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Am nächsten Tage besuchte ich mit Frost Fräulein Armfeldt. Abends sollte der Major heimkehren und dann war es wohl mit unseren selbständigen Ausgängen zu Ende; es galt daher, die kurze Zeit bis zu seiner Ankunft nach Möglichkeit auszunutzen. Es war nicht anzunehmen, daß unser Verkehr mit den politischen Gefangenen den dortigen Behörden lange Zeit verborgen bleiben konnte, aber bis das erfolgte und wir ferner daran verhindert wären, wollte ich soviel Auskünfte, wie nur möglich war, erhalten. Die Hütten der im »freien Kommando« Lebenden am hellen Tag zu betreten, vermehrte allerdings die Gefahr der raschen Entdeckung, allein wir durften keine Stunde unnütz verstreichen lassen, und überdies hatte ich auch Fräulein Armfeldt versprochen, wenn mich nicht besondere Hindernisse abhalten, sie in der Morgenzeit zu besuchen.
Unser hastiger Gang währte kaum ein Viertelstündchen und wir standen schon vor der Thüre, die Fräulein Armfeldt uns öffnete. Wir traten ein. Im hellen Schein des klaren Wintermorgens, schien mir dieses dürftige Stüblein noch öder und trauriger, als bei meinem früheren Besuch. Ich bemerkte jetzt auch eine Staffelei auf der sich ein Gemälde befand, ein seltsamer Anblick an diesem Orte, und ich konnte nicht unterlassen, einen fragenden Blick aus das Fräulein zu werfen. Sie verstand ihn recht gut, drehte die Staffelei um, so daß ich das Bild sehen konnte und sprach: »Ich versuchte meine Mutter zu porträtieren. Sie will ihrer anderen Kinder wegen 85 heuer nach Rußland zurückkehren und ich werde sie dann wahrscheinlich nie wieder sehen. Sie ist zu gebrechlich um ein zweites Mal die Reise nach Ostsibirien wagen zu können. So möchte ich nun etwas besitzen, was mich an ihre Züge erinnert, wenn sie aus meinem Leben geschieden ist. Ich weiß, das Bild taugt nicht viel, fast schäme ich mich, es Ihnen zu zeigen. Aber vielleicht können Sie mir besser raten; vielleicht lehrt mich Herr Frost, wie ich das geringe Material, das ich dazu habe, verwenden kann, ein besseres vermag ich mir nicht zu verschaffen.«
Gerührt betrachtete ich das Bild, ein schlechtes, sehr schlechtes Bild. Die Ähnlichkeit war zwar herauszufinden, auch war es nicht ohne Talent gemalt, aber die Leinwand eignete sich ganz und gar nicht dazu, die Farben waren schlecht, der erste Blick ließ schon erkennen, daß hier mit den ungenügendsten Mitteln ein Versuch gemacht wurde. Ein schmerzlicher Anblick dieser Versuch der Tochter, die Züge ihrer teuern Mutter festzuhalten, aber noch viel schmerzlicher war der Gedanke, daß in kurzer Zeit dieses schlechte Bild ihr einziger Tröster in der öden Einsamkeit sein soll.
Ich unterließ es, die Mängel des Bildes zu erwähnen, und während Frost sich mit den Malgerätschaften beschäftigte, knüpfte ich mit Frau Armfeldt ein Gespräch an und fragte sie auch, wie sie in ihrem Alter den Mut finden konnte, eine Reise, wie die von Petersburg nach dem Karagebiet zu wagen.
»Ich konnte nicht anders!« erwiderte sie gelassen. »Die Armen werden hier sehr schlecht behandelt, auch Natalie schlugen die Soldaten mit dem Gewehrkolben und andere wieder mußten vor Hunger sterben. In Petersburg vernahm ich manches, was mich besorgt machte, ich reiste also daher, um mich selbst von den Zuständen zu überzeugen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß mein Kind in diesem Elend ganz allein stehen soll.«
»Wann geschah das?« war meine Frage.
»In den Jahren 1882 und 1883. Im Mai jenes Jahres 86 entflohen acht Gefangene und dann wurden die anderen so gequält, daß sie einen Hungerstrike vornahmen und dreizehn Tage lang keine Nahrung annahmen.«
Während dieses Gespräches traten einige politische Gefangene ein, Fräulein Armfeldt brachte den Samowar herbei und schenkte uns Thee ein. Das Gespräch wurde allgemeiner . . .
Nachmittag besuchte ich zum letztenmale Fräulein Armfeldt. Ich wußte, daß ich diese Unglücklichen kaum jemals im Leben wieder sehen werde, und auch sie wußten, daß sich jetzt die beste Gelegenheit bot mit jemandem zu sprechen, der in die civilisierte Welt wieder zurückkehrt und vielleicht Gelegenheit hat mit ihren Verwandten und Bekannten zu sprechen, und des nahen Abschiedes bewußt, schlossen sie sich noch inniger an mich an. Ich versprach der Mutter und der Tochter den Grafen Tolstoi zu besuchen und ihm zu schildern, in welchem Zustand ich sie hier getroffen habeIch hielt, was ich versprach, besuchte den Dichter Tolstoi und erzählte ihm von den argen Leiden der ihm befreundeten Armfeldt. Doch er wollte von den politischen Sträflingen in Ostsibirien überhaupt nichts hören und wies auch die Schriften zurück, die ich für ihn mitgebracht hatte, um ihm ein Bild jener Zustände zu geben. Er erklärte mir, daß er manchen der politischen Gefangenen bedauere, daß er aber nichts für sie thun könne, da ihm ihr Vorgehen höchst unsympathisch wäre. Sie hätten Gewalt gebraucht und müßte nun durch Gewalt leiden. – In Moskau wurde mir gesagt, die Frau eines Verbannten wäre Tolstoi um eine Spende für die Gefangenen angegangen und sei abgewiesen worden. Wahrscheinlich wollte er Leute, deren Handlungsweise ihm nicht recht war, nicht im geringsten unterstützen., ich gab ihnen meine Adresse an, daß sie mir Nachrichten von sich geben können, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet und ich übernahm ihre Briefe zur Beförderung an ihre Angehörigen in Rußland. Daß diese Briefvermittlung sträflich war und daß es mir dadurch recht arg ergehen konnte, falls meine Papiere von der russischen Polizei durchsucht worden wären, das wußte ich ganz gut, aber ich konnte mir's nicht versagen, den Gefangenen derlei Liebesdienst zu erweisen, oft die einzige Gelegenheit nach jahrelanger Unterbrechung wieder einmal mit Personen, die 87 ihnen teuer sind, in schriftlichen Verkehr zu treten. Oft war ich es selbst sogar, der sie aufforderte, mir Briefe zur Übermittlung mitzugeben.
Als es dunkelte, verabschiedete ich mich mit dem Versprechen, sie, wenn möglich, noch einmal zu besuchen, fügte jedoch dazu, daß es nicht sehr wahrscheinlich sei.
Major Potuloff war um Mitternacht heimgekehrt und ich sah ihn erst in der folgenden Morgenzeit. Er begrüßte mich höflich, aber kühler als gewöhnlich und auch der Händedruck blieb aus. Dann sprach er kein Wort, sondern blickte verstimmt auf seine Theetasse. Daß es so kommen werde, hatte ich erwartet und mir auch bedacht, was ich in diesem Falle thun will. Ich schätzte Potuloff als Ehrenmann; er nahm uns gastfreundlich in sein Haus und ich habe ihn vielleicht durch mein Vorgehen in eine höchst unangenehme Lage versetzt; so wollte ich mich nun ganz offen mit ihm aussprechen. Ich erzählte daher, ich hätte während seiner Abwesenheit die Gefangenen des »freien Kommandos« kennen gelernt.
»Ich hab's vernommen« erwiderte er, ohne aufzublicken. Und nach einer Weile setzte er fort: »Ich halte mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß Sie sehr unvorsichtig vorgegangen sind.«
»Warum?«
»Weil Fremde, die heimlich mit den politischen Gefangenen in Verkehr treten, verdächtigt werden. Das ist nicht gestattet und Sie werden dadurch Unannehmlichkeiten haben.«
»Mir hat niemand gesagt, daß es verboten sei,« erwiderte ich. »Woher sollte ich wissen, daß es verboten sei mit Leuten zu verkehren, die frei wohnen und die ich jeden Tag auf der Straße sehen kann. Die dem »freien Kommando« angehörigen sind nicht im Gefängnis, sie verkehren mit jedermann, warum also sollte ich es just meiden.«
»Gouverneur BarabaschDer Gouverneur des Teiles von Transbaikalien, in welchem die Goldgruben von Kara sich befinden. telegraphierte mir,« sprach er 88 ernst, »daß Ihnen der Besuch politischer Gefangener nicht gestattet sei und natürlich wollte er da auch, daß Sie überhaupt den politischen Sträflingen ferngehalten werden.«
»Das wurde mir nicht mitgeteilt. Wenn ich das gewußt hätte, so würde ich mich danach gerichtet haben. Ich wüßte nicht, daß ich von Ihnen auch nur eine Andeutung dessen erhalten hätte.«
»Ich vermutete nicht, daß Sie dergleichen Absichten haben würden; Sie erwähnten nichts davon. Übrigens – das ganze geht eigentlich den Hauptmann Nikolin an, denn er ist für die politischen Gefangenen verantwortlich. Ich will Sie nur warnen und Ihnen sagen, daß Sie unklug gehandelt haben und sich einer großen Gefahr aussetzen.«
Offen teilte ich nun Potuloff jetzt mit, warum ich nichts von der Sache erwähnt habe und warum ich seine Abwesenheit benützte, um meine Absicht zur Ausführung zu bringen. Ich gestand, daß ich seinen Einspruch vermeiden und auch verhindern wollte, daß ihn der Verdacht der Mitschuld treffe.
Meine Erklärungen schienen günstig zu wirken; bald fand er wieder den herzlichen Ton von früher, hielt es jedoch noch immer für nötig, seine Warnung zu wiederholen.
Etwa eine Stunde nach dem Frühstück erschien Hauptmann Nikolin und wünschte mit dem Major eine Dienstangelegenheit zu besprechen. Der Major führte ihn in sein Schreibzimmer, wo sie eine Besprechung von mehr als einer halben Stunde Dauer hatten. Während dieser Zeit war ich in meiner Stube mit der Ordnung meiner Papiere beschäftigt, während Frost in dem Besuchszimmer des Majors, das sich seinem Schreibzimmer gegenüber befand, die Kinder unserer Hauswirte abzeichnete.
Nach der Entfernung Nikolins suchte mich Frost auf und teilte mir mit, daß er einen Teil des Gespräches zwischen dem Major und dem Hauptmann erlauscht habe und daß es sich dabei um uns handelte. Mein Verkehr mit den politischen Gefangenen sei besprochen worden und Nikolin habe dabei die 89 Durchsuchung meiner Schriften für nötig erachtet, während Potuloff meinte, das würde zu viel Aufsehen erregen und es sei besser, das ganz zu vermeiden. Zum Schluß habe der Hauptmann bemerkt, daß die Durchsuchung doch vorgenommen werden müsse, wenn nicht hier in Kara, so doch anderwärts. Frost teilte mir das im Flüstertone, aber dabei ziemlich erregt mit und auch ich wurde unruhig. Zwar war es nicht wahrscheinlich, daß Potuloff eine Durchsuchung meiner Sachen in seinem Hause dulden würde, aber es wäre möglich gewesen, daß er an mich herangetreten wäre und gesagt hätte: »Lieber Georg Iwanowitsch, Hauptmann Nikolin weiß nun, daß Sie zu den politischen Gefangenen des »freien Kommandos« in nähere Beziehungen getreten sind, daß Sie lange Zeit bei denselben verbrachten und er vermutet, daß Sie Briefe von ihnen übernommen haben. Er machte mir heute den Vorschlag Ihre Effekten zu durchsuchen. Da Sie mein Gast sind, habe ich das zurückgewiesen, ich muß jedoch von Ihnen unter Ehrenwort die Versicherung verlangen, daß Sie keine derartige Schriftstücke bei sich führen.«
Hätte er so mit mir gesprochen, so wäre mir nichts übrig geblieben, als entweder den Mann, der mir Gastfreundschaft bot, zu belügen oder jene Unglücklichen zu verraten, die sich vertrauensvoll an mich wandten und denen auch meine volle Sympathie gewidmet war. Beides dünkte mich unmöglich. Aber etwas mußte geschehen und zwar rasch, denn die Gefahr war nahe. Wären meine Briefe entdeckt worden, so hätte die Armfeldt und noch einige andere zweifellos wieder ins Gefängnis zurückkehren müssen, überdies wären dann auch meine anderen Schriften entdeckt worden, was, wie schon früher einmal bemerkt wurde, vielen anderen Personen verderblich geworden wäre. In Bangen und in Unentschiedenheit mied ich vor allem mit dem Major zusammenzukommen, legte mich wegen angeblicher Unpäßlichkeit frühzeitig nieder und verbrachte eine schlaflose Nacht, in der Erwägung, was da zu thun am besten wäre. Endlich kam ich zu dem schweren Entschluß, 90 die Briefe zu vernichten. Ich konnte natürlich die Absender zuvor nicht um Erlaubnis fragen, aber ich war davon überzeugt, daß sie unter den gegebenen Verhältnissen mein Vorgehen für gerechtfertigt gefunden hätten.
Schwer, sehr schwer kam mir der Entschluß Schriften zu vernichten, die für so viele Unglückliche Hoffnung und Trost waren und so manchen ihrer Angehörigen froh willkommen gewesen wären – doch es mußte sein! Die Frage war jetzt nur, in welcher Weise diese Vernichtung vorgenommen werden sollte. Seit der Entdeckung meines Verkehrs mit politischen Gefangenen mußte ich annehmen, noch viel schärfer, als früher, beobachtet zu werden; unsere Stube hatte ferner keine Thüren, sondern war von anderen Räumlichkeiten nur durch Vorhänge geschieden; das Fenster hatte keinen Vorhang und die gegenüberstehende Schildwache konnte Tag und Nacht unser Thun und Treiben beobachten. Würde ich die Papiere nur zerreißen, so könnten die Teilchen aufgefunden und wieder zusammengestellt werden; wollte ich sie verbrennen, so könnte mich der Geruch verraten, überdies war es auch möglich, daß mich Potuloff dabei überraschte, da er häufig ohne weiteres bei mir eintrat.
Kurz, nachdem ich morgens aufgestanden war, kam ein Soldat herein und machte Feuer im Ofen. Da kam mir ein Gedanke, die Gelegenheit zu benutzen; und während Frost mit dem Major im Nebenzimmer sich unterhielt und die Schildwache, wie ich mich überzeugte, für kurze Zeit mich auch nicht beobachten konnte, schleuderte ich die Briefe ins Feuer und nach wenigen Minuten war keine Spur mehr vorhanden. Dann löschte ich in meinem Taschenbuch manches fort, schrieb manches in Chiffren nieder und versuchte auch noch in anderer Weise der drohenden Durchsuchung meiner Effekten entgegenzuwirken.
Zwei Dinge sind es, an die ich mich heute unfroh erinnere, wenn ich meines Aufenthaltes im Karagebiet gedenke: Das erste betrifft die Vernichtung der erwähnten Briefe.
Ich sah die politischen Gefangenen nicht wieder und hatte 91 auch sonst keine Gelegenheit ihnen davon Nachricht zu geben und zu erklären, welche Umstände es nötig gemacht haben und heute kommen diese Erklärungen zu spät. Fräulein Armfeldt starb etwa ein Jahr nach meinem Besuche an der Kerkerschwindsucht; den Brief, den sie mir übergeben hatte, mochte vielleicht ihr letzter gewesen sein. Und dabei erwiesen sich alle Befürchtungen als unbegründet. Major Potuloff forderte keine Erklärung von mir, meine Sachen wurden nicht durchsucht, ich hätte daher diese Briefe ebenso gut, wie später viele andere übermitteln können.
Das zweite betrifft die Person des Doktor Eduard Weimar, der zur Zeit meiner Anwesenheit im letzten Stadium der Lungenschwindsucht darniederlag und den ich zu besuchen unterlassen habe. Er gehörte zu den hervorragendsten politischen Gefangenen im »freien Kommando«, war ein Arzt, von vornehmer, reicher Familie und ungefähr 35 Jahre alt. Bis zu seiner Verschickung bewohnte er ein prachtvolles Haus auf Newski-Prospekt in Petersburg und war einige Zeit mit der Gemahlin des gegenwärtigen Zaren (Alexander III.) im Verkehr. Im Jahre 1877–1878, in der Zeit des russisch-türkischen Krieges leitete er das von der Fürstin errichtete Feldlazarett, wurde für seine vorzüglichen Dienste mit dem Annenorden und noch anderen Ehrenzeichen belohnt und erfreute sich auch der Gunst des Generals Gurko, mit dem er den bekannten Balkanübergang vornahm. Auf nicht sehr gewichtige Beweismittel hin wurde er verhaftet und nach einer einjährigen Untersuchungshaft in der Petropawlowskfestung zu Petersburg nach den Goldgruben von Kara verschickt.
Als er verurteilt wurde, äußerte sich die Londoner »Times« folgendermaßen über diese Angelegenheit:
»In einem Telegramme, das wir heute veröffenlichten, teilte uns unser Korrespondent in St. Petersburg das Urteil, das gestern über die einer nihilistischen Verschwörung Angeklagten gefällt wurde, mit. Dem Beobachter westliche Länder müssen diese Art politische Prozesse geradezu als Karikatur des 92 Rechtswesens erscheinen und diese Verhandlungen lieferten nur wieder den Beweis, daß mit Hilfe des Belagerungszustandes die Ausübung der Regierungskunst nicht sehr schwierig ist. Die Militärjustiz pflegt gewöhnlich schnell und auch streng ihr Urteil zu fällen; die russische Militärjustiz jedoch ist grausam in ihrem Zaudern, unlogisch in ihrem Denken und herzlos in ihrem Urteil . . .
Unter den Angeklagten, die gestern verurteilt wurden, befindet sich auch Doktor Weimar, ein Mann, auf den Rußland alle Ursache hätte, stolz zu sein. Seinem Wesen nach ist er ein vollkommener Gentleman; als Arzt hat er seinen leidenden Landesgenossen hingebungsvoll gedient. Er ist – besser gesagt, er war, denn heute ist er nur noch ein Sklave in den mörderischen Gruben Sibiriens – mit russischen und rumänischen Orden ausgezeichnet worden und erhielt auch die Kriegsmedaille. Er befand sich unter den Truppen des General Gurko, die damals die glänzendste Waffenthat, den Balkanübergang, vollbrachten. Die Beschuldigungen, die wider ihn erhoben wurden, die Art und Weise, wie die ganze Sache übertrieben und verdreht wurde, müßte im tollsten Possenplunder als unglaublich erscheinen . . . .
Es wurden Zeugen aufgerufen, die über seinen Charakter aussagen sollten. Jeder hatte nur Worte des Lobes für ihn. Das paßte gar nicht zur Anklage. Wenn die Beschuldigungen, die gegen Doktor Weimar vorgebracht wurden, wahr gewesen wären, so hätte man nur annehmen müssen, daß ein bedeutender, mit Recht geschätzter Bürger an die Zustände seines Vaterlandes so verzweifelte, daß er sich mit Mordgesellen, wie Solowioff und anderen in eine Verschwörung einließ. Man sollte glauben, im Lauf der Verhandlung wären Beweise erbracht worden, die den Charakter des Angeklagten minder günstig scheinen ließen und die das Lob, das ihm geworden, abzuschwächen vermochten. Nichts von alledem! Der Ankläger sagte: »Meine Herren! ich hätte eine Reihe Zeugen vorführen können, deren Aussage das Gegenteil dessen ergeben hätten, was von den anderen 93 hier ausgesagt wurde; unglücklicherweise jedoch sind die Betreffenden alle abwesend.« Dem militärischen Gerichtshof genügte natürlich diese Versicherung eines Generals vollkommen . . .
Nichts vermag ein helleres Licht auf die schauderhaften Zustände der russischen Gesellschaft und Justiz zu werfen, als dieser Vorfall: Entweder hat der unerträgliche Despotismus einen der besten Bürger Rußlands der Verschwörung in die Arme getrieben oder Doktor Weimar wurde ohne Grund verurteilt und bestraft. Wie immer auch – in jedem Falle war dieser Prozeß – wenn es sich so verhalten hat, wie die Berichte melden – eine Schmach für die Militärjustiz . . .«
Großfürstin Dagmar, die jetzige Zarin, deren Feldlazarett Doktor Weimar geleitet hatte, interessierte sich für ihn und hielt ihn auch für unschuldig; auch ihre Fürsprache vermochte damals nicht ihm zu helfen. Als jedoch im Jahre 1881 ihr Gemahl zur Regierung gelangte, sandte sie den Oberst Nord nach dem Karagebiet um Doktor Weimar die Freiheit anzubieten unter der Bedingung, daß er feierlich erkläre, nichts feindliches gegen die Regierung zu unternehmen. Er antwortete, daß er eine Erklärung nicht geben könne, so lange ihm die gegenwärtigen Zustände Rußlands unbekannt blieben. Wolle ihm die Regierung gestatten, auf sein Ehrenwort hin nicht zu entfliehen oder unter Bewachung nach Petersburg zu kommen, um die jetzigen Verhältnisse kennen zu lernen, so würde er bald sich entscheiden können. Vergeblich versuchte Oberst Nord ihn von diesem Entschlusse abzubringen, es blieb vergeblich.
Als wir im Karagebiet uns befanden, war Doktor Weimar aus dem Gefängnis schon entlassen worden, doch lag er – wie erwähnt – schwerkrank an der Schwindsucht darnieder, die er sich, wie so viele andere, in dem sibirischen Gefängnisse zugezogen hatte. Seine Schicksalsgenossen wollten mich in jener Nacht, in der ich mit ihnen in der Hütte der Armfeldt beisammen war, hinführen und sie erwähnten dabei, daß er vor Schwäche kaum mehr sprechen könne und jeden Augenblick 94 den Tod zu gewärtigen habe. Nun hatte aber mein plötzliches Erscheinen auf Fräulein Armfeldt und die anderen politischen Gefangenen des »freien Kommandos«, die sich doch in einem verhältnismäßig gesunden Zustand befanden, einen so bedeutenden Eindruck gemacht, daß ich fürchten mußte, den Todkranken durch meinen mitternächtigen Besuch gar zu sehr aufzuregen. Dieses Bedenken bereute ich später, denn Doktor Weimar starb, ohne daß ich ihn gesehen hatte. Ungefähr sechs Monate später, als ich mich auf der Rückreise wieder in Petersburg befand, besuchte mich eine junge Dame, die seine Braut war und fragte mich, ob ich ein Schreiben oder vielleicht eine mündliche Botschaft von ihm mitgebracht habe. Sie war eben daran, die weite Reise vorzunehmen, um mit Doktor Weimar in Kara ehelich verbunden zu werden, als sie ein Telegramm von Hauptmann Nikolin erhielt, wo ihr mit wenigen Worten sein Verscheiden angezeigt wurde. Seither – es waren einige Monate verflossen – hatte sie nichts von ihm vernommen; weder Doktor Weimar selbst durfte vor seinem Tode einige Zeilen an sie richten, noch war es einem der anderen Gefangenen gestattet. Sie hatte nun noch die Hoffnung, daß ich ihr eine Nachricht bringe. Es fiel mir nun sehr schwer, ihr mitteilen zu müssen, daß ich ihn während meiner Anwesenheit in Kara nicht besucht habe, obgleich die Möglichkeit einigermaßen vorhanden war.
Später besuchte ich die junge Dame. Sie erzählte mir die Lebensgeschichte dieses wackeren Mannes, las mir die Briefe vor, die er von den bulgarischen Schlachtfeldern an sie gerichtet hatte und zeigte mir auch weinend das kostbarste Angedenken, das sie von ihm besaß: eine Handarbeit, die er in seiner Gefängniszelle zu Kara angefertigt hatte und die er ihr heimlich zu senden Gelegenheit fand. Es war ein langer, schmaler Streifen grober Leinwand, wie solche zu den Sträflingshemden benutzt wird, worauf buntfarbige, geometrische Figuren zierlich eingestickt waren.
»Welche Gedanken mögen in dieser Arbeit mit eingestickt 95 sein!« rief die junge Dame unter einem erneuten Thränenerguß aus . . . .
Nach unserem letzten Besuch bei Fräulein Armfeldt blieben wir noch fünf Tage in Kara, ohne jedoch irgend etwas vorzunehmen, da wir uns scharf beaufsichtigt wußten. Ich will daher statt die weniger interessanten Begebenheiten unseres weiteren Aufenthalts hier zu schildern, lieber jenes in gedrängter Kürze vorbringen, was ich im Karagebiet über die dortigen Gefängnisse erfahren habe. Was da mitgeteilt wird, beruht vollkommen auf Wahrheit und ich habe es nicht ohne sorgfältige, vorherige Prüfung niedergeschrieben. Viele der Daten stammen sogar aus amtlichen Quellen. Es ist möglich, daß sich dabei unwesentliche Irrtümer eingeschlichen haben, aber für die Richtigkeit alles Wesentlichen dieser Angaben kann ich vollständig und vor jedermann einstehen. Was hier von Oberst Kononowitsch mitgeteilt wird, erfuhr ich teils von politischen Gefangenen, teils wieder von Beamten in Kara, Tschita, Irkutsk und Petersburg. Ich bedauere, daß es mir nicht möglich ist näher anzugeben, woher und in welcher Weise ich zu diesen Daten gelangte. Es müßte den Eindruck meiner Worte kräftigen, wenn ich darlegen wollte, daß meine Angaben von der glaubwürdigsten Seite herrühren, von Leuten deren Persönlichkeit und Stellung genügende Bürgschaft bieten, um jeden Verdacht der Parteilichkeit ausschließen zu können.
Bereits im Jahre 1873 wurden Leute politischer Vergehen wegen nach den Karagruben verschickt, aber erst später, im Jahre 1879, wurde es allgemeiner. Die meisten zur Zwangsarbeit verurteilten politischen Verbrecher wurden bis zur letzterwähnten Zeit in der Petropawlowskfestung zu Petersburg oder im großen Gefängnis zu Charkoff gefangen gehalten.
Da jedoch die revolutionäre Bewegung immer mehr Ausdehnung gewonnen hatte und die Gefängnisse im europäischen Rußland mit politischen Häftlingen sich füllten, ließ der Minister des Innern die am meisten beschuldigten Gefangenen nach 96 den Karagruben überführen, wo sie im Gefängnis der gemeinen Verbrecher untergebracht wurden, da jenes für politische Häftlinge damals noch nicht bestand. Sie wurden in den sogenannten »Geheimzellen« in Einzelhaft gehalten. Später wurden sie in einem isolierten, alten Gebäude in Mittel-Kara untergebracht. Sie wurden wie gewöhnliche Verbrecher behandelt, mußten in den Goldwäschereien arbeiten und erhielten nach einer gewissen Zeit der Vergünstigung im »freien Kommando« wohnen zu dürfen.
Im Dezember des Jahres 1880 befanden sich in den Gefängnissen von Kara ungefähr fünfzig politische Häftlinge und neun wohnten unter dem »freien Kommando« in verschiedenen Hütten. Die meisten der Männer mußten in den Goldgruben Zwangsarbeit verrichten; indes waren sie dort nicht übermäßig angestrengt und es war ihnen sogar lieb, aus den schmutzigen, stinkenden Zellen herauszukommen, um täglich einige Stunden an der frischen Luft zu arbeiten.
Die Leitung der Strafkolonie lag damals in den Händen des Obersten Kononowitsch, eines gebildeten, humanen Offiziers, den heute noch die Gefangenen in freundlicher Erinnerung haben. Es ließ sich nicht behaupten, daß er mit den Revolutionären auch nur im geringsten sympathisiert hätte; aber er wußte, daß die Mehrzahl dieser Sträflinge edle, gebildete Menschen waren und er wußte, wenn er auch ihre Handlungsweise tadeln mochte, daß deren Beweggründe nicht aus der Selbstsucht erwuchsen; er behandelte sie daher mit gütiger Rücksicht und erleichterte jedem, so weit es möglich war, sein trauriges Los.
Zu seiner Zeit befanden sich im Gefängnis von Kara einige politische Verurteilte, die auf Befehl des Gendarmerieoffiziers als Disciplinarstrafe an ihren Schiebkarren gefesselt wurdenLaut Vorschrift ist diese Strafverschärfung auch heute noch zulässig und wird Leuten gegenüber angewendet, die auf lebenslängliche Zwangsarbeit verurteilt wurden. Der Häftling wird an seinen kleinen Bergwerkskarren gefesselt, wobei ihm die Kette nur eine geringe freie Bewegung gestattet. Er kann nicht im Freien gehen, ja nicht einmal die Zelle durchschreiten, ohne den Karren mitschleppen zu müssen; selbst wenn er schlafen geht, wird er nicht davon befreit. Damals erhielten vier politische Gefangene in Kara diese Strafverschärfung; sie hießen: Popeko, Bereznink, Fomitscheff und Tschedrin. Der Letztgenannte wurde erst im Jahre 1884 vom Karren erlöst.. Oberst Kononowitsch war dieser ebenso grausamen, 97 wie entwürdigenden Behandlung feindlich gesinnt, allein es lag nicht in seiner Macht hier eine Änderung vorzunehmen; aber er befahl wenigstens, so oft er eine Inspektion des Gefängnisses vornehmen wollte, daß die Betreffenden während dieser Zeit von ihren Karren befreit werden und ihm derart der traurige Anblick erspart bliebe.
Ungefähr Ende des Jahres 1880 erschienen einige Verordnungen des Ministers des Innern, welche die kargen Rechte der politischen Gefangenen noch verringerten; so wurde ihnen unter anderem auch verboten mit ihren Verwandten und Bekannten einen schriftlichen Verkehr zu pflegen; es wurde ihnen ferner untersagt in den Goldwäschereien zu arbeiten, womit ihnen die Gelegenheit benommen wurde, die frische Luft zu atmen und durch körperliche Thätigkeit einen Teil der Zeit auszufüllen; endlich kam sogar ein Befehl, wonach das »freie Kommando« aufzuheben wäre, alle die ihm angehörten, wieder ins Gefängnis mußten, wo ihnen Fesseln angelegt werden sollten und, wie den gemeinen Verbrechern, eine Seite des Hauptes kahlzuscheren. Diese Befehle wurden von dem »liberalen« Minister Loris Melikoff erteilt. Ich kann mir nicht erklären, warum er diese verschärften Maßregeln anordnete, da er anderseits wieder eine liberale Anschauung kundzugeben bemüht war. Manchen Beamten in Sibirien gegenüber äußerte ich bezüglich dessen mein Erstaunen und erhielt da verschiedene Erklärungen zur Antwort. Die einen glaubten, er wollte, daß die politischen Gefangenen ihr Vergehen härter zu fühlen bekommen; andere wieder wollten seine Maßregeln auf mangelhafte Information zurückführen, eine Ansicht, der auch ich mich zuneigen möchte; die meisten der politischen 98 Gefangenen jedoch waren keineswegs so mild gesinnt, sondern hielten Melikoffs liberale Äußerungen für eitele Heuchelei.
Oberst Kononowitsch war mit diesen Verordnungen nichts weniger als zufrieden und er machte die größten Anstrengungen, um einen Widerruf zu veranlassen oder wenigstens doch eine Milderung. Allein all sein Bemühen war fruchtlos. So berief er denn am 28. Dezember die im »freien Kommando« Lebenden, teilte ihnen die Verordnungen mit, bemerkte, daß er sich vergeblich bemüht habe, die Ausführung dessen zu hintertreiben, daß er aber auf eigene Verantwortung hin ihnen einen dreitägigen Aufschub zur Ordnung ihrer Angelegenheiten gewähren wolle. Am 1. Januar jedoch müßten sie ins Gefängnis.
Es war ein harter Schlag der hiermit die Sträflinge des »freien Kommandos« getroffen!
Zwei Jahre hatten sie nun in einer Weise gelebt, in der ihnen doch ein wenig Freiheit gegönnt war, viele von ihnen vereint mit Weib und Kind, die von weiter, weiter Ferne herbeigekommen waren und nun sollten sie alles lassen müssen, um wieder ins Gefängnis zurückzukehren, das vor Ungeziefer starrte und dessen ekelhafte Luft mit den verderblichsten Miasmen durchsetzt war. Manche von ihnen waren auch körperlich so leidend, daß für sie der Aufenthalt im Gefängnis der Tod bedeuten mußte.
Unter denjenigen, die damals im »freien Kommando« lebten, befand sich auch Eugen Semjonofski, ein Jurist, 33 Jahre alt. Er war der Sohn eines bekannten Arztes in Kiew und wurde von allen, die ihn kannten, hochgeschätzt; er war Rechtsanwalt in Petersburg und wurde verurteilt, weil er mit dem Organ der Revolutionspartei, der Zeitung »Vorwärts« in Verbindung stand. Etwa fünf Jahre verbrachte er im Gefängnis zu Kara, dann wurde er dem »freien Kommando« zugeteilt, weil es recht arg mit seinem Gesundheitszustand war. Als sich die Gefangenen des »freien Kommandos« am Sylvesterabend zum letztenmale außerhalb der 99 Gefängnismauern versammelten, schien Semjonofski niedergeschlagener, als gewöhnlich und als sie auseinandergingen, verabschiedete er sich mit besonderer Herzlichkeit von seinen Leidensgenossen. Einer derselben, Namens Tscharuschin, mit dem er eine Hütte bewohnte, wurde in der zweiten Morgenstunde durch den Schall eines Schusses geweckt. Er eilte in das Stübchen seines Genossen und sah diesen mit durchschossenem Haupte vor sich liegen; er lebte zwar noch, doch erlangte er nicht wieder die Besinnung und starb eine Stunde später. Auf dem Tische lag ein Brief für Tscharuschin, worin er ihn bat, das beigeschlossene Schreiben, wenn möglich, seinem Vater zukommen zu lassen. Das Schreiben lautet in der Übersetzung ungefähr folgendermaßen:
Sylvesternacht 1880/81.
Mein lieber Vater!
Ich komme soeben von meinen Genossen, in deren Mitte ich das alte Jahr vollendet habe. Das neue beginnt für uns unter den traurigsten Verhältnissen. Vielleicht hast du den Brief der Frau eines meiner Genossen erhalten; ich bat sie, dir mitzuteilen, daß uns verboten wurde Briefe zu schreiben, selbst nicht an unsere Eltern. Das mag für grausam gelten, aber es kam noch Grausameres, was ich dir erst jetzt mitteilen kann, da ich es früher nicht wußte. Ungefähr zehn Tage, nachdem der erwähnte Brief geschrieben wurde, teilte man uns mit, daß wir wieder in das Gefängnis zurückkehren müßten und wieder gefesselt wurden. Wir sind unser neun: Schischko, Tscharuschin, Kwiatkofski, Uspenski, Sojuzoff, Bogdanoff, Terentieff, Tewdul und ich, die in den letzten zwei Jahren doch ein wenig Freiheit genossen haben. Aber seit Loris Melikoff uns verboten hatte, Briefe zu schreiben, lebten wir im Gefühl, daß noch Ärgeres nachkommen würde. Morgen sollen alle wieder ins Gefängnis; ohne die Rücksicht des Obersten Kononowitsch wäre es schon bei Eintreffen des Befehles geschehen. Er gewährte uns eine Frist von etlichen Tagen, um unsere 100 Angelegenheiten zu ordnen. Wir haben den letzten Tag unsere Freiheit benutzt, um den Schluß des alten Jahres zu feiern; ich will ihn noch zu einem andern Zweck gebrauchen. Ob ich dabei nicht einen Vertrauensmißbrauch an Oberst Kononowitsch begehe? Und wenn auch, ich kann nicht anders!
Wer da die Worte liest: »Morgen sollen alle ins Gefängnis,« könnte uns vielleicht mit einer Herde Hammeln vergleichen, die willig zur Schlachtbank sich führen läßt; das wäre ungerecht geurteilt. Das einzige was wir dagegen thun könnten, wäre fliehen, aber wie? wohin? ohne irgendwelche Ausrüstung, bei einer Kälte von 35 Grad. Übrigens, warum wir nicht fliehen, besagt dir auch deutlich der Brief, den ich dir am letzten August geschrieben habe.
Wäre der Befehl zur Rückkehr ins Gefängnis im Frühling gekommen, so hätte ich die Flucht ergriffen, da wäre wenigstens die Hoffnung des Erfolges vorhanden gewesen und ich konnte auch geeignete Vorkehrungen treffen. Nun ist es aber anders gekommen! Ich fühle, daß meine Kräfte mit jedem Tage abnehmen und ich befürchte, daß auch mein Gehirn davon ergriffen wird, daß ich blödsinnig werde. Und das geschieht, wo ich außerhalb der Gefängnismauern weile; wie mag es erst werden, wenn ich wieder innerhalb derselben bleiben muß. Bisher hielt mich nur die Hoffnung aufrecht, daß ich früher oder später doch nach Rußland zurückkehren werde und der guten Sache, der ich mein Leben geweiht, wieder werde nützen können.
Was aber könnte ihr ein Mensch nützen, der körperlich und geistig gebrochen wurde! Und was bleibt mir sonst noch zu hoffen, wenn jene Hoffnung mir schwindet! Rechtfertigung vor mir selbst? Ehe die Stunde der Befriedigung dieses Wunsches gekommen ist, könnte man mich zehnmal auf die Folter spannen.
So kam ich denn zu dem Beschluß, daß mein Leben zwecklos sei und daß ich ein Recht habe es zu beenden. Lange schon bin ich müde, müde von allem und nur der Gedanke 101 an die Heimat hat mich bisher vor der Selbsttötung bewahrt. Ich weiß, daß ich dir, lieber SaschaAlexander, der Lieblingsbruder des Briefschreibers., argen Schmerz damit bereite, dir und allen, die mich lieben. Aber sollte euere Liebe nicht edel genug sein, um einem Menschen, der bis zum Äußersten gequält wurde, den Selbstmord zu verzeihen? Ich bin ja in der Zeit der letzten fünf Jahre thatsächlich zu Tode gepeinigt worden. Um alles, was euch teuer ist, beschwör' ich euch, verzeiht mir! Ihr wißt ja, daß euch meine letzten Gedanken gelten, daß ich euch zu Liebe weiter leben wollte, jedoch meine Kraft reicht nicht länger aus. Wahnsinn oder Tod! – Diese Wahl bleibt mir und da wähle ich das letztere.
Für ewig Lebewohl, treuer Vater und Freund! Lebewohl, Sascha und du mein jüngster Bruder, den ich kaum kenne. Und haltet im Gedanken: besser ein Tod, sei es auch ein Tod wie meiner, als ein Leben ohne Ehre und Charakter.
Nochmals – lebt wohl! Gedenkt im Guten eures Sohnes und Bruders, der selbst in seinem Unglück noch Trost finden konnte.
Eugen.
Auf dem Friedhof der politischen Verbrecher, einem einsamen Hügel, der »Sträflingskopf« benannt wird, haben sie eingebettet, was von Eugen Semjonofski vergänglich war. Das einfache Holzkreuz auf seinem Grabe wird vermodern und dann wird niemand mehr die Stelle finden können, die letzte Ruhestätte eines Mannes, dessen bedeutende Fähigkeiten und edler Charakter ein heilsames Wirken im Dienste der Freiheit und Humanität ermöglicht hätte.
Oberst Kononowitsch fühlte sich durch den Selbstmord Semjonofskis aufs Peinlichste berührt: aber es sollte noch Ärgeres kommen. Dieser Selbstmord war nur das erste Glied einer Kette trauriger Vorfälle, hervorgerufen durch die von der Regierung vorgenommenen Verschärfungen: Bald nach diesem Selbstmord vergiftete sich ein politischer Gefangener Namens Rodin, indem er eine aus Zündholzköpfchen gebildete Phosphorlösung 102 trank; der im Briefe erwähnte Uspenski erhängte sich im Badehause und Frau Kawalofskaja, die Schwester des russischen Nationalökonomen Wowethoff wurde tobsüchtig, so daß man endlich genötigt war ihr die Zwangsjacke anlegen zu müssen.
Oberst Kononowitsch wurde von diesen entsetzlichen Vorfällen derart erschüttert, daß er beschloß, seine Stelle als Leiter der Strafkolonie unter allen Umständen aufzugeben. Er schrieb also dem Generalgouverneur und auch dem Minister des Innern und erklärte dabei, die neuen Verordnungen wären nicht nur unklug, sondern auch grausam. Wenn man die Gefangenen in dieser Weise behandeln wolle, so möge man zur Ausführung einen Henker hersenden, er sei keiner und könnte sich auch nicht entschließen Befehle zu vollziehen, wo er seinen Gefühlen gar zu arge Gewalt anthun müsse. Er müsse daher um seine Entlassung bitten.
Er erhielt sie. Im Sommer 1881 verließ Oberst Kononowitsch das Karagebiet und begab sich bald darauf nach St. Petersburg. Während seiner Durchreise in Irkutsk bemerkte ihm der Generalgouverneur Anuschin in kühler, geringschätziger Weise: »Ein Mann mit Ihren Anschauungen paßt in der That nicht auf die Stelle eines Leiters des Karagebietes. Ja ich meine sogar, daß Sie überhaupt nicht zum Dienste der Regierung sich eignen.«
»Dann will ich ihn ganz verlassen,« antwortete der Oberst.
In Petersburg hatte er mit dem damaligen Sekretär des Ministerium des Äußern, Herrn Durnowo eine Besprechung und dabei äußerte sich der Oberst unter anderem auch, wie folgt:
»Ich habe daß Gesetz stets geachtet und dabei auch von anderen auch dasselbe zu erzwingen gewußt. Wollen Sie die politischen Sträflinge in Kara zum Gehorsam gegen das Gesetz und zur Achtung vor der Regierung veranlassen, so müssen Sie ihnen Vorgesetzte geben, die von meinen Grundsätzen beseelt sind. Was ich gethan habe, geschah sicherlich nicht mir zu Liebe, es konnte mir nur schaden und Sie dürften sicherlich von 103 den anderen Anklagen wider mich erhalten haben. Allein ich fürchte keine Gegner und werde nie etwas thun, was ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Die Verordnungen der Regierung machten mir es unmöglich, länger die Leitung der Gefängnisse von Kara zu behalten und darum gab ich meine Entlassung. In einem ähnlichen Falle könnte ich nicht anders, als wieder so handeln.«
Die weiteren Begebenheiten in der Strafkolonie zu Kara, die dem Leser im Nachfolgenden auch geschildert werden sollen, mögen den Sekretär des Ministeriums mehr als einmal die Worte dieses wackeren, offenherzigen Mannes in Erinnerung gebracht haben.
Ich habe leider von wenigen Gefängnissen in Sibirien und auch nur von wenigen der dortigen Beamten etwas zum Lob sagen können, umsomehr aber freut es mich melden zu können, daß Oberst Kononowitsch fast allgemein gelobt wurde. Sowohl die politischen Sträflinge, wie auch der anständige Teil der Beamten und Bürgerschaft schätzten ihn als einen gebildeten, menschlich gesinnten und auch unbestechlichen Mann. Fast alle Verbesserungen, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren im Karagebiet eingerichtet wurden, sind auf die Zeit zurückzuführen, wo er dort die Leitung hatte. Es ist daher zu bedauern, daß er von der ärgsten Art russischer Beamten aus Sibirien verdrängt wurde. Ihnen galt er als »schwach« und »sentimental«, und sie hielten ihn für einen »Socialisten« der mit den politischen Gefangenen heimlich sympathisiere. Der Isprawnik von Nertschinsk wagte sogar im Klub die Äußerung, er werde es schon dahin bringen, daß Oberst Kononowitsch mit dem gelben Sträflingsfleck auf dem Rocke nach der Provinz Jakutsk verschickt werde.
Die höheren Beamten waren den wider ihn gerichteten Klatschereien leicht zugänglich, was auch nachfolgendes beweisen kann.
Im letzten Jahre seines amtlichen Wirkens in Kara wurde ein junger Pole Namens Bibikoff als politischer Gefangener 104 dahin verschickt. Die vielen Leiden, die er während des Transportes erdulden mußte, hatten ihn mißtrauisch gegen jedermann und auch ganz wild gemacht; in jedem den er erblickte, sah er einen Feind, den er kämpfend abwehren müsse. Kononowitsch nahm ihn freundlich auf, sandte ihm durch Vermittelung der Frau eines Gefangenen frische Wäsche, sorgte auch in anderer Weise für seine nötigsten Bedürfnisse und versuchte ihn mit der Zusicherung zu beruhigen, daß ihn niemand beleidigen, oder sonst ein Leid anthun werde. Der junge Gefangene war von dieser unerwarteten Freundlichkeit ganz überrascht und dem gab er auch Ausdruck in einem Schreiben, das er später an einen seiner Freunde in Rußland richtete. »Ich bin,« schrieb er, »nachdem ich Oberst Kononowitsch kennen gelernt habe, zur Überzeugung gekommen, daß ein russischer Oberst doch nicht bar alles menschlichen Gefühles sein muß«. Dieses Schreiben wurde in Rußland von der Polizei aufgefangen und der Minister des Innern sandte es an den Gouverneur von Transbaikalien, General Iliaschewitsch, damit er den Oberst Kononowitsch auffordere, die Sache zu erklären; das Schreiben schien als Beweis zu gelten, für die Sympathie des Obersten mit den politischen Gefangenen. Kononowitsch ließ die Zuschrift des Gouverneurs unbeantwortet und als er einige Zeit später in dienstlichen Angelegenheiten den Gouverneur in Tschita aufsuchte, fragte ihn dieser, ob er sein Schreiben erhalten habe.
»Jawohl,« antwortete Kononowitsch, »doch welche Antwort hätte ich Ihnen da geben sollen? Bedarf es einer Rechtfertigung, daß ich nicht für »bar alles menschlichen Gefühles« gehalten werde?«
Der Gouverneur wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte, fast verlegen, meinte er, sein Sekretär dürfte sich nicht ganz richtig ausgedrückt haben und brachte dann andere Angelegenheiten ins Gespräch, ohne auf die Sache noch einmal zurückzukommen.
Als Oberst Kononowitsch sein Kommando im Karagebiet verlassen hatte, übernahm er in Nertschinsk jenes der Kosaken 105 Transbaikaliens. Hier kam er bald dahinter, daß einige Offiziere mit dem Isprawnik sich verbunden hatten, um Militärpflichtige gegen Zahlung von einigen hundert Rubeln vom Dienst zu befreien. Er versuchte die pflichtvergessenen Offiziere zur Rechenschaft zu ziehen, doch diese besaßen in Irkutsk einflußreiche Freunde; sie versuchten die Anschuldigungen mit Gegenanklagen zu erwidern und es hätte wirklich dahin kommen können, daß der Oberst mit dem erwähnten »gelben Flecken auf dem Sträflingsrock« versehen nach Jakutsk verschickt worden wäre, hätte auch er nicht einflußreiche Freunde in Petersburg gehabt. Er wandte sich an diese und an den Minister des Innern und konnte endlich doch erreichen, daß eine andere Untersuchungskommission ernannt wurde. Der Isprawnik und die anderen Schuldigen wurden gefangen genommen und bald auch durch Schriftstücke ihrer Schuld überwiesen. Nun zündeten die Genossen der Verhafteten in einer kalten Winternacht das Haus des Oberst an, so daß er und seine Familie verbrannt wären, wenn sie nicht im Nachtgewand aus dem brennenden Hause geflüchtet wären. Nachdem er seine Familie in Sicherheit wußte, eilte er zurück, um die bei ihm verwahrten und auf den Prozeß sich beziehenden Schriftstücke zu retten, was aber infolge Rauch und Flammen nicht möglich wurde. So waren denn fast alle Beweismittel für diese Anklage vernichtet. Jetzt war er zur Erkenntnis gekommen, daß in Sibirien nicht seines Bleibens sei, daß er nicht in einem Lande leben könne, wo der ehrliche Mensch der Gefahr sich aussetze, bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden. Er ging nach Petersburg. Hier erhielt er eine Stellung im Generalstab, in der er bis im Sommer des Jahres 1888 verblieb, in welcher Zeit er zum General avancierte und das Kommando der wichtigen sibirischen Strafkolonie auf der Insel Sachalin übernahm.
Zu den letzten von Oberst Kononowitsch im Karagebiet getroffenen Neuerungen gehörte auch die Errichtung eines Gefängnisses für politische Häftlinge bei der »Unteren 106 Goldwäscherei.« Oberst Nikolin verwehrte uns den Eintritt. Es unterscheidet sich im äußeren wenig von anderen dergleichen Bauten, doch soll es viel heller, luftiger und geräumiger sein, außer der Krankenabteilung noch vier Zellen enthalten, die für 25 Personen eingerichtet sind. Betten sind nur in der Krankenabteilung vorhanden; die Häftlinge haben nur jenes Bettzeug, das sie sich selbst verschaffen. Ursprünglich war nicht das ganze Gebäude mit dem hohen Pfahlwerk umgeben. Generalgouverneur Anutschin fand dies jedoch bei einem seiner seltenen Besuche für ungebührlich. »Das Gefängnis ist kein Palast« meinte er cynisch und befahl den ganzen Bau mit hohen Pfählen zu umgeben, so daß den Gefangenen auch nicht der geringste Ausblick mehr übrig blieb. Das war wohl keine Eingebung der Laune, sondern zweifellos die wohlüberlegte Absicht, den politischen Gefangenen ihr hartes Geschick noch mehr fühlen zu lassen. Es sollte ihnen verwehrt sein, den Anblick des hellen Sonnenscheins, der grünen Flur und des Purpurrots der Dämmerung genießen zu können; es sollte ihnen verwehrt sein Menschen zu sehen, die nicht das Kleid der Gefängnishüter tragen.
Mehr als einmal wünschte ich heimlich, Seine Excellenz, der Herr Generalgouverneur möge nur für die Dauer eines einzigen Jahres in das Gefängnis der politischen Verbrecher zu Kara gesperrt werden, daß er 365 Tage den Ausblick nur auf das verwitterte Pfahlwerk habe, daß er 365 Nächte auf der harten Pritsche voll Ungeziefer zu schlafen versuche, daß er 52 Wochen lang, Tag und Nacht, die verpestete, vom Gestank der Unratkübel durchsetzte Atmosphäre der Zellen einatmen müsse. Dann erst wird ihm ganz zur Erkenntnis kommen, die Bedeutung seines Ausspruches: »Das Gefängnis ist kein Palast!« 107