George Kennan
Sibirien
George Kennan

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1. Verbannte in Irkutsk.

Unsere Reise von Tomsk nach Irkutsk bot uns in mancher Hinsicht noch größere Mühseligkeiten, als die von Tjumen in das Altaigebirge. Die Straßen waren durch anhaltenden Regen fast unfahrbar gemacht; das Wagengerüttel schuf uns heftige Kopfschmerzen und verhinderte den Schlummer; in den Posthäusern bekamen wir keinen nahrhaften Bissen zu essen, oft sogar nicht einmal etwas Warmes; wir wurden ferner von dem Ungeziefer gequält, das wir in Etappengefängnissen und anderen Orten unfreiwillig bekommen hatten, und überdies verspürten wir, besonders nachts, empfindlich die Kälte, da wir uns noch nicht mit warmen Kleidern genügend versehen konnten. Aber von alledem empfanden wir das Ungeziefer als ärgste Plage; Hunger, Schlaflosigkeit, Kälte vermochte ich geduldig hinzunehmen, doch Flöhe, Läuse, Wanzen nicht los zu werden, das wirkte niederdrückend auf mein Gemüt, daß ich mich gewissermaßen vor mir selber schämte. Überall nistet es sich ein, in Kleidern und Kissen, in Spalten und Ritzen unseres Wagens und jedes Bemühen sich davon zu befreien, war vergeblich. So schickte ich mich denn ins Unvermeidliche. Volle vier Monate währte diese Qual, und als ich mich nach unserer neuntägigen Fahrt von Krasnojarsk nach Irkutsk hier zum erstenmale wieder umkleiden konnte, da sah ich, wie arg mein Körper zugerichtet war; es schien, als hätte ich einen Ausschlag. Der Leser wolle gütigst diese unschöne Erörterung verzeihen, ich wollte damit nur verdeutlichen, was das Etappenleben und die Verschickung nach Sibirien, auch nach dieser Richtung hin zufolge hat und wie dergleichen ein gebildeter Mensch empfinden muß.

4 Um Mitte September wurde die Witterung endlich günstiger; in südöstlicher Ferne sahen wir die schneeigen Höhen des Tunkas, der nahe des Baikalsees, an der Grenze der Mongolei sich befindet, wir konnten daher nicht mehr weit entfernt von Irkutsk sein.

Sonntag morgens, am 13. September, fuhren wir auf guter Straße am Ufer der schnellfließenden Angara. Ringsum waren gut bebaute Felder, die die Nähe eines größeren Ortes vermuten ließen. Um die zweite Nachmittagsstunde gelangten wir zur letzten Poststation, wo der Pferdewechsel stattfand. In der Erwartung, dem Ziele nicht mehr fern zu sein, wo uns auch Ruhe, Schlaf und einige Bequemlichkeit geboten wird, wo wir Briefe aus der Heimat zu empfangen hofften, betraten wir das Wartezimmer und fanden da an der Wand die für uns so interessanten Worte und Zahlen verzeichnet: »Poststation Bokofskaja. Entfernung von St. Petersburg 5601 Werst. Entfernung von Irkutsk 13 Werst.« Die Bedeutung dieses Zahlenunterschiedes vermag nur jener zu ermessen, der in Rußland 5601 Werst zurückgelegt hat und nur noch 13 Werst vom Ziele sich entfernt weiß.

Nach dem Pferdewechsel fuhren wir den Fluß entlang, häufig ausspähend, ob wir schon die vergoldeten Kuppeln der Kathedrale von Irkutsk gewahren könnten. In den achtzehn Jahren, die seit meinem letzten Besuche in Irkutsk verflossen waren, brannte die Kirche nieder und wurde indessen auch wieder aufgebaut; aber ich befürchtete, sie wäre nun nicht in ihrer eigenartigen Schönheit erstanden. Auf dem halben Wege ungefähr, kamen wir an dem Kloster Wosnosensk vorüber, vor dessen Thor eine Menge schmutziger und abgerissener Pilger standen; etwas weiter begegneten wir unbewaffneten Soldaten, Hausierern und Gesindel aller Art. Sie hatten den Sonntag in der Stadt zugebracht und kehrten nun in ihre, nächst der Stadt liegenden Heimatsdörfer zurück. Die Mehrzahl war betrunken, was wohl die Menge Schnapsbuden, die an der Straße sich befanden, erklären, aber nicht entschuldigen konnten.

5 Wir übersetzten auf der Fähre den Angarafluß und befanden uns bald in den Straßen von Irkutsk. Ich war enttäuscht!

Vom jenseitigen Ufer aus, in seiner grünen Umrahmung gesehen, hat die Stadt mit ihren schimmernden Kuppeln und hellen Glockentürmen das Aussehen einer orientalischen Niederlassung, während man, in den Straßen sich befindend, sieht, es wäre wohl eine große, wohlhabende und geschäftige russische Provinzialstadt, aber auch eine unregelmäßig gebaute, die aller Reize entbehrt. In dem neuen luxuriös gebauten »Moskauer Hof« und auch im »Hotel Sibirien« fanden wir alle Stuben besetzt, wir begaben uns daher ins »Hotel Deko«, wo wir, ermüdet, ein Bad und die Mahlzeit nahmen und dann sofort zur Ruhe uns begaben.

Montag schickten wir unsere Pässe zur Polizei.

Freund Frost begab sich zum Flusse um dort einige Skizzen aufzunehmen, während ich in der Stadt herumstrich, in der Hoffnung, vielleicht einen Verbannten aufzufinden, an den ich einen Empfehlungsbrief hatte.

Irkutsk liegt am rechten Ufer des Angaraflusses, etwa 65 Kilometer entfernt von dessen Mündung in den Baikalsee. Die Stadt zählte damals 36 000 Einwohner und war somit die größte von ganz Sibirien. Sie besaß eine gutgeleitete Zeitung, den »Sibir«, der später von der Regierung unterdrückt wurde; ein gutes Theater, eine öffentliche Bibliothek, eine geographische Gesellschaft und etwa dreißig Unterrichtsanstalten. Der Handelsverkehr belief sich durchschnittlich jährlich auf elf Millionen Rubel.

Von der großen Feuersbrunst im Juli 1879, die mehr als die Hälfte der Stadt zerstörte, hatte sich diese noch immer nicht erholt. An vielen Stellen ließ sich noch die Gewalt der Vernichtung erkennen und die Neubauten machten just nicht den Eindruck gediegener Herstellung, so daß man sich weit eher in einer plötzlich emporgeschossenen Ansiedlung wähnte, als in einer Stadt, deren Gründung auf das Jahr 1652 6 zurückzuführen ist. Nach meiner Ansicht hat Irkutsk seit 1867, wo ich, wie bereits erwähnt ist dort war, viel von seiner Schönheit und Anziehungskraft verloren. Eines der interessantesten und dem Anscheine nach auch eine der ältesten Baulichkeiten war das im unteren Stadtteil befindliche, massiv gebaute Pulvermagazin, das vom Feuer verschont blieb. Das Dach war mit Gras und Unkraut bewachsen, an seinen dicken Mauern schmiegten sich Verkaufsbuden, die in den meisten Tagesstunden von Buriaten, Mongolen, Kosaken und Muschiks umringt waren, da hier alles Mögliche zu erschachern war, ein Taranta sowohl, wie ein Paar alte Stiefel.

Nachdem ich zwei bis drei Stunden herumgeschlendert, da und dort ein Empfehlungsschreiben abgegeben, kehrte ich ins Hotel zurück, wo der Diener ängstlich mir die Nachricht gab, der Polizeileiter sei vor kurzem hier gewesen und habe den Befehl gegeben, wir mögen ihn sofort nach unserer Heimkunft besuchen. Aus seiner Praxis schien der Diener die Erfahrung geschöpft zu haben, daß ein Besuch des Polizeileiters keineswegs etwas Gutes bedeuten will und, obgleich er keine Frage an mich zu richten sich erlaubte, sah er mich doch mit bekümmerten Frageblicken an. In unserer Stube fand ich zwei Besuchskarten des obersten Polizeibeamten vor. Es war uns beschieden mit diesem Herrn näher bekannt zu werden; er stand zu einem der entsetzlichsten Vorfälle, den die Verschickung aufzuweisen hat in Beziehung: zum Hungerstreik im Gefängnis zu Irkutsk.

Ich wußte nicht, daß in unserem Thun etwas gewesen wäre, was den Verdacht der hiesigen Polizei hätte erwecken können und grübelte vergeblich nach der Ursache dieser polizeilichen Einladung. Ich hatte mir jedoch zur Regel gemacht, jeder derartigen Aufforderung raschestens Folge zu leisten und so fuhr ich denn mit Mister Frost nach der Wohnung des Polizeiobersten, Hauptmann Makofski; da er jedoch abwesend war, gaben wir unsere Karten ab und fuhren ins Polizeiamt, wo er ebenfalls nicht war. Nun glaubten wir dieser Pflicht 7 Genüge geleistet zu haben, ich kehrte in den Gasthof zurück und Frost ging wieder aus zu skizzieren. Eine halbe Stunde später kam der Hoteldiener wieder mit besorgter Miene in meine Stube und brachte mir wieder die Karte des Hauptmanns Makofski. Zwei Besuche innerhalb zweier Stunden – das verwunderte mich ein wenig, aber ich säumte natürlich nicht, den Herrn ersuchen zu lassen, er möge eintreten.

Einige rasche, sporenklirrende Schritte und der Polizeichef in voller Uniform stand vor mir.

Ich glaubte nun, es werde eine unangenehme Erörterung folgen, unsere Pässe mögen nicht in Ordnung gewesen sein, oder meine Verbindung mit politischen Verschickten zur Sprache kommen. Wie erstaunte ich jedoch, als ein hübscher Offizier in den Mitteljahren, mit blauen Augen, kurzgeschnittenem Haar und braunem Vollbart freundlich auf mich zukommen sah um mich mit den Worten zu begrüßen: »Ich bin Polizeichef Makofski. Es freut mich nun, Sie persönlich kennen zu lernen, da ich Ihr Buch über Sibirien bereits kenne. Ich betrachte es für meine Pflicht, jeden illustren Reisenden, der hierher kommt, zu besuchen und ihm meine Dienste anzubieten.«

Ich war ganz erstaunt über diese unerwartete Begrüßung und fand kaum ein Wort der Erwiderung. Bald aber kamen wir in ein lebhaftes Gespräch, das sich hauptsächlich um Sibirien und Irkutsk selbst bewegte.

»Sie dürften sich« bemerkte da Makofski, »für das Gefängniswesen interessieren. Ich glaube, das hiesige Gefangenhaus werden Sie in bester Ordnung finden. Ich will Ihnen jemand schicken, der Sie dahin begleiten soll und ich werde auch nicht Ihren Besuch anmelden. Sie sollen es in seinem Alltagszustand zu Gesicht bekommen.«

Der Mann gefiel mir.

Im Laufe des Gespräches räumte er ein, daß das Verschickungssystem im Argen sei, er meinte jedoch auch, es sei keine Aussicht vorhanden auf rasche Besserung. Das größte Hindernis bildet da die Geldfrage. Die Organisation des 8 Gefängniswesens im europäischen Rußland ist schon längst beabsichtigt worden, allein der Bau von zwanzig neuen Gefängnissen würde wenigstens zehn Millionen Rubel erfordern und das kann für diesen Zweck nicht beschaffen werden.

Indes war auch Freund Frost zurückgekehrt. Der Hauptmann verabschiedete sich bald und ersuchte uns dabei ihn recht bald und ganz zwanglos zu besuchen.

Nachdem er fortgegangen war, dachte ich ein Weilchen über seine Person nach, doch konnte ich mir kein entschiedenes Urteil bilden. Seine lächelnde Liebenswürdigkeit, seine überaus freundliche Höflichkeit schien mir etwas Gekünsteltes an sich zu haben. Aber – hatte ich eigentlich ein Recht, die Unaufrichtigkeit anderer in Betracht zu ziehen, da ich selbst es daran nicht fehlen ließ?

Mittwoch erwiderten wir den Besuch und am folgenden Tage kam er selbst in unser Hotel um uns zum Besuch des Stadt und des Etappengefängnisses zu begleiten; beide befanden sich außerhalb der Stadt und jenseits eines seichten Baches.

Wir besichtigten vorerst das Etappengefängnis.

Ein großer, halbverfallener Bau, dessen Holz morsch war, dessen Fensterscheiben zersprungen und eingeschlagen, wobei die Öffnung oft mit Lumpenzeug oder Matten bedeckt war. Die Pallisade, die den Hofraum umschloß, war verfault und teilweise abgebrochen. Hauptmann Makofski merkte, daß dieser Zustand meinen Blicken nicht entging und er bemerkte, es wären hier keine Reparaturen vorgenommen worden, weil ein Neubau beabsichtigt wird. Seither sind – nebenbei bemerkt – drei Jahre vergangen und in Irkutsk wurde dieser Neubau noch immer nicht ausgeführt.

Auf der Flur trat uns der dienstführende Offizier entgegen, begrüßte uns und meldete dem Polizeichef, daß alles in bester Ordnung sei und daß das Gefängnis an diesem Tage 271 Gefangene enthalte.

»Gut!« sprach der Obere kopfnickend und wir schritten dann zur Besichtigung weiter.

9 Das Gefängnis war in sehr argem Zustande.

Die Zellen unterschieden sich von jenen, die wir im Etappengefängnis zu Tomsk gesehen hatten, nur dadurch, daß sie weniger überfüllt waren. Die meisten waren auch ziemlich hell und wurden durch große, viereckige Öfen aus Ziegelwerk aufgeführt, durchwärmt. Als einzige Einrichtungsgegenstände waren auch hier nur Pritschen zu finden, welchen jedes Bettzeug fehlte. Hie und da bemerkte ich wohl eine schmutzige, leichte Decke, doch diese waren wahrscheinlich von den Gefangenen selbst hergestellt worden, wenigstens deutete die Zusammenstellung aus vielen Flicken und Lappen darauf hin. In den einzelnen Zellen befanden sich zwanzig bis vierzig Gefangene, und die verdorbene Luft daselbst bekundete, daß für keinerlei Ventilation gesorgt war. Die Fußböden waren, den Maßstab sibirischer Reinlichkeit angelegt, nicht besonders schmutzig; sie waren, vermutlich zu Ehren unseres Besuches, mit weißem Sand bestreut. Die Zellen der Männer waren von denen der Frauen und Kinder getrennt und diese stellten sich auch etwas wohnlicher dar.

Wir suchten dann das Stadtgefängnis auf, ein großer, zweistöckiger Backsteinbau mit Blechdach; es hatte einige Ähnlichkeit mit dem Etappengefängnis von Tjumen, aber der Hofraum war doch größer, auch einige Blumenanlagen mit bekiesten Pfaden waren vorhanden, die den Gefangenen zur Erholung dienen mochten. Das Gefängnis wurde im Jahre 1861 mit einem Kostenaufwand von 62 000 Rubel erbaut und für 450 Häftlinge bestimmt; zur Zeit unseres Besuches jedoch hatte es 743 Insassen und der Polizeileiter gestand, daß zuweilen selbst noch einmal so viel hier aufgenommen werden müßten. Der »Sibir« (1876, Seite 210) meldete sogar, daß manchmal hier zweitausend Personen untergebracht werden, also mehr als viermal so viel der ursprünglichen Bestimmung.

Was eine derartige Überfüllung zufolge hat, brauche ich hier nicht näher zu erörtern, zumal ich es bereits früher gethan habe. Wenn auch die Atmosphäre nicht so unerträglich 10 war wie im Gefängnis zu Tjumen, so war sie doch noch arg genug und viele der Häftlinge beklagten sich darüber beim Hauptmann Makofski und bei mir. Ärger noch war es in der überfüllten Krankenabteilung, wo mir fast übel wurde, obgleich wir rasch durchschritten. Wie in den meisten sibirischen Gefängnissen waren auch hier die vorherrschenden Krankheiten: Typhus, Skorbut, Blutleere, Rheumatismus und Bronchitis, Übel, die von den ungünstigen sanitären Verhältnissen hervorgerufen wurden.Der Jahresbericht für 1884 der medizinischen Abteilung des Ministeriums des Innern schildert die Gefängnisse und Spitäler von Tomsk, Jeniseisk und Irkutsk folgendermaßen: »Aus den Berichten der Medizinalverwaltung ist zu ersehen, daß der sanitäre Zustand vieler Gefängnisse sowohl in den Provinzen wie auch in den Territorien höchst ungenügend ist. Die meisten sind zu klein für die Zahl der untergebrachten Häftlinge, und bei vielen fehlt es an jeder Ventilation und an Aborten, auch liegen sie viel zu niedrig und sind daher feucht. Am wenigsten genügen noch die Gefängnisse, die in den Provinzen Jeniseisk, Irkutsk, Romsk und auf dem Gebiete des Transbaikal sich befinden. In vielen dieser Krankenhäuser fehlt es am Nötigsten, auch sind sie zu klein, um alle Kranken aufnehmen zu können und haben weder Ärzte noch Heilgehilfen, noch Krankenwärterinnen.«

Der Bericht giebt dann folgende Aufstellung des Sanitätszustandes in den Gefängniskrankenhäusern der vier sibirischen Provinzen für das Jahr 1884:

Provinz Gefängnis-
Krankenhäuser
Anzahl der
Betten
Kranke Tote Prozentsatz
der Toten
Jeniseisk 3           145       5176   168      3,2
Irkutsk 2           115       1620   99      6,1
Tobolsk 10           242       4648   303      6,5
Tomsk 3           230       1514   259      16,4

Vom Krankenhaus aus begaben wir uns durch ein Gärtchen zu den »geheimen« Zellen, wo die Gefangenen der Einzelhaft sich befanden. Der Polizeidirektor bemerkte mir, daß er es mir freistelle mit einem der dort befindlichen politischen Gefangenen zu sprechen. Gehört hatte ich wohl schon einiges von dieser Art Gefangenschaft, aber noch nie Gelegenheit gehabt eine Person in Einzelhaft zu sehen. Mit Spannung folgte ich daher und wir betraten am Ende des Hofes eine Halle; der Hauptmann, von dem Schließer begleitet, schritt 11 voraus und ich folgte nach. Wir gelangten durch eine verschlossene Gitterthür in einen langen, schmalen Korridor, wo eine Schildwache vor einer Reihe Thüren auf- und niederschritt. Diese waren mit Vorhängschlössern versehen und hatten eine viereckige Öffnung, durch welche die Nahrung gereicht, und der Häftling von der Schildwache beobachtet wurde. Der Gefangene, den wir jetzt besuchen sollten hieß Ferdinand Lustig und diente, wie mir Malofski erzählte, früher als Offizier in der russischen Armee. Bald nach der Ermordung des Zaren Alexander II., im März 1881, wurde er verhaftet und als Aufwiegler zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Diese Frist war nun abgelaufen und er sollte nach Ostsibirien als Zwangskolonist verschickt werden.

Der Schließer öffnete die Zelle Nr. 6 und wir betraten einen länglichen, schmalen und düsteren Raum, wo ein junger hübscher Mann mit kurzgeschnittenen Haaren, braunem Vollbart und blauen Augen recht niedergeschlagen auf einer Pritsche saß.

Bei unserem Eintritt fuhr er auf.

»Guten Tag, Herr Lustig,« rief ihm Makofski freundlich zu. »Wir kommen, um Sie in bessere Laune zu bringen. Hier diese Herren sind Reisende aus Amerika die unser Gefängnis in Augenschein nahmen und da dachte ich mir, es dürfte sie interessieren auch Sie zu sehen.«

Mir schien, als wäre der hoffnungsfrohe Schimmer, der bei unserem Eintritt sein Antlitz überkam, plötzlich gewichen. Vielleicht wähnte er im ersten Augenblick es käme jemand, um ihn aus der Zelle zu befreien. In verlegener Hast reichte er uns die Hand, als hätte ihn die lange Haft von den Gewohnheiten des Verkehrs entfremdet. Aber auch ich war nicht ganz gefaßt, besonders durch die Anwesenheit des Polizeichefs, des Schließers und des Soldatens. Wären wir allein gewesen, so hätten wir uns wahrscheinlich bald verständigt, so aber konnte ich nichts von alledem sagen, was ich fühlte und wußte, und ich mochte von ihm nur für einen neugierigen Touristen gehalten werden, der da kommt einen gefangenen 12 Nihilisten anzugaffen in der Art, wie man ein exotisches Tier im Tiergarten betrachtet.

Die Zelle war beiläufig 7 Meter lang, 2 Meter breit und 4 Meter hoch. Ein kleines, vergittertes Fenster gegenüber der Thüre, gab karges Licht; die Öffnung war so hoch angebracht, daß ich sie mit der Hand nicht hätte erreichen können. Vor dem Fenster befand sich ein Holzverschlag, der den geringen Ausblick verhinderte, so daß es dem Gefangenen kaum möglich war zu erkennen, ob der Himmel trübe oder heiter. Eine Holzpritsche mit dünner Wolldecke und ein viereckiger Kasten zur Verrichtung der Notdurft bildeten die ganze Einrichtung; kein Stuhl, kein Tisch, kein Buch, kein Schreibgerät war vorhanden. Er konnte nichts anderes thun, als in seiner düstern – und ich glaube auch kalten – Zelle auf der Pritsche sitzend, nachzusinnen.

Ich fragte ihn, wie lange er schon in dieser Zelle sich befinde und er antwortete mir, nahezu vier Monate. Hauptmann Makofski bemerkte, daß er hier zurückbleiben mußte, weil man bezüglich seines künftigen Aufenthalts noch nicht schlüssig geworden. Wann dies geschehen werde, das wußte er nicht und darum kümmerte sich auch keiner, mochte der arme Häftling jetzt noch ärger daran sein, als zur Zeit seiner Zwangsarbeit. Die Anwesenheit des Polizeichefs verhinderte mich, ihn über seinen Aufenthalt in den Bergwerken von Kara auszufragen, ich begnügte mich daher, dem Gefangenen zum Abschied die Hand recht warm zu drücken und ihm eine baldige Befreiung zu wünschen.

In gar so vorzüglichem Zustand, wie Hauptmann Makofski wähnte, fand ich die Gefängnisse von Irkutsk just nicht, indes behielt ich meine Meinung für mich, da er mich nicht darum befragte.

Erst nach einigen Tagen sah ich den Polizeichef wieder. Während dieser Zeit hatte auch der neuernannte Generalgouverneur von Sibirien, Graf Ignatieff, die Gefängnisse besichtigt. Am nächstfolgenden Dienstag besuchte uns Makofski 13 und im Verlauf des ziemlich allgemein gehaltenen Gespräches richtete er plötzlich nicht ohne Erregung die Frage an mich:

»Aufrichtig gesagt, Herr Kennan, wie finden Sie unsere Gefängnisse?«

Aufrichtig antwortete ich nun, daß die Gefängnisse Sibiriens überhaupt in einem argen Zustande sich befinden, aber die von Irkutsk wären noch immer besser, als jene von Tjumen und Tomsk.

»Ich richte diese Frage an Sie, weil der Generalgouverneur, der mit seiner Frau dieser Tage die Gefängnisse in Augenschein nahm, sich sehr unzufrieden äußerte. Er meinte, sie wären schmutzig, überfüllt, die Luft zu verdorben, die Wäsche der Gefangenen zu unsauber und grob. Er war, kurz gesagt, mit allem unzufrieden. Ich weiß zwar auch, daß dort die Luft nicht am besten ist, aber wie könnte es denn anders sein, wenn in einem Raum von dieser Größe – er deutete auf meine Stube hin – dreißig Menschen zusammengepfercht sind! Auch die Wäsche könnte besser sein, doch da müßte die Regierung mehr Geld dafür anweisen. Schmutzig! – Wie sollte sie sauber sein, wenn die Gefangenen nur alle sechs Monate ein Hemd und alle Jahre einen Überrock bekommen. Und in diesen Kleidern steckt er Tag und Nacht und zieht sie nur aus, wenn er einmal ein Bad nimmt. Da müssen sie freilich schmutzig sein.«

»Wird denn das Hemd des Häftlings nicht gewaschen? Oder geht er während der Waschzeit nackt herum?« fragte ich.

»Wenn er badet, wäscht er sich gewöhnlich auch sein Hemd,« antwortete der Polizeichef, »dann trocknet er es, so gut er's kann und bekleidet sich wieder damit.«

Ich sprach nun von den armen Gefangenen, die während des Marsches durchnäßt werden und bemerkte, es wundere mich nicht, daß die Krankenabteilungen überfüllt wären.

»Sie haben recht,« antwortete er. »Das Leben der Verschickten auf dem Marsche ist schauderhaft. Was jedoch unser Gefängnis betrifft, so thue ich dafür, was in meiner Kraft 14 liegt. Es ist nirgends angehäufter Schmutz zu finden, und vom Standpunkt der Gesundheit beurteilt, ist es manchem Privathaus der Stadt vorzuziehen.«

Sonderbar, wie Hauptmann Makofski den mißlichen Zustand der Gefängnisse von Irkutsk so verkennen mochte! Er war daran so gewöhnt, daß er sie für ganz regelrecht betrachtete und gar nicht fassen konnte, daß der Generalgouverneur die Sache minder günstig ansah. Er glaubte, daß eigentlich die Gräfin die Urheberin dieses Tadels wäre und er schilderte sie wohl als edeldenkende Dame, aber auch als ganz unerfahren, die nichts von den Schwierigkeiten kannte, die Änderungen in ihrem Sinne mit sich brächten.

»Ich schätze sie als eine kluge Dame mit feiner Beobachtungsgabe,« bemerkte ich. »Gestern bei Tisch erzählte mir ein Beamter des Verbannungswesens, daß sie vor kurzem bei ihrem Besuch des Gefängnisses die Suppe kosten wollte. Das Gewünschte wurde ihr gebracht und sie fand gleich heraus, daß es eigens für sie zubereitet worden sein müsse. Sie fragte nun, ob nicht im Kessel noch etwas von der für die Häftlinge zubereiteten Suppe übrig sei. Es war noch etwas vorhanden und sie versuchte davon mit der Bemerkung, es freue sie, daß wenigstens jetzt geschehe, was schon längst hätte geschehen sollen, daß nämlich das Kochgeschirr gesäubert werde. Dergleichen bekundet einen scharfen Blick.«

»Bah, scharfen Blick!« meinte Makofski. – »Möglich! Sie ist eine gutherzige, edle Dame, aber sie hat keine Ahnung von den realen Verhältnissen. Sie glaubt, ein Gefängnis könne nach denselben Regeln beurteilt werden, wie ein Mädchenpensionat. Sie selbst wissen recht gut, daß solches nicht möglich ist!«

Ich bemerkte, daß sich im Gefängnis von Irkutsk noch manche Verbesserung anbringen ließe, ohne, daß es deswegen just Ähnlichkeiten mit einem Mädchenpensionat aufweisen würde.

Besuche unterbrachen unser Gespräch; der Polizeidirektor entfernte sich, noch immer aufgeregt über den von dem Generalgouverneur ausgesprochenen Tadel . . .

15 Bei der ersten Audienz die Graf Ignatieff erteilte, begaben auch wir uns hin, Frost und ich; wir wollten damit unsere Hochachtung für ihn zum Ausdruck bringen, auch glaubte ich, er werde im Laufe des Gespräches das Verschickungssystem und den Zustand der hiesigen Gefängnisse erörtern.

Er war ein kräftig gebauter Mann, ungefähr in der Mitte der Vierzig; sein Kopf war ziemlich kahl und in seinen Mienen lag eine gewisse Abspannung. Er empfing uns höflich, aber auch kühl, sprach mit uns in unserer Heimatssprache, in der er sich geläufig ausdrückte, wenn auch etwas langsam.

Ich suchte das Gespräch auf die Gefängnisse Sibiriens zu bringen und erwähnte da auch etliches von den Eindrücken, die jene in Tjumen und Tomsk auf mich machten. Er erwiderte rundweg, daß er die ganze Art der Verschickung nach Sibirien für unvorteilhaft halte oder wenigstens doch vieles verbessert werden müsse. Die gewöhnlichen Verbrecher mögen zur Landarbeit angehalten werden, was viel besser wäre, als sie in Gefängnissen unthätig verweilen zu lassen oder als Zwangskolonisten zu verschicken. Er erwähnte, er wolle versuchsweise eine Anzahl Sträflinge in den Straßen Irkutsk arbeiten lassen, ferner, daß die Absicht vorhanden sei, den Transport der Verschickten von Tomsk nach Irkutsk künftig nur bei günstiger Witterung und mittelst Wagen vorzunehmen, was der Regierung billiger zu stehen käme und für die Verschickten nicht so mühselig wäre.

Diese Neuerungen wurden – wie ich bereits früher erwähnte – vom Oberst Sagarin bereits einige Jahre früher vorgeschlagen, aber bis zum heutigen Tage ist nichts dergleichen geschehen. Wie damals, so heute noch, müssen die Verschickten zwischen Tomsk und Irkutsk in jeder Witterung marschieren, im Regen und Sonnenschein, im Schneegewirbel und im dichten Staub, in heißer Sonnenglut und harter Kälte. Vielleicht geschah nichts, weil der Bau einer transsibirischen Eisenbahn beabsichtigt wird, die dann jede Beförderung mittelst Wagen überflüssig machen wird. Aber bis dies geschehen 16 dürfte, mögen noch viele Jahre vergehen und inzwischen werden Tausende und Tausende, Männer, schuldlose Frauen und Kinder, die Mühseligkeiten einer 1600 Kilometer langen Reise erdulden müssen.

Während unseres Gespräches trat die Gräfin ein um ihrem Gatten einen angelangten Brief zu übergeben. Er stellte uns vor. Eine mittelgroße Dame, ungefähr 30 Jahre alt, mit braunem Haar, grauen Augen und intelligentem, aber etwas kühlem Gesichtsausdruck. – Auf den Gegenstand unseres Gespräches zurückzukommen, bot sich in ihrer Anwesenheit keine Gelegenheit mehr.

Während der zwölf Tage, die wir in Irkutsk verbrachten, schlossen wir einige recht angenehme Bekanntschaften. So z. B. mit Herrn Adam Bukofski, einem Bergwerksbesitzer, dessen Haus gastfreundlich immer offen stand und der auch recht gut englisch sprach; Doktor Pisareff, einem tüchtigen Arzt, an den wir Empfehlungsbriefe von Petersburg hatten; Herrn Butin, der einige Zeit in Amerika gelebt und in seinem Denken und Fühlen fast zum Amerikaner geworden; Herrn Sagoskin, den wackeren Redakteur des »Sibir«, und noch anderen.

Einige Tage nach dem erwähnten Gespräche mit dem Polizeichef, besuchte ich ihn in seiner Wohnung und brachte dabei unter anderem das Gespräch auch auf die politischen Verschickten.

Im allgemeinen sprach er sich höchst ungünstig aus über die »Revolutionäre und Nihilisten«, über die er Ansichten hatte, die meinen früheren ziemlich ähnlich waren. »Aber es giebt auch politische Verbannte«, bemerkte er, »die mehr Sympathie und Mitleid verdienen, junge Leute, die an gar keinem Verbrechen sich beteiligt hatten, sondern nur mit Aufwieglern befreundet waren, oder mit ihnen in einem ganz unverfänglichen Briefwechsel standen und die Bekanntschaft nun bitter büßen. Oder Leute, die verschickt wurden, weil sie von Bekannten gefälligkeitshalber Schriften oder Drucksachen in zeitweilige Verwahrung nahmen, ohne den Inhalt zu kennen. 17 Werden sie bei jemandem aufgefunden, so wird er nach Sibirien verschickt, mag er auch noch so sehr beteuern, von dem Inhalte keine Ahnung gehabt zu haben. Andere wieder werden nach Sibirien verschickt, weil sie Aufwieglern Geld borgten, ohne jedoch dabei zu wissen, daß dies revolutionären Zwecken dienen könnte. Endlich giebt es auch ganz junge Leute die, vom Patriotismus beseelt, das Beste des Vaterlandes erstreben und sich zu diesem Zwecke zu geheimen Gesellschaften verbinden, ohne jedoch dabei einen Aufruhr in Aussicht zu nehmen. Werden sie von der Polizei entdeckt, so müssen sie ohne Gnade nach Sibirien. Ich bedauere solche Leute von ganzem Herzen!«

Ich führe diese Worte an um wieder einen Beweis zu erbringen, daß die russische Regierung auch Leute nach Sibirien verschickt, die kein Verbrechen begangen haben und auch nicht einmal dieser Absicht beschuldigt werden konnten. Neu war mir dieser Umstand nicht, ich staunte nur, ihn von einem Polizeichef erwähnen zu hören.

An politischen Verschickten gab es damals nicht viel in Irkutsk, wir hatten jedoch Mühe sie aufzufinden. Endlich aber gelang uns dies, natürlich ohne daß wir den Beistand Makofskis in Anspruch genommen hätten. Ja, er hatte sogar, obgleich er als Leiter der Polizei ein Stück Allwissenheit hätte besitzen müssen, keine Ahnung davon, daß wir uns von einem Besuche bei ihm oft direkt zu der Versammlung aller politischen Verschickten begaben und in deren Mitte bis in die späte Nacht hinein verblieben.

Zu den interessantesten politischen Verschickten von Irkutsk gehörte Iwan Tscherniafski und seine Frau, beide im Jahre 1878 auf administrativem Wege verschickt. Ich lernte sie ziemlich genau kennen und kam dabei zu der größten Achtung, zu dem größten Mitleid für beide, aber besonders für die Frau. Wenige Frauen haben mit fünfunddreißig Jahren schon so Bitteres erlebt und noch viel weniger haben sich trotz alledem, trotz Krankheit und Not, soviel Kraft und Mut zu erhalten 18 gewußt. Als sie während ihrer Verschickung im Gefängnis zu Kiew untergebracht wurde, mußte sie dort erleben, daß ihr liebster Freund, ihr Jugendgenosse ermordet wurde. Er war ein junger Mann, englischer Herkunft, Namens Beverly, der unter der Beschuldigung verhaftet wurde, er habe einen falschen Paß und treibe revolutionäre Propaganda; er wurde dann gleichfalls im Gefängnis zu Kiew untergebracht. In der Nacht, bevor Frau Tscherniafski weiter nach Sibirien transportiert werden sollte, machte Beverly und einer seiner Genossen einen Fluchtversuch. Der Plan wurde jedoch verraten und die beiden Flüchtlinge in dem Augenblick, wo sie ausbrechen wollten, von einer aufgestellten Abteilung Soldaten niedergeschossen. Dem schwerverwundeten Beverly gab dann ein Soldat mit seinem Bajonette den Gnadenstoß und der zweite Flüchtling, der nur verwundet, wurde mißhandelt und dann in die Zelle zurückgebracht. Am andern Morgen, als der Transport sich in Bewegung setzen sollte, sah Frau Tscherniafski den blutigen Leichnam ihres Jugendfreundes, der noch immer vor dem Fenster des Gefängnisses lag. – »Meine eigenen Leiden konnten mich nicht so erschüttern, wie dieser Vorfall,« schloß die Frau seufzend die Erzählung dieses entsetzlichen Ereignisses.

Die Leiden dieser intelligenten Frau auf dem Marsche und in den Etappenhäusern will ich lieber nicht schildern. Endlich erreichte sie und ihr Mann den zugewiesenen Wohnort: ein Städtchen in der Provinz Tobolsk. Hier bekamen sie ein Kind und lebten, so weit dies unter solchen Verhältnissen möglich war, ziemlich zufrieden, bis nach dem Regierungsantritt des Zaren, Alexanders III., auch Herr Tscherniafski aufgefordert wurde, den Eid der Treue zu leisten. Er weigerte sich dessen und wurde dafür nach Krasnojarsk verschickt, und als er später seine Weigerung wiederholte, mußten sie nach Irkutsk. Und das geschah in Winterkälte, in einem offenen Wagen, mit einem kaum jährigen Kinde. Trotz aller Sorgfalt konnte die Frau ihr Kind nicht genug schützen, die letzte Station vor Irkutsk war es tot. Dieser Schlag raubte der armen Mutter 19 sofort die Vernunft; sie wiegte das Kind in den Armen, sang ihm Wiegenlieder vor, weinte, betete, fluchte, tobte.

Unter solchen Umständen kam Tscherniafski mit seiner Frau in Irkutsk an, wo er mit dem toten Kinde in den Armen und sie bei einer Kälte von 30 Grad noch eine halbe Stunde im Freien warten mußten, bis die Aufnahmsformalitäten vorüber waren. Die Frau wurde nun im Krankenhaus untergebracht, wo sie bis zu ihrer Genesung verblieb, dann wurden beide 3000 Kilometer weiter verschickt, gegen Nordost in die »Baturski Ulus« der Jakuten, die mehr als 150 Kilometer von der nächsten Stadt entfernt in einer Wildnis liegen. Hier blieben sie nun, allen Leiden preisgegeben, bis ihnen im Jahre 1884 gestattet wurde, nach einem civilisierteren Teile Sibiriens zurückzukehren.

Als ich diese Frau kennen lernte, war ihre Gesundheit durch das viele Elend, das sie erlitten, ganz durchrüttelt. Sie hatte unter den traurigsten Umständen der Welt ihre beiden Kinder verloren und war durch tausende Kilometer von allen Verwandten und Freunden getrennt. Was sie noch aufrecht hielt, war die Liebe zu dem Gatten, dessen Geschick sie freilich zufolge ihrer Kränklichkeit wenig erleichtern konnte. Zwei Monate hatte sie damals das Haus nicht verlassen. Als ich von ihr Abschied nahm, hatte ich das Gefühl, als würde sie bald von dieser Erde scheiden, und zum erstenmale seit meiner Jugendzeit hatte ich wieder Thränen. Ich bot ihr zur Erinnerung meine Photographie an. Zu meiner Überraschung lehnte sie das Bild ab und fügte dann zur Erklärung wehmutsvoll dazu: »Vor Jahren besaß ich das Bild eines meiner verstorbenen Kinder, es war das einzige Bild, das von meinem Liebling vorhanden war. Eines Nachts hielt nun die Polizei bei uns Durchsuchung und nahm alle Schriften und Photographien fort. Wohl sagte ich, jenes wäre das einzige Bild meines verstorbenen Kindes; der Gendarmerieoffizier gab mir auch sein Ehrenwort, daß ich das Bild zurückerhalten werde, aber es geschah nicht. So hab' ich mir nun vorgenommen, 20 daß es der russischen Regierung nicht möglich werden soll, mir noch einmal einen derartigen Schmerz zu bereiten und darum nehme ich seither von Leuten, die mir lieb geworden, nicht ihre Photographien an.«

Ich weiß nicht, ob Frau Tscherniafski noch lebt. Ich wünsche es und wünsche auch, daß diese Zeilen ihr zu Gesicht kommen mögen und bekunden, wie jenseits des großen Wassers noch freundlich ihrer gedacht wird.

 


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