus begann nun der schwierigste und der ermüdendste Teil unserer Reise. Die Gegend wurde plötzlich gebirgiger, wilder. Die Straße führte in einer Länge von hundert Kilometer über bewaldete Berge, die durch enge, sumpfige Thäler voneinander geschieden waren. Ein dauernder Regen ging nieder und unsere fünf Pferde vermochten nur mühsam den schweren Tarantas die steilen Berge hinaufzuziehen und durch den zähen Lehmbrei der Niederungen. Selbst wo der Straßengrund etwas härter war, hatten die vielen schweren Wagen, die vor uns her zogen, tiefe Löcher zurückgelassen. Wohl wurde versucht, durch Versenkung von Baumstämmen die Straße fahrbar zu machen, allein sie wurde dadurch nur holpriger und wir wurden noch mehr durchrüttelt und durchschüttelt. Im Verlauf der ersten Nacht wurde ich einige hundertmale gegen Decke und Seite des Tarantas geschleudert. Als wir morgens nach einer zwanzigstündigen Fahrt, in der wir nur achtzig Kilometer zurückgelegt hatten, nach Ibrulskaja gelangten, war mir, als wäre ich gerädert worden. Mein Gefährte sah noch viel übler aus, so daß ich ernstlich beunruhigt war. Er wollte jedoch nicht in dem überfüllten Posthaus verbleiben, wir setzten daher unsere Reise nach Krasnojarsk fort, nachdem wir uns mit Thee erfrischt hatten.
Vier Tage lang war unsere Nahrung nichts anderes als Thee und Brot, Fleisch konnten wir während dieser Zeit nur in einem einzigen Posthaus bekommen. Eine erbärmlichere Straße als die von Atschinsk nach Krasnojarsk ist mir noch nicht vorgekommen, ich empfand daher eine gewisse Befriedigung, als wir in Ustanofskaja hörten, der neuernannte Gouverneur von Ostsibirien, General Ignatieff, habe vor kurzem denselben Weg wie wir gemacht und sei über den Zustand der Straße so entrüstet gewesen, daß er sofort den 203 Unternehmer verhaften ließ, der die Instandhaltung der Straße übernommen. Das war wenigstens eine geeignete Anwendung willkürlicher Machtfülle.
Mittwoch Abend, am zweiten September, kamen wir in Krasnojarsk an, nachdem wir ohne nennenswerte Unterbrechung in fünf Tagen fast sechshundert Kilometer durchfahren hatten. Ein reichliches Nachtessen und eine gute Nachtruhe, beides bot uns das neben dem Posthause gelegene kleine Hotel, kräftigten uns doch einigermaßen. Am nächsten Tage besuchten wir Herrn Leo Petrowitsch Kusnetsoff, einen reichen Bergwerksbesitzer an den wir ein Empfehlungsschreiben besaßen. Wir konnten nicht ahnen, daß wir hier eine so luxuriöse Bequemlichkeit und eine so angenehme Gesellschaft finden werden. Der Diener, der uns öffnete, wies uns in das schönste und geschmackvollste Empfangszimmer, das wir in Rußland je gesehen haben. Es mochte zwanzig Meter lang, zwölf Meter breit und sieben Meter hoch sein. Der parkettierte Fußboden war zum Teil mit persischen Teppichen belegt, in den Nischen der hohen, mit prächtigen Vorhängen versehenen Fenster standen Palmen und andere Topfgewächse und ein großer Pfeilerspiegel schien den weiten Raum des Saales noch zu erweitern. In dem Marmorkamin prasselte ein helles Feuer von Birkenholz; Ölgemälde guter Meister zierten die Wände; Schränke aus poliertem Holz worauf allerlei Nippsachen, Elfenbeinschnitzereien und seltenes Porzellan standen, ein geschnitzter Bücherschrank mit Büchern und Musiknoten neben einem prachtvollen Flügel und noch andere wertvolle Möbel schmückten diesen Raum.
Wir hatten kaum noch unser Staunen bemeistert, als ein junger schlanker Mann eintrat, elegant gekleidet, und sich als Herr Innozenzi Kusnetsoff vorstellte und uns in gutem Englisch Willkommen bot. Bald lernten wir auch die andern Mitglieder der Familie kennen, die aus drei Brüdern und zwei Schwestern bestand. Alle waren ledig und bewohnten gemeinschaftlich dieses prachtvolle Haus. Auch die Damen 204 sprachen geläufig englisch; sie hatten Amerika bereist und sich dort in den bedeutendsten Städten eine Zeitlang aufgehalten. Herr Innozenzi Kusnetsoff kannte sogar die Vereinigten Staaten viel gründlicher als ich; zweimal durchkreuzte er Amerikas Festland, jagte in den Prärien des Westens Büffel, war mit General Sheridan, Buffalo Bill, Kapitän Jack und noch manchen andern bekannten Männern in Berührung gekommen, ja er hatte sogar das entlegene Gebiet von Yellowstone Park und Staked Plains betreten.
Jeder kann sich vorstellen, wie angenehm es uns sein mußte, nach monatelangem Aufenthalt in schmutzigen Posthäusern, in Gasthöfen voll Ungeziefer, plötzlich in ein Haus wie dieses zu geraten, mit gebildeten Männern und Frauen zu sprechen und dabei keine peinigenden Erzählungen von Gefängnissen und Verbannten zu hören.
So lange wir in Krasnojarsk blieben, speisten wir täglich bei dieser Familie und trafen dort auch eine recht angenehme Gesellschaft. So erinnere ich mich eines Herrn Iwan Sawenkoff, Direktor der dortigen Normalschule, der vor kurzem erst von einer archäologischen Forschungsreise in der Gegend des obern Jeniseis zurückgekehrt war und uns interessante Zeichnungen und Abschriften zeigte, die auf dem »bemalten Felsen« am Ufer jenes Flusses zahlreich zu finden waren. Herr Innozenzi Kusnetsoff interessierte sich gleichfalls für Archäologie und gleich jenem besaß auch er eine wertvolle Sammlung sibirischer Altertümer aus der Steinzeit und Bronzezeit.
Donnerstag besuchten wir das flußaufwärts, etwa zehn Kilometer von der Stadt gelegene Kloster, welche Stelle einen beliebten Ausflugsort der Bewohner bildet. Die Straße, ein Meisterstück mönchischer Wegbaukunst, war stellenweise in die Felsen gehauen, die das Flußufer bilden. An andern Stellen wieder führte sie hoch über dem Wasser über Brücken fort, die die Schroffen verbanden. An vorspringenden Stellen bot sich dem Auge ein prächtiger Ausblick auf den Fluß, der hier 205 eine Breite von anderthalb Kilometer erreicht und zwischen malerischen Bergen dem nördlichen Eismeer zuströmt.
Unsere Bekannten versuchten es, uns zu einem längeren Aufenthalt in Krasnojarsk zu bereden, allein die Zeit war schon zu weit vorgeschritten und wir hatten keine Stunde zu versäumen. Wohl war es kein leichtes, all' dieser Picknicks, Kahnfahrten und sonstigen Ausflügen, die uns geboten wurden und noch in Aussicht gestellt waren, zu entsagen und uns wieder dem ganzen Jammer der Fahrt auszusetzen; allein wir mußten, noch ehe der Winter heranbrach, die Minen Transbaikaliens erreichen und diese waren noch 2000 Kilometer entfernt.
Samstag, am fünften September, bestellten wir die Postpferde, versahen uns mit Brot, Thee, kleiner Münze, bepackten unseren alten, mit Kot bedeckten Tarantas, der uns schon ganz zur Folterbank geworden schien und setzten unsere Reise nach Irkutsk fort, den Jenisei auf der Fähre überfahrend.
Es war angenehm und sonnig, aber das fallende Rotlaub mahnte, daß es Herbst werden sollte. Das Laub der Pappeln war schon gerötet und das Gelb der Birken hob sich kräftig vom Dunkelgrün der Tannen ab. Auf den weiten Feldern des Jeniseithales und auf den niederen Hügelabhängen waren zahlreiche Männer und Weiber mit der Ernte beschäftigt, die Gesichter in Roßhaarmasken vermummt als Schutz gegen die Bremsen.
Ohne Unterbrechung fuhren wir dahin und machten erst Mittwoch morgens in Kamischetskaja Halt, etwa 600 Kilometer von Irkutsk entfernt, da wir dort unseren Wagen ausbessern lassen mußten. Der Dorfschmied befand sich in seiner nahe dem Posthaus gelegenen Werkstätte, wo er bei unserer Ankunft gerade beschäftigt war, unter Beistand seiner Tochter ein Pferd zu beschlagen. Die Vorsichtsmaßregeln, die er dabei getroffen, ließen vermuten, daß entweder die sibirischen Pferde sehr bösartig sein müssen, oder die sibirischen Hufschmiede sehr ungeschickt. Das arme Tier hing an zwei breiten Leibgurten 206 in der Luft, drei seiner Füße waren an Pfosten gebunden und der Vierte wurde soeben von dem mutigen Hufschmied bearbeitet. Auf unsere Erkundigungen hin erhielten wir übrigens die Auskunft, daß diese Art des Hufbeschlages in Sibirien üblich sei.
Während unser Tarantas ausgebessert wurde, holte uns die Post von Moskau ein. Die russischen Poststücke werden in Lederbeuteln auf Telegas nach Sibirien befördert; als Begleitung dient nur der bewaffnete Postillon. So viel ich weiß, giebt es für Poststücke keine Gewichtsgrenze – ich selbst habe einen 40 Pfund schweren Kasten mittelst Post verschickt – es kommt daher zuweilen vor, daß der Postzug ein Dutzend Telegas für sich in Anspruch nimmt. Irkutsk erhält täglich eine Postsendung aus Moskau und schickt wöchentlich drei dahin; da die Post vor Privatreisenden das Vorrecht hat, so müssen diese manchmal stundenlang an den Stationen warten, weil alle Pferde jener zur Benutzung für die Post hinzugezogen werden mußten. Und so geschah es uns auch hier. Erst um zwei Uhr nachmittags konnten wir weiterfahren, obgleich unser Wagen rasch in Ordnung kam.
Bis Irkutsk fuhren wir nun ohne längeren Aufenthalt Tag und Nacht, hielten nur hier und da an, um ein Etappengefängnis zu besichtigen, oder einen Gefangenentransport zu beobachten, der im strömenden Regen, unter Kettengeklirr, langsam den fernen Bergwerken Transbaikaliens zuzog. Manche dieser Züge brauchten zwei Monate, um den Weg zurückzulegen, den wir jetzt in acht Tagen vollführten und alle konnten unmöglich vor Eintritt der strengen Winterszeit ihren Bestimmungsort erreichen. Ein Blick nur auf diese verkümmerten Gesichter genügte, um sich vorzustellen, was an Leiden und Entbehrungen die Ärmsten schon erduldet haben mußten.
Das Leben der Verschickten auf dem Marsche umfaßt auch alle erdenklichen Demütigungen und Leiden. Während unserer Reise von Tomsk nach Irkutsk war mir oft Gelegenheit geboten, im Sonnenschein oder Regen Verschickte auf dem Marsche 207 zu sehen, die elenden Baracken zu besichtigen, wo sie nachts wie Vieh eingepfercht wurden, die Krankenhäuser zu besuchen, wo sie oft wochenlang ohne genügende ärztliche Hilfe liegen, und mit einsichtsvollen Beamten zu sprechen, die seit langem das ganze Verschickungssystem kennen, und ich kam dann zu der Überzeugung, daß das Elend, welches diese Art der Verschickung nach Sibirien mit sich bringt, in der ganzen civilisierten Welt seines Gleichen nicht fände. Manches verschuldet da auch die Nachlässigkeit, Herzlosigkeit und Bestechlichkeit der Beamten, aber der größte Teil davon ist nur eine Folge des grausamen Systems, das ganz beseitigt werden sollte und an dessen Stelle eine beschränkte oder lebenslängliche Haft im europäischen Rußland treten müßte.
Es braucht nicht viel Überlegung, um zu erkennen, daß 6000–8000 Männer, Frauen und Kinder selbst unter den günstigsten Verhältnissen nicht 3000 Kilometer in einem Lande, wie Ostsibirien zu Fuß zurücklegen können, ohne dem unerträglichsten Elend ausgesetzt zu sein. Schon die körperliche Anstrengung genügt, um die Gesundheit zu erschüttern; und wenn da noch Mangel jeder Art dazukommt, dann ist es kein Wunder, daß so viele von ihnen sterben, es ist eher ein Wunder, daß so viele noch am Leben bleiben.
Die Verschickten, die im Juli und August von Tomsk abgehen, werden früher vom Herbstregen und Frost erreicht, ehe sie Irkutsk erreichen. Winterkleider sind ihnen noch nicht gegeben worden, die meisten haben keinen anderen Schutz gegen des Wetters Unbill, als ein grobes Leinenhemd, eine leinene Hose und einen grauen, leichten Rock. Und nun stelle man sich einen solchen Transport im kalten Nordoststurm oder Regen auf der Straße von Atschinsk nach Krasnojarsk vor! Alle werden bis auf die Haut durchnäßt und die Frauen, Kinder und Kranke kauern fröstelnd auf dem durchfeuchteten Stroh der kleinen, rüttelnden Telegas, schutzlos dem Wüten des Wetters preisgegeben. An manchen Stellen giebt es knietiefen Morast und die Karren brauchen oft eine Stunde, um 208 drei Kilometer zurückzulegen. Viele der mit Fesseln versehenen Fußgänger geraten durch die Anstrengung des Marschierens in Schweiß und dampfen in der kühlen Luft; manche haben die Schuhe verloren oder ausgezogen und waten barfuß durch den eisigen Morast. Im Sommer und Herbst erhalten die Verschickten, wahrscheinlich aus Sparsamkeitsrücksichten, pantoffelartige Schuhe, »Kottih« genannt. Diese werden in Massen aus dem billigsten Material angefertigt und sollten vorschriftsmäßig sechs Wochen halten, gewöhnlich aber sind sie schon in ebenso vielen Tagen unbrauchbar geworden.
Ein hochgestellter Beamter der Verbannungsverwaltung erzählte mir, es sei nichts Seltenes, daß Verschickte von Tomsk oder Krasnojarsk mit neuen Schuhen fortgingen und schon auf der zweiten Etappe barfuß ankämen. Aber selbst, wenn die Fußbekleidung dauerhaft ist, so ist doch das Übel dabei, daß sie nicht recht paßt, daß sie nicht befestigt werden kann, weil ihr der Riemen fehlt und daß sie so niedrig ist, um Schmutzwasser und Kot ungehindert hineinlaufen zu lassen und im Morast stecken bleibt. Das erschwert ihnen freilich den ohnehin genug beschwerlichen Marsch, darum ziehen sie es vor, die Schuhe auszuziehen und zusammengebunden um den Hals zu tragen, oder ganz einfach fortzuwerfen und tagelang barfuß in einem Kot zu laufen, dessen Temperatur vom Gefrierpunkt nicht fern ist.
Nähern sich diese durchnäßten, müden und hungerigen Leute einem Bauerndorf, so bittet der »Starosta«, der »Älteste«, gewissermaßen der Führer der Gefangenen, den Eskorteoffizier, er möge erlauben, daß sie bei dem Durchmarsch durch das Dorf den »Bittgesang« singen. Selten wird dies abgeschlagen. Einige der Gefangenen werden nun von ihren Genossen gewählt um die erhofften milden Gaben entgegenzunehmen. Dann, das Dorf betretend, verlangsamen alle ihren ohnehin müden Gang, als würde ihnen jede Kraft der Bewegung fehlen, nehmen die Mützen ab und beginnen ihren herzzerbrechenden Aufruf an das menschliche Mitgefühl. Nie vergesse ich den 209 Eindruck, den dieser Gesang auf mich ausübte, als ich ihn zum erstenmal vernommen. Es war an einem rauhen Herbsttag und wir saßen in einem schmutzigen Posthaus und warteten auf Pferde. Plötzlich drang aus der Ferne ein eigenartiger, zitternder Ton an mein Ohr, der mir von menschlichen Stimmen herzurühren schien. Es war kein weltliches Lied, es war kein Kirchengesang, es war keine Trauerklage, aber es lag etwas von alledem darin.
Wir traten vor das Haus und sahen eine Schar gefesselter Sträflinge von Soldaten umringt, barhaupt näher kommen und sie sangen dabei den »Bittgesang der Verbannten«. Sie geben sich keine Mühe die Stimmen zusammenzuhalten oder die Worte zu gleicher Zeit auszusprechen, sie machten keine Pausen, ja es war nicht einmal ein bestimmter Rhythmus herauszufinden. Es hatte den Anschein, als ob sie fortwährend einer nach dem andern dieselbe traurige Melodie langsam anstimmen würden, was einer Fuge ähnlich war.
Der Gesang brachte ungefähr folgendes zum Ausdrucke:
»Erbarmet Euch unser, Väterchen!
Gedenkt der müden Wanderer!
Gedenkt der armen Gefangenen!
Nährt uns und helft uns, Väterchen!
Habt Mitleid mit uns, Väterchen!
Erbarmt Euch unser, Mütterchen!
Um Christi Willen, habt Erbarmen
Mit den Eingesperrten!
Hinter Stein und Gittern,
Hinter eisernen Schlössern,
Müssen wir schmachten.
Getrennt von Vater und Mutter,
Getrennt von Bruder und Freund,
Sind wir Gefangenen.
Erbarmt Euch unser, Väterchen!«
Wer diese Worte nicht gehört, wie sie langsam von Hunderten halb gesungen, halb gesprochen werden, und dazu das Kettengeklirr als Begleitung, der kann sich keine Vorstellung von dem Eindruck machen, den dieser kunstlose »Bittgesang« 210 hervorzubringen vermag. All der Jammer, all das Elend, all die Not und all die Verzweiflung, die von Tausenden in den Gefängnissen und in den Bergwerken empfunden wurden, klang aus diesen Tönen.
Während die Gefangenen langsam die schmutzige Straße entlang zogen, traten Kinder und Weiber aus den Häusern und legten Brot, Fleisch, Eier und andere Nahrungsmittel in die Säcke der vier halbgeschorenen Sträflinge, die mit der Einsammlung betraut waren.
Allmählich verstummte das Kettengeklirr und der Gesang. Wir traten wieder in das Haus. Aber bänger war mir's ums Herz als zuvor, und trüber schien mir der Tag geworden.
Bei der ersten Rast des Transportes werden gewöhnlich die gesammelten Spenden verteilt und frischer als sonst setzen sie dann ihren langen Weg fort. Müde und durchnäßt, erreichen sie oft in später Abendstunde das Etappengefängnis, wo sie nach dem eingenommenen Nachtessen gezählt und eingeschlossen werden. Die meisten von ihnen zittern vor Kälte und Nässe, allein sie haben weder trockene Kleider, um einen Wechsel vorzunehmen, noch Kissen oder Decken, um sich damit zuzudecken; sie müssen sich auf die harte Pritsche legen, oder gar auf die Erde und recht dicht zusammenrücken, damit sie sich gegenseitig erwärmen. Manche mögen vielleicht noch ein oder das andere Kleidungsstück haben, dies befindet sich jedoch in seinem Sack, der, einem mehrstündigen Regen ausgesetzt, auch nicht trocken blieb.
Wenigstens Regenplanen für die Wagen sollte die Regierung doch anschaffen, wenn sie sich nur im geringsten um das Wohl der Gefangenen kümmern will. Das würde die Transportkosten nur um ein geringes erhöhen, kaum um mehr als da ausgegeben wird, um die Armen zu begraben, die infolge der nassen Kleider erkranken und sterben.
Und doch unterbleibt diese Anschaffung!
Warum? – Jene Beamten, die es einsehen, haben nicht die Macht, Verbesserungen zu treffen, und jene, welche die 211 Macht haben, wollen keine Verbesserungen vornehmen. – Warum? Diese Frage kam in Sibirien gar häufig von meinen Lippen und immer erhielt ich eine Antwort in jenem Sinne.
»Oft schon hab ich vorgeschlagen,« bemerkte mir eines Tages ein hochgestellter Beamter des Verschickungswesens, »die Sträflinge mögen im Sommer mittelst Wagen ihrem Bestimmungsort zugeführt werden. Ich habe die Sache genau berechnet und bewiesen, daß die Wagenbeförderung der Verschickten von Tomsk nach Atschinsk im Sommer nicht nur viel menschlicher wäre, sondern auch um vierzehn Rubel für die Person weniger kosten würde.«
»Und warum wurde Ihr Vorschlag nicht angenommen?« war meine Frage.
Ein Achselzucken war seine Antwort.
Ein anderer Beamter erzählte mir: »Wiederholt hab' ich schon die von den Unternehmern gelieferten Kleider zurückgewiesen, weil sie nicht genügend angefertigt waren. Aber meine Zurückweisung war nutzlos. Der unbrauchbarste Schund wurde anstatt guter Schuhe geliefert und die Sträflinge mußten barfuß gehen. Ich konnte eben nichts anderes dabei thun, als meinen Vorgesetzten die Sache anzeigen.«
Während meines Aufenthaltes in der Stadt Irkutsk, besuchte ich eines Tages den Provinzgouverneur, Herrn Petroff, und traf dort den Inspektor des Verbanntentransports für Ostsibirien, Oberst Sagarin. Dieser hatte einige Proben der zuletzt gelieferten Schuhe mitgebracht, und ersuchte nun den Gouverneur sie mit den von den Lieferanten gegebenen Mustern zu vergleichen. Er müsse diese Waren entschieden zurückweisen und eine Untersuchung fordern. Der Betrug war auch augenscheinlich und die gelieferten Schuhe derart, daß sie schon nach einigen Tagen total zerfetzt sein mußten. Ich glaubte auch, daß wenigstens hier etwas geschehen werde. Fünf Monate später, nach meiner Rückkehr aus Transbaikaliens Goldgruben, fragte ich den Oberst, welchen Erfolg damals seine Einwendungen hatten.
212 »Gar keinen,« gab er mir zur Antwort.
»Diese Schuhe sind also wirklich den Leuten zum Gebrauch gegeben worden?«
»Jawohl!«
Ich fragte nicht weiter.
So könnte ich noch viele Beispiele anführen, wie durch Gleichgültigkeit oder Bestechlichkeit der Beamten, die Lage der Verschickten unerträglich gemacht wird. Doch die Berichte der Krankenhäuser und die Sterbestatistik machen jede weitere Beweisführung überflüssig. Hunderte der Verschickten, jedes Alters und jedes Geschlechtes erkranken während des Transports, und nachdem sie ein, zwei Wochen in den rüttelnden Telegas herumgeschleppt wurden, kommen sie endlich in ein Etappenspital, wo sie genesen – oder auch nicht.
Es ist herzlos, Kranke in einem rüttelnden Karren, gleichviel bei welcher Witterung, wochenlang auf der Straße herumzuschleppen, aber unter den vorhandenen Verhältnissen kann der Eskorteoffizier nichts anderes thun. Er kann nicht die Kranken in einem leeren Etappenhaus ohne jeden Beistand zurücklassen, denn seine Mannschaft muß bei dem Transport bleiben. Oft, wenn ich mich auf der großen sibirischen Heerstraße von den Beschwerlichkeiten der Fahrt ganz überwältigt fühlte, gab es mir neuen Mut und neue Kraft, gedachte ich der vielen Schwerkranken, die noch viel größere Schwierigkeiten überwinden, noch viel mehr Entbehrungen erleiden mußten. Den Kranken, die unter solchen Umständen endlich in ein Gefängnisspital geraten, bleibt kaum mehr Hoffnung, als – ruhig sterben zu können; denn nach den amtlichen Berichten des Direktors der Gefängnis- und Verbannungsabteilung, Herrn Galkin-Wrasskoi, ist die geringste Aussicht vorhanden, daß die Armen genesen. Er äußert sich wie folgt:
»Bis zum Jahre 1885 ist mit der Errichtung von Transportspitälern noch nicht begonnen worden, und es wurde auch nicht für Ärzte und Heilgehilfen gesorgt. Laut § 5, Abschnitt 363 der »Verordnungen für Verbannte« müssen Civil- 213 und Militärärzte in den Etappenhäusern die Kranken untersuchen und die nötige Pflege veranlassen. Es giebt jedoch in den Dörfern, wo Etappengefängnisse sind, keine Civilärzte und Militärärzte befinden sich nur in den Etappen Scheragulskaja, Birusinskaja und Tiretskaja. An diesen Orten sind Krankenstuben mit je sechs Betten vorhanden, die für die erkrankten Soldaten des Transportes bestimmt sind. Alle bis zum Jahre 1885 zwischen Atschinsk und Irkutsk Erkrankten sind in diesen drei Orten untergebracht worden, aber nicht in den Krankenstuben der Soldaten, sondern in den Gefängniszellen.Die Entfernungen zwischen den erwähnten Etappenhäusern sind: von Atschinsk bis Birusinskaja ca. 565 Kilometer, von hier bis Tiretskaja ca. 145 Kilometer und von Tiretskaja bis Irkutsk ca. 220 Kilometer. Durchschnittlich legt ein Transportzug wöchentlich 125 Kilometer zurück. In diesen Räumen befanden sich die Kranken ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Krankheit beisammen, was also keineswegs den Anforderungen genügen konnte. Auch fehlte es an Pflege, Betten und Wäsche, sogar an Koch- und Eßgeschirr.«
Da bleibt den Kranken freilich nur geringe Aussicht aus Genesung und es sterben auch jährlich von den Verschickten auf dem Transporte zwischen Tomsk und Irkutsk zwölf bis fünfzehn vom Hundert. Nach dem Amtsbericht des Inspektors für Westsibirien (1884 Seite 32 und 33) starben im Jahre 1883 auf der erwähnten Strecke innerhalb einundzwanzig Tage siebzig der Verschickten.
Kein Wunder, daß die Verschickten einem solchen Elendleben durch Flucht während des Marsches sich entziehen wollen. Die erfahrenen »Brodjaks« tauschen zuweilen ihre Namen mit Verbannten, die bald ihren Bestimmungsort erreichen sollen. Andere wieder versuchen bei günstiger Gelegenheit mit einem Hurrahruf den Militärkordon zu durchbrechen. Natürlich wird ihnen sofort nachgeschossen und manche stürzen dann gewöhnlich tot nieder, anderen gelingt die Flucht, besonders wenn sie gleich das Dickicht des Waldes aufnimmt. Im sicheren Versteck befreien 214 sie sich von ihren Fesseln, indem sie den Ring durch Klopfen erweitern und während der Transport langsam nach Osten zieht, schließen sich die Geflohenen der großen Brodjakarmee an, die westlich durch die Waldungen dem Uralgebirge zustrebt.