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In Transbaikaliens Wildnis, beinahe 8000 Kilometer von Petersburg und 1600 Kilometer vom Großen Ocean entfernt, in einem öden Thal zwischen den Ausläufern des Jablonaigebirges, befindet sich eine Anzahl Gefängnisse, Sträflingskolonien und Goldgruben, die in Rußland unter dem 44 Namen »die Minen von Kara« bekannt sind. Wenn irgendwo vermeldet wird, der Zar geruhte diesen oder jenen zum Tode verurteilten Nihilisten zur Zwangsarbeit in den Bergwerken Sibiriens zu begnadigen, so hat das stets die Minen von Kara zu bedeuten.
Zweidrittel des Weges von Tschita nach Kara führt auf guten Poststraßen dahin, anfangs im Ingodathale, später am linken Ufer der Schilka, eines Nebenflusses des Amurs. Beim Städtchen Stretinsk wird der letzterwähnte Fluß schiffbar und hier endigt auch die Poststraße; der Verkehr nach den Bergwerken von Kara wird von dieser Stelle an im Sommer mittelst Kähnen, im Winter mittelst Schlitten, die auf dem zugefrorenen Flusse fahren, hergestellt. Im Frühjahr, im Herbst, in den Zeiten des Eisgangs sind die Bergwerke von Kara oft wochenlang von jedem Verkehr mit der übrigen Welt abgeschnitten, man kann dann nur auf einem sehr beschwerlichen und gefährlichen Nebenweg dahin gelangen, der in der Richtung des Flusses über steile, waldige Berge führt. Wir hofften noch rechtzeitig nach Stretinsk zu gelangen, um mittelst Kahn stromabwärts nach den Bergwerken fahren zu können und bei unserer Abreise von Tschita war es auch noch sehr wahrscheinlich. Doch das Wetter schlug plötzlich um, es kam Schnee und Kälte und als wir Mittwoch in den Morgenstunden zum Ufer der Schilka gelangten, jenseits von Stretinsk, hatte schon der Winter seine ganze Macht entfaltet. Das Thermometer zeigte Null Grad Fahrenheit, unsere Pelzröcke und das Fell der Pferde war von einer Reifkruste überzogen und die Schilka war derart mit Treibeis bedeckt, daß hier jeder Verkehr unmöglich war. Eine große Fähre machte damals den gefährlichen Versuch von Stretinsk den Fluß zu übersetzen und einige Bauern, die an unserer Seite um ein wärmendes Feuer versammelt waren, blickten erwartungsvoll dahin und hofften, es werde ihnen gelingen, den Fergen dann auch zu überreden, er möge mit ihnen die Fahrt nach Stretinsk wieder zurückwagen und daran hätten auch wir teilgenommen.
45 Eine Viertelstunde lang betrachteten wir den Kampf der Fähre mit den Eisschollen, und kamen darnach zu dem Beschluß, es sei doch zu gefährlich, in dieser Weise den breiten, mit Eisschollen bedeckten Fluß zu übersetzen, selbst wenn schon der Ferge dazu entschlossen wäre. Wir suchten daher bei einem benachbarten Bauern Unterkunft für diese Nacht, die uns gern gewährt wurde, vorausgesetzt, daß wir auf der Erde vorlieb nehmen wollten, um neben den anderen Familiengliedern zu schlafen. Wir waren viel zu müde und durchkältet, um erst wählerisch zu sein; überdies waren wir schon an das Übernachten auf der Erde so gewöhnt, daß uns ein besseres Lager in Erstaunen gesetzt hätte. Wir brachten unser Gepäck unter und kurze Zeit später saßen wir in der ersten anständigen Stube, die wir seit unserer Abfahrt von Nertschinsk zu Gesicht bekamen, vergnügt beim Thee.
Nun beschäftigte uns die Frage, in welcher Weise wir nach den Bergwerken von Kara gelangen könnten. Eine Fahrt auf dem Flusse wäre vor zwei oder drei Wochen kaum möglich gewesen und so lange zu warten, dazu fehlte uns Zeit und Geduld. Es wäre daher nur möglich gewesen, das Gebirge durchreitend dahin zu gelangen. Der Bauer erwähnte, daß diesseits des Flusses einige geeignete Pferde wohl vorhanden wären, doch wohne der Eigentümer in Stretinsk, dort müßten wir sie von ihm mieten und auch das Sattelzeug und einen Führer beschaffen. Bei dem starken Eistrieb den Fluß zu übersetzen, war nicht ohne Gefahr, doch unser Hauswirt meinte, es würde schon glücklich ablaufen, er selbst und einige seiner Leute wollten uns hinüber bringen.
Donnerstag morgens machten wir den Versuch. Der Fluß war mit Treibeis bedeckt; am Ufer hatte sich eine 30 bis 40 Meter breite Eisdecke festgesetzt, die gegen den Fluß hin immer dünner war. Wir zogen den Kahn ans Ufer und von hier behutsam über die Eisdecke, für jeden Augenblick bereit in den Kahn zu springen, falls das Eis unter unseren Füßen brechen sollte. Etwa fünf Meter von dem Gerinne entfernt, gab nun die 46 Decke wirklich nach, mit einem lauten Krach borst sie auseinander. »Ins Boot!« schrie unser Bauer erregt. Wir sprangen rasch hinein, der Kahn neigte sich dabei bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, glücklicher Weise ohne umzukippen. Einen Augenblick später flog unser Schifflein stromabwärts, umgeben von krachenden Eisschollen, die wir mit Rudern und Haken möglichst abzuwehren suchten. Zwei Männer griffen zu den Rudern, der Bauer zum Steuer, das er recht geschickt zu führen wußte. Beinahe einen Kilometer weit wurden wir stromabwärts getrieben, eh' es uns gelang, zwischen den Schollen hindurch, dem jenseitigen Ufer nahe zu kommen. Auch hier war eine feste Eisfläche vorhanden und die Landung war da noch viel gefährlicher als die Abfahrt. Während wir mit den Haken an der Eisdecke uns festzuhalten versuchten, war nicht unmöglich, daß unser Kahn von Eisschollen erdrückt oder umgeworfen wurde. Endlich gelang es uns, den Kahn bis zu einer ziemlich sicheren Stelle zu bringen, der Bauer sprang hinaus und befestigte das Schifflein, während ich durch einen ungeschickten Sprung bis an die Hüften ins Wasser kam. Nachdem ich mich daraus befreit und das Ufer gewonnen hatte, überließ ich es den andern, den Kahn heraus zu ziehen und eilte nach der Stadt, zumal ein kaltes Bad in dieser Zeit ganz besonders für mich von übelen Folgen begleitet sein konnte.
Nachdem ich an dem erstbesten Ort Unterkunft genommen, meine Kleider getrocknet und mich durchwärmt hatte, verständigte ich unseren Gesandtschaftssekretär in Petersburg telegraphisch von unserem Aufenthaltsort und ging dann aus, um die Pferde zu mieten, Reitzeug zu kaufen, einen Führer zu besorgen und noch manches andere. Nachmittags kehrte ich dann wieder in derselben gefährlichen Weise nach des Bauern Haus zurück.
Freitag am frühen Morgen sattelten wir die Pferde zum Ritt nach den Bergwerken von Kara. Unser ganzes Gepäck bestand aus unseren Reisedecken, Schriften, etwas Proviant 47 und dem photographischen Apparat. Es war wieder wärmer geworden und das Thermometer zeigte 18 Grad Fahrenheit; aber der Himmel war wettergrau und ein dichter Schnee wirbelte nieder, daß mir etwas bang zu Mute wurde, als wir den ersten Gipfel erstiegen hatten und die ganze winterliche Bergwildnis vor uns sahen, die wir durchreiten mußten. Eine Entmutigung war übrigens nicht unbegründet. Ich war noch ziemlich schwach von der überstandenen Krankheit und fürchtete von diesem Ritt von mehr als 130 Kilometer in der kalten Winterszeit ganz aufgerieben zu werden; überdies waren wir auch für diese Art Reisen nicht genügend ausgerüstet. Wir glaubten, die Schilka stromabwärts fahren zu können und unterließen es daher, uns mit Pelzschlafsäcken zu versehen. Auch unsere Schafpelzröcke waren nicht lang genug, um die Knie zu bedecken; wir hatten keine Pelzkapuzen und unsere Filzstiefel waren so weit, daß wir die Füße nicht in die Steigbügel bringen konnten und nun auf Filzstiefel oder Steigbügel verzichten mußten. Doch zu unserem Glücke war der Bergpfad anfangs nicht sehr beschwerlich und das Wetter nicht sehr kalt. Wir ritten mehr als 30 Kilometer ohne besondere Schwierigkeiten dahin.
Die Nacht brachten wir in Lomi zu, einem Dörfchen am Ufer der Schilka. Wir übernachteten da in einem Bauernhause, auf dem Fußboden natürlich, neben zwei erwachsenen Personen und fünf Kindern. Samstag früh setzten wir unsere Reise mit frischen Pferden und einem anderen Führer fort. Über Nacht war das Wetter schöner, aber auch kälter geworden; unsere Pferde waren mit einer Reifkruste bedeckt und an ihren Nüstern hingen Eiszäpfchen.
Von Lomi aus wurde unser Weg viel schwieriger. Der Pfad schlängelte sich über steile, wüste Höhen dahin, bog da und dort gegen Norden ab, um Schluchten oder Abgründe zu vermeiden, führte über Schroffen, über Felsen, die hoch über die eisbedeckte Schilka sich erhoben, wo ein geringes Ausgleiten oder Straucheln der Rosse uns in die Tiefe gestürzt hätte. 48 Daß alles ohne Unfall abgelaufen ist, ist als besonderer Glücksfall zu preisen. Unsere Pferde waren nicht scharf beschlagen und dabei war der Weg an manchen Stellen mit dem Eis gefrorener Bergwasser bedeckt, worauf der Schnee lag; es war daher bei den steilen Abstiegen, selbst bei sorgfältiger Prüfung nicht möglich zu bestimmen, ob die Tiere festen Fuß fassen werden können. Den ganzen Tag und auch den folgenden waren wir genötigt neben den Pferden zu gehen, einerseits, weil es uns bei diesem gefährlichen Wege nicht ratsam schien im Sattel zu bleiben, andererseits wieder, weil uns dieses bei der herrschenden Kälte überhaupt kaum möglich war.
Diese dreitägige Bergreise, teils zu Roß, teils zu Fuß, bei einer ziemlich niedrigen Temperatur erschöpfte völlig meine Kräfte und als wir Sonntag, in später Stunde das Dörfchen Schilkina erreichten, gab mein schwacher Pulsschlag zu erkennen, daß meine körperliche Kraft völlig erschöpft sei.
Doch das Ärgste war überstanden! Die südlichst gelegene Ansiedlung der Sträflinge, Ustj-Kara, befand sich von Schilkina kaum 18 Kilometer entfernt und der Weg, der dahin führte, bot keine außergewöhnlichen Hindernisse. Montag mittags langten wir endlich in einem an der Mündung der Kara gelegenen Dorfe an, stiegen von unseren ermatteten Tieren und schlichen mit starren Gliedern in ein Bauernhaus, dessen Bewohner ein Bekannter unseres Führers war; hier ruhten wir aus.
Die Minen von Kara sind Privateigentum des Zaren und werden zu seinem Gunsten auch ausgebeutet. Wir finden da vorerst eine Reihe Goldwäschereien, die in ungleichmäßigen Zwischenräumen am Ufer des kleinen, aber reißenden Bergflusses Kara liegen; dieser entspringt auf der Wasserscheide des Jablanaigebirges, fließt in südöstlicher Richtung etwa 70 Kilometer dahin, um sich endlich zwischen Stretinsk und der Argunmündung in die Schilka zu ergießen.
»Kara« bedeutet im Tatarischen »schwarz«; diese Bezeichnung galt ursprünglich nur dem Flusse, wurde aber später 49 auf den ganzen Umkreis: Minen, Gefängnisse, Sträflingskolonien, zur Anwendung gebracht; diese haben übrigens noch nähere Bezeichnungen. Es folgen dem Flusse in der Richtung von Norden nach Süden: Ustj-Kara (die Karamündung), das Untere Gefängnis, das Gefängnis der Politischen, die Untere Goldwäscherei, Mittel-Kara, Ober-Kara und das Obere oder Amurskigefängnis.
Die ganze Verwaltung konzentriert sich bei der »Unteren Goldwäscherei«; hier wohnt der Direktor der Gefängnisse für gemeine Verbrecher, hier befindet sich eine Sträflingskolonie mit 200–300 Insassen und auch eine Kaserne für zwei Compagnien Soldaten. Dieser Ort dünkte mich auch am geeignetsten für uns, für die Dauer unseres Aufenthaltes, denn wir waren hier in der Nachbarschaft des Direktors, ohne dessen Bewilligung wir nichts vornehmen konnten, und dabei waren wir auch nur ein halbes Stündchen von den politischen Gefangenen entfernt, die mein Interesse am meisten erweckt hatten. Wir ließen daher Führer und Pferde in Ustj-Kara zurück und fuhren, nachdem wir ausgeruht, mittelst Wagen nach der »Unteren Goldwäscherei«. Die Straße führte aufwärts, am linken Ufer der Kara, durch ein nicht sehr tiefes und auch nicht sehr breites Thal, das von Hügeln mit jungem Nadelholz bewachsen, umsäumt war. Auf der Erde lagen große Kiesstücke und Sandklumpen, die einst auf ihren Goldgehalt hin bearbeitet worden.
Bei Beginn der Dunkelheit erreichten wir die »Untere Goldwäscherei«, ein ziemlich großes Dorf, dessen niedere Holzhütten zerstreut umher lagen, mit langen Blockhäusern, die als Kasernen dienten, Offizierswohnungen mit Blechdächern, und einem alten Gefängnis, das in seinem Äußeren ganz den anderen Bauten dieser Art in Ostsibirien glich. Diese Bauten standen ziemlich regelmäßig an den breiten Straßen oder großen Plätzen und bildeten einen recht auffälligen Unterschied zu den vernachlässigten Holzhütten der Sträflinge. Auf einem der weiten Plätze, wo die Kaserne und das Gefängnis sich befanden, 50 waren etwa ein halbes Hundert Gefangene in ihren grauen Röcken und mit gelben Zeichen auf dem Rückenteil, just bei einem Bau beschäftigt. Sie wurden dabei von einer Abteilung ausgerüsteter Kosaken bewacht, die auf ihre Berdangewehren gestützt, dastanden. In einer kleinen Entfernung loderte ein Lagerfeuer, über dem ein Theekessel hing und etwa ein Dutzend Kosaken lag in nachlässiger Haltung umher. Der beschneite Platz, die verdrossen arbeitenden Sträflinge, die Kosakenbewachung und die um das Feuer gelagerten Soldaten – das alles machte im Dämmerschein des kalten, trüben Spätherbstabend, einen beklemmenden Eindruck auf mich.
Wir fuhren zuerst zu dem Direktor, um uns vorzustellen und zu fragen, wo wir hier Unterkunft finden könnten. Der Direktor, Major Potuloff, ein stattlicher Mann von etwa 50 Jahren, empfing uns sehr freundlich und bemerkte, daß er von dem Stellvertreter des Gouverneurs von Tschita von unserem Nahen bereits verständigt wäre, daß er aber gemeint habe, wir hätten den Plan aufgegeben, da die Schilka nicht mehr schiffbar sei. Daß fremde Reisende ein Interesse daran finden sollten, in dieser Witterung und bei diesem gefährlichen Weg die Reise doch vorzunehmen, schien ihm ganz unwahrscheinlich. Aber er freute sich, uns zu sehen und bot uns gastfreundliche Aufnahme in seinem Hause an. Ich dankte ihm und bemerkte, es läge uns ganz fern, ihn belästigen zu wollen, es würde uns genügen, wenn er die Güte hätte, uns bekannt zu machen, wo wir hier Unterkunft finden könnten. Lachend erklärte er, in Kara wären nur jene Herbergen zu finden, die die Regierung für Mörder, Diebe und Fälscher zu errichten für nötig fand, wir mögen daher seine Einladung ohne Weiteres annehmen und uns recht wohl bei ihm fühlen. Das war wohl sehr freundlich, aber es kam mir im Hinblick auf den Zweck unserer Reise sehr unerwünscht. In seinem Hause befanden wir uns gewissermaßen beständig unter amtlicher Aufsicht und es würde uns dabei auch kaum möglich werden, mit den politischen Sträflingen in Verbindung zu kommen. 51 Allein es blieb uns nicht die Wahl, wir mußten daher diese Einladung annehmen und in kurzem waren wir in dem schön und bequem eingerichteten Hause einquartiert und hatten nach langer Zeit endlich wieder einmal den Genuß von großen Spiegeln, weichen Teppichen, bequemen Möbeln, ja sogar eines Klaviers.
Zur Zeit unserer Anwesenheit befanden sich im Karagebiet ungefähr 1800 zur Zwangsarbeit verurteilte Sträflinge. Die Hälfte dieser Zahl war in Gefängnissen untergebracht, während die anderen in Holzhütten oder Baracken wohnten. – Nach dem Bericht der Gefängnisverwaltung befanden sich dort mit Jahresschluß 1885, also etwa zwei Monate nach unserer Anwesenheit, 2507 Personen. Diese Zahl umfaßt jedoch auch die Frauen und Kinder, die ihren Männern und Vätern freiwillig folgten und die 600 bis 800 zählen dürften.
Die Strafzeit eines Gefangenen in den Bergwerken von Kara kann in zwei Teile gesondert werden. In der ersten Zeit wird er im Gefängnis gehalten, und wenn er sich hier die Zufriedenheit der Vorgesetzten zu verschaffen weiß, wird er aus der Gefängnishaft entlassen, um nun dem »freien Kommando« anzugehören. Im »freien Kommando« ist er zwar noch immer der zu Zwangsarbeit verurteilte Sträfling, er erhält auch da noch immer seinen Lebensbedarf täglich im Gefängnis zugewiesen und er darf sich keinen Schritt weit entfernen ohne Erlaubnisschein, aber er darf mit anderen gleichartigen Sträflingen in besonderen Baracken wohnen, oder mit seiner Familie eine Hütte beziehen, er darf in seinen Freistunden für sich thätig sein, genießt also einen gewissen, wenn auch sehr beschränkten Grad der Freiheit. Ist auch diese Frist abgelaufen und somit seine eigentliche Strafzeit, so wird er gewöhnlich als Zwangskolonist nach irgend einer Gegend Ostsibiriens verwiesen.
Damals gab es im Karagebiet sieben Gefängnisse, die sich längs des Karaflusses auf etwa 30 Kilometer erstreckten.
Im Suchen nach Gold hatte sich die Ansiedlung allmählich 52 flußaufwärts ausgedehnt und da es nicht möglich war, die gefesselten Sträflinge täglich den weiten Weg zurücklegen zu lassen, mußten früher viele von ihnen unthätig im Gefängnis verbleiben. Die Gefängnisse wurden von Aufsehern geleitet, deren Vorgesetzter Major Potuloff war; den Wachedienst versah eine Abteilung von ungefähr 1000 Kosaken, die dem Karabataillon angehörten. Die zwei Gefängnisse für politische Verbrecher, das eine bestimmt für die Männer bei der »Unteren Goldwäscherei«, das andere für die Frauen in Ustj-Kara, unterstanden nicht dem Major Potuloff, sondern dem Gendarmeriehauptmann Nikolin, der zu diesem Zwecke von Petersburg hierher gesandt wurde und über eine ausgewählte Gefängniswache von 140 Gendarmen verfügte. Auch die politischen Gefangenen hatten die Einrichtung des »freien Kommandos«, und zur Zeit unserer Anwesenheit bestand dieses aus ungefähr 15 Männern und Frauen, die in der »Unteren Goldwäscherei« in Hütten wohnten.
Das alles war uns bis nach unserer Ankunft im Karagebiet nicht bekannt und wir wollten nun unser Vorgehen den Verhältnissen anzupassen versuchen. Vorerst beabsichtigten wir die Gefängnisse der gewöhnlichen Verbrecher in Augenschein zu nehmen und sie bei ihrer Arbeit zu betrachten; dann wollten wir die politischen Gefangenen kennen lernen, die im »freien Kommando« lebten und schließlich die Gefängnisse der »Politischen« besuchen, um einen Einblick in ihre Lebensweise zu gewinnen. Daß es uns gestattet sein werde, ein Gespräch mit ihnen zu führen, konnten wir nicht annehmen. Daß uns das Erstere gelingen würde, bezweifelte ich nicht; was das zweite betrifft, so hoffte ich nur, daß es mir gelänge; aber bezüglich des Dritten konnte ich nichts hoffen, war jedoch fest entschlossen, alles Mögliche anzuwenden, um es zu erreichen.
Ich weiß nicht, ob Major Potuloff Weisungen, die uns betrafen, erhielt und wenn es auch geschah, von welcher Art sie gewesen sein mögen. Er verkehrte mit uns sehr 53 freundlich, stellte keine unbequeme Fragen und als ich einen Tag nach unserer Ankunft den Wunsch äußerte, die Gefängnisse und die Minen besichtigen zu dürfen, war er weder überrascht, noch zögerte er mit der Erlaubnis, er stellte uns sogar seinen Wagen zur Verfügung mit dem Bemerken, daß es ihn freue, uns begleiten zu können.
Es dürfte genügen, wenn ich hier nur zwei der von uns besuchten Gefängnisse der Karagegend schildere, das ärgste von allen und dann wieder das beste.
Als ärgstes dieser Gefangenenhäuser kann wohl jenes von Ustj-Kara gelten. Es ist niedrig, sumpfig gelegen, an der Grenze der Kolonie, nahe jener Stelle, wo die Kara in die Schilka mündet. Es wurde in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts erbaut, in jener Zeit, wo die russische Regierung zuerst Sträflinge in den Goldwäschereien zu beschäftigen begann. Es bildet mit seinem umzäunten Hof ein Viereck von beiläufig 35 Meter Länge und Breite. Zwei Seiten werden durch die Baulichkeiten abgegrenzt, während die andern beiden durch dicke, hohe Pfähle gebildet werden. Als wir uns dem Thore näherten, präsentierte die Schildwache und rief den diensthabenden Unteroffizier mit dem üblichen »Starscheh!« an. Ein Kosakenkorporal eilte herbei und öffnete mit seinem Schlüsselbund die kleine Thüre, die sich in dem großen Thor befand. Wir traten ein.
Einige Sträflinge mit halbgeschorenen Schädeln eilten über den Hof ihren Zellen zu. Wir bestiegen nun einige mit Kot und Eis bedeckte Stufen und gelangten durch eine massive Thüre in einen langen, niedrigen und finstern Korridor, dessen Fußboden schlüpfrig und dessen Atmosphäre warm, feucht und von jenem scharfen Geruch erfüllt war, der das Kennzeichen aller sibirischen Gefängnisse ist. Wer diesen Geruch je verspürt hat, wird ihn sicherlich nicht vergessen, und er läßt sich auch nicht mit allen anderen schlechten Gerüchen vergleichen. Man stelle sich eine dumpfe Kellerluft vor, von der jedes Teilchen wiederholt ein- und ausgeatmet wurde, so daß sie 54 fast völlig mit Stickstoff erfüllt ist und man denke sich noch dazu, die scharfe, amoniakhaltige Ausdünstung vieler, lange Zeit nicht gewaschener Körper, den Geruch von faulendem Holz und menschlichen Unrats – dann mag man beiläufig einen Begriff sich bilden können, wie diese Atmosphäre beschaffen ist. Wer an diese, mit Krankheitskeimen aller Art durchsetzte Luft nicht einigermaßen gewöhnt ist, dem kann sie keinen Augenblick erträglich sein. Als wir über den schlüpfrigen Boden des Korridors dahinschritten und kaum den ersten Atemzug dieser Atmosphäre eingesogen hatten, wandte sich Potuloff, den Ausdruck des Abscheus in den Mienen, zu mir und rief aus: »Ein ekelhaftes Gefängnis!«
Der Korporal, der uns vorausschritt, öffnete nun die massive Holzthüre der ersten Zelle und schrie hinein: »Stille!« die übliche Ermahnung des Kerkermeisters, wenn ein Offizier die Zellen besichtigen geht.
Wir traten nun in einen Raum, der ungefähr 8 Meter lang, 7 Meter breit, 3 Meter hoch war und 29 Häftlingen zum Aufenthalt diente. Hier war die Luft noch um vieles ärger, als im Korridor, es wurde mir recht übel dabei. Die zwei Gitterfenster der Zelle konnten in keiner Weise geöffnet werden und auch sonst war keine Vorrichtung zur Lüftung vorhanden. Die Wände mochten einst getüncht gewesen sein, jetzt waren sie von Schmutz ganz schwarz und an vielen Stellen mit dem Blut des getöteten Ungeziefers bespritzt. Die Dielen waren wohl gefegt, aber eine dicke Kruste Kot hatte sich da festgesetzt. Die Pritschen befanden sich an drei Seiten, wo die Gefangenen dichtgedrängt mit dem Kopf gegen die Wand gerichtet, ohne jedes Bettzeug schliefen. Außer den Pritschen, einem gemauerten Ofen und einem Unratkübel, befand sich gar kein Einrichtungsstück in der Zelle.
Wir verweilten in der ersten Zelle nur zwei oder drei Minuten. Ich dürfte wohl der Erste gewesen sein, der sich hinausflüchtete; viel deutlicher blieb mir aber in Erinnerung das Gefühl der Erleichterung, mit dem ich im Korridor 55 aufatmete. Daß mir jetzt die Atmosphäre der Flur als Erfrischung dienen konnte, das mag deutlich zu erkennen geben, wie jene der Zelle beschaffen war. Rasch durchschritten wir nun die andern sieben Zellen des Gefängnisses, die sich von der ersteren kaum mehr, als durch ihren Umfang oder die Anzahl der Insassen unterschied. Diese entsetzliche Atmosphäre war überall dieselbe und die Folgen ließen sich auch in der Krankenabteilung erkennen: Skorbut, Typhus, Blutleere und Lungenschwindsucht waren hier, wie in den meisten sibirischen Gefängnisspitälern, die vorherrschenden Krankheiten. Jeder der Beamten wußte auch was die Quelle dieser Übel sei und keiner machte den Versuch es beschönigen zu wollen. Der Gefängnisarzt bemerkte zu mir: »Bei uns herrscht das ganze Jahr Skorbut. Sie haben nun die Zellen besichtigt und können sich ein Urteil bilden. Bei diesem Schmutz und bei dieser Überfüllung müssen Krankheiten epidemisch auftreten. Wir haben jetzt 140 Kranke, im Frühling steigert sich diese Zahl oft auf 250.«
Früher war es noch ärger. Im Jahre 1857 wollte der berüchtigte Razgildjeff aus den Goldgruben von Kara 100 Pud Gold für den Zaren ausbeuten lassen und da erkrankten und starben mehr als tausend Häftlinge an Skorbut, Typhus und Überarbeitung. Damals war der gepriesene Alexander, »der Befreier«, Zar von Rußland, und es wäre wohl anzunehmen, daß er dem Schicksal der in seinen Privatminen zur Arbeit gezwungenen Menschen einige Beachtung gewidmet hätte, daß er nur einen Teil des mit dem Opfer von tausend Menschenleben gewonnenen Goldes zur Verbesserung dieser tödlichen Zustände verwenden wollte – nichts geschah! Zehn Jahre später herrschte noch, wie S. Maximoff in seinem Buche »Sibirien und die Zwangsarbeit« bemerkt, »derselbe Zustand, waren noch dieselben Gefängnisse und derselbe Skorbut vorhanden.« Und als wir noch weitere zwanzig Jahre später im Karagebiet erschienen, da mußten wir vernehmen: »Bei uns herrscht das ganze Jahr Skorbut!« – Die Zahl der in den 56 Krankenhäusern von Kara im Jahre 1886 vorgekommenen Erkrankungen stellte sich, nach amtlichem Berichte, auf 4208, was eine Durchschnittsziffer von täglich 117 ergiebt.
Aber in den amtlichen Ausweisen sind noch lange nicht alle Krankheitsfälle verzeichnet. Viele Sträflinge, die zum »freien Kommando« gehören, liegen in ihren Hütten und auch jene Kranke, die in den Zellen verbleiben, weil ihr Zustand nicht so arg erscheint, oder weil die Spitäler überfüllt sind, sind da nicht mitgerechnet. Es ist nichts Seltenes, daß ein Häftling im ersten Stadium des Skorbuts zwei Wochen in seiner Zelle liegt und dabei seine gesunden Mithäftlinge ansteckt.
Nachdem wir die Zellen der Männer besichtigt hatten, kamen wir endlich wieder in die freie, frische Luft des Hofraumes; wir durchschritten diesen, um das Frauengefängnis zu besuchen. Es war dies ein ähnlicher, aber viel kleinerer Holzbau, der zwei Zellen enthielt. Sie waren wärmer, heller und auch höher, als die anderen, aber im großen und ganzen nicht viel besser. Der Fußboden war voll Löcher und dahin mochten die Weiber wahrscheinlich allen Schmutz und Unrat schütten. Ich bückte mich, um eines der Löcher näher zu besichtigen, was die Dunkelheit nicht zuließ, aber dagegen roch ich um so mehr. Die dumpfe, von Fäulnis durchsetzte Luft war so arg, daß ich den Atem zurückhalten mußte. Auch diese Zellen, die 48 Personen weiblichen Geschlechtes aufgenommen hatten – manche von ihnen hatte überdies noch ein kränkliches Kind auf dem Arm – waren nicht besser eingerichtet, als die anderen, auch hier war nicht die Spur von Bettzeug zu finden.
Während unseres Rundganges wurde Major Potuloff von den armen Häftlingen mit Bitten und Klagen bestürmt. Einer der Gefangenen hatte z. B. während des Transportes angeblich im Zustand der Trunkenheit seinen Namen »vertauscht« und mußte nun hier Zwangsarbeit verrichten, anstatt irgendwo als Zwangskolonist zu wohnen; er bat um Änderung. 57 Ein anderer meinte, er wäre bereits berechtigt, im »freien Kommando« zu leben; andere wieder klagten, sie wären schon Monatelang im Gefängnis, ohne zu wissen, warum. Viele wandten sich auch an mich in der Meinung, wir wären zur Inspektion hierher gekommen. Um dem Major die Verlegenheit zu ersparen und den Häftlingen vielleicht auch die Bestrafung, unterließ ich es nicht, sie so rasch wie möglich aufzuklären, daß es uns nicht möglich sei, ihnen zu helfen, daß wir nur einfache Reisende seien, die die Gefängnisse nur besichtigen wollen.
Der arge Zustand der Gefängnisse und die vielen Klagen der Leute schienen Potuloff verstimmt zu haben. Er wurde schweigsamer und machte nicht den geringsten Versuch die Verhältnisse zu beschönigen. Auch fragte er uns nicht, weder damals noch später um unsere Meinung über die Gefängniszustände; er konnte sich recht gut denken, was wir davon halten mußten.
In einem anderen abgeschlossenen Hof befand sich das Gefängnis für Frauen, die aus politischen Gründen verurteilt waren. Um diesen Teil zu besuchen, mußte jedoch der Gendarmeriehauptmann Nikolin seine Erlaubnis geben. Was ich davon später erfahren habe, giebt mir die Meinung, daß es vielleicht reinlicher und nicht so überfüllt war, wie die Zellen der gewöhnlichen Verbrecher, daß es aber sonst auch nicht gesünder und bequemer gewesen.
Dienstag Nachmittag besuchten wir das Gefängnis von Mittel-Kara und dieses dürfte wohl das beste von allen sein, die sich in jener Gegend befinden. Es lag ungefähr 5 Kilometer von der Unteren Goldwäscherei entfernt; der Weg dahin führte am rechten Ufer der Kara aufwärts, durch ein ödes, beschneites Thal, in welchem einige schlechte Hütten der im »freien Kommando« Wohnenden zerstreut lagen. Eine erbärmlichere Behausung, als diese aus Treibholz und Brettern flüchtig gezimmerten Hütten bilden, mag es wohl nicht geben und es ist mir ganz unbegreiflich, wie Menschen in solchen 58 Räumlichkeiten, einen harten, sibirischen Winter zubringen können.
Mit der Schaffung des »freien Kommandos« wurde bezweckt, die Sträflinge zur Besserung anzueifern, ihnen die Möglichkeit zu geben, durch gute Aufführung ihre Lage verbessern zu können. Ich glaube nicht, daß die Moral dadurch gefördert wird, im Gegenteil! Das »freie Kommando« leistet viel eher noch der Entsittlichung Vorschub, der Trunksucht und noch manchem anderen Laster. Auch der Umstand, daß Frauen und Kindern gestattet ist, ihre Angehörigen nach Sibirien zu begleiten und im »freien Kommando« getrennt von den in Zwangsarbeit Befindlichen zu leben, schädigt die Sittlichkeit. Diese Frauen und Kinder werden von der Regierung unterstützt in der Meinung, daß sie später auf den Häftling durch das häusliche Zusammenleben einen veredelnden Einfluß ausüben werden. Nun aber führt die Mehrheit dieser Frauen und Mädchen in den Strafkolonien einen lasterhaften Wandel; sie verderben hier, selbst wenn das Etappenleben ohne besonders schädigenden Einfluß auf ihre Moral gewesen ist. Der Sträfling, der zum »freien Kommando« gelangt, hat auch in den wenigsten Fällen Lust sich sein Heim wohnlich zu gestalten. Er weiß, daß seine Strafzeit nun doch nicht mehr so lange währt, daß er dann als Strafkolonist nach irgend einem Teil Sibiriens verschickt wird, wobei er hier die Früchte seiner Bemühungen verlieren würde. So ist denn sein ganzes Streben möglichst wenig zu arbeiten und so weit er es vermag, allen Lastern zu folgen.
Ein großer Teil der Sträflinge ersehnt seine Zuteilung zum »freien Kommando« nur darum, weil ihnen da eine günstigere Gelegenheit zur Flucht geboten ist. Jährlich, sobald es Sommer geworden, flüchten sie zahlreich in die Wälder und streben von hier aus den Baikalsee zu erreichen. Der Kuckuckruf gilt ihnen da als Signal und die Flucht ergreifen, heißt im Rotwelsch der sibirischen Brodjaks, »des Generals Kuckuck Befehl erhalten«.
59 Gegen 300 Sträflinge aus dem »freien Kommando« folgen jährlich dem Befehl des »Generals Kuckuck.« Viele der Sträflinge des Karagebietes, die im Frühjahr flüchten, kehren im Herbst, unter anderem Namen und gefesselt, als Gefangene zurück, aber sie sind doch befriedigt, denn sie haben einige Monate in der Freiheit die frische Waldesluft genossen. Viele Sträflinge können die Flucht überhaupt nicht unterlassen, ein innerer Drang treibt sie nach den pfadlosen Wäldern und weiten Steppen Ostsibiriens. Sie wissen recht gut, daß ein gänzliches Entkommen kaum möglich ist, sie wissen recht gut, daß sie wie ein gehetztes Wild rastlos fliehen müssen, daß sie monatelang von Beeren und Kräutern sich nähren müssen, daß sie stündlich den Tod zu gewärtigen haben, und doch – kaum wird der erste Kuckuckruf laut, so treibt es ihn fort mit AllgewaltMan vergleiche 1. Teil, Seite 179–184.. »Ich hatte früher einen Häftling zum Diener«, erzählte mir ein Gefängnisbeamter von Kara, »der ein erpichter Brodjak war und oft nur darum fortlief, weil er das Vagabundenleben nicht länger entbehren konnte. Er hatte noch immer bei seinen Ausreißereien die größten Entbehrungen erleiden müssen und er wußte, daß er aus Sibirien nicht entkommen kann, aber immer wieder flüchtete er um nach einiger Zeit gefesselt wieder eingebracht und streng bestraft zu werden. Und so wurde er alt. Eines Tages kam er zu mir – damals gehörte er dem »freien Kommando« an und bat mich, ich möge ihn einsperren lassen. Verwundert schaute ich ihn ob des seltsamen Begehrens an und fragte ihn, was er denn angestellt habe. »Nichts, wahrhaftig nichts!« beteuerte er, »aber, Sie wissen ja, ich bin ein Brodjak, ich bin schon oft fortgelaufen und würde es gewiß wieder thun; aber ich bin jetzt alt und kann das Leben im Walde nicht mehr wie früher ertragen. Lassen Sie mich doch einsperren, Herr, ich könnte mich nicht bezwingen, wenn ich den »General Kuckuck« rufen hörte.« – Ich erfüllte seinen Wunsch und ließ ihn den größten 60 Teil des Sommers hinter Schloß und Riegel. Und als die Sommerszeit vorüber war, da war auch sein Wandertrieb gewichen und er verhielt sich ganz ruhig.«
Nicht ohne Rührung konnte ich diese Geschichte von dem alten Brodjak vernehmen. Gleich Odysseus, der sich an den Mast binden ließ, um den süßen Lockungen der Sirenen zu widerstehen, ließ sich der Alte in Haft nehmen, damit ihn nicht der Kuckucksruf hinaus in die Welt locke, aus deren Ferne ihm die Freiheit so verführerisch winkte.
Es liegt da die Frage nahe, wie es doch komme, daß die so streng bewachten Häftlinge zu entwischen vermögen. Das ist, im Grunde genommen, minder schwierig, als es scheinen könnte. Die Häuser des »freien Kommandos« werden nicht bewacht und es ist auch kein Bewachungskordon aufgestellt, es fällt daher dem Gefangenen nicht schwer, nachdem er sich einige Lebensmittel aufgespart hat, nächtlich das Weite zu suchen. Außerdem ist manchem Gefängnisaufseher diese Flucht gerade nicht unwillkommen, da sie daraus einen Gewinn zu schlagen vermögen. Sie verschweigen nämlich die Sache und nehmen pünktlich die für die Geflüchteten bestimmten Kleider und Lebensmittel in Empfang, um sie dann an den Lieferanten wieder zu verkaufen. So kommt es, daß die Regierung dieselben Gegenstände wiederholt erhält und bezahlt. Für den betrügerischen Beamten bedeutet jeder gestorbene oder geflüchtete Sträfling eine Einnahmsziffer, so lange sich eben der Abgang verschweigen läßt und die Namen in der Liste verzeichnet bleiben können. Von dieser Seite ist daher selten zu erwarten, daß sie den Fluchtversuchen kräftig entgegentreten werde, oder besondere Anstrengungen machen wolle, die Entwischten wieder einzubringen . . .
Das Gefängnis von Mittel-Kara befand sich in der Kolonie gleichen Namens. Es war ein nicht sehr umfangreiches Blockhaus mit einem Stockwerk; die Front ging nach der Straße zu, die anderen Seiten waren von dem hohen Pfahlzaun begrenzt, der einen viereckigen Hof umgab. Dem Aussehen nach 61 und in seiner Einrichtung war dieses Gefängnis jenem von Ustj-Kara ziemlich ähnlich, nur mochte der Bau nicht so alt sein und auch bessere sanitäre Verhältnisse haben. Während unserer Anwesenheit waren die meisten der Insassen in der Oberen Goldwäscherei beschäftigt, ich konnte mich daher auf den Augenblick nicht überzeugen, ob auch hier eine derartige Überfüllung stattfinde, wie in den anderen Gefängnissen. Major Potuloff erklärte mir auf meine Frage hin, daß es gegenwärtig von 107 Häftlingen bewohnt sei. Die wenigen, die eben anwesend waren, mußten wegen Krankheit zurückbleiben, oder weil ihre Anwesenheit zur Verrichtung der häuslichen Arbeiten, wie Kochen und Reinigen, nötig war. Die Luft war zwar auch hier dumpf, allein viel reiner, als in Ustj-Kara, man vermochte wenigstens ohne Ekelüberwindung zu atmen. Der erwähnte charakteristische Gefängnisgeruch fehlte auch hier nicht, doch schien es mir, als wolle man ihn durch den Duft der über den Pritschen an den Wänden angebrachten frischen Tannenreiser unmerklicher machen. An manchen Stellen waren bei diesen Reisern Papptäfelchen angebracht, die mit Stellen aus der Bibel bedruckt waren. So las ich da u. a.: »Ihr, die ihr mühselig und beladen seid, kommet alle zu mir, ich will euch erquicken.« – Auf wessen Veranlassung hin diese Sprüche angebracht wurden, weiß ich nicht; mich dünkten die citierten Worte und der Tannenschmuck doch zu sehr im Widerspruche zu dem düstern Gefängnisraum mit seinen harten Pritschen voll Ungeziefer.
Manche dieser Pritschen waren mit dünnen Decken versehen, die von den Gefangenen selbst aus allerlei Flicken und Lappen hergestellt waren. Es ist eine Unmenschlichkeit, daß die russische Regierung den Gefangenen nicht einmal ein Strohlager giebt, den Luxus, den man in civilisierten Ländern selbst den Kettenhunden gönnt. Hier aber müssen Sträflinge täglich zwölf Stunden schwer arbeiten und wenn sie dann müde heimkehren, haben sie nichts, als ein hartes Lager und dabei die verheißenden Worte der Schrift an den schmutzigen Wänden: 62 »Ihr, die ihr mühselig und beladen seid, kommt alle zu mir, ich will euch erquicken.«
Wir haben zehn Gefängnisse in Transbaikalien besichtigt, aber nur in einem einzigen, im neuen Gefängnis zu Werkhin-Udinsk sahen wir ein Bett, ein Kissen und eine Decke. Überall schlafen die Sträflinge in ihren Kleidern auf den harten Pritschen, überall werden sie von Ungeziefer gequält und überall müssen sie eine verpestete Luft einatmen. Wer da meint, ich übertreibe, den will ich nur auf die bereits erwähnten SchriftenSiehe 1. Teil, Seite 184. verweisen: »Sibirien und die Zwangsarbeit« von Maximoff und »Afar« von Orfanoff. Ich bin also nicht der erste, der auf diese Dinge hinweist, es geschah schon früher in Rußland selbst und von Russen; ich wiederhole es auch nicht darum, weil mir die Dinge gar so sehr gefallen, sondern, weil sie nicht oft genug wiederholt werden können, um endlich die russische Regierung zu veranlassen, diesen schmählichen Zuständen ein Ende zu machen.
Nach Besichtigung der Zellen gingen wir in die Küche.
Die Sträflinge im Karagebiet erhalten täglich drei Pfund Roggenbrot, etwa vier Unzen Fleisch mit Knochen, etwas Gerste, die gewöhnlich zur Suppe benutzt wird und endlich eine Kleinigkeit an Ziegelthee. Wer durch Mehrarbeit oder in sonst einer Weise zu ein paar Kopeken kommt, gönnt sich wohl auch zuweilen einige Kartoffeln oder Kohlblätter. Die Speisen, die der Gefangene erhält, schienen mir ausreichend genug zu sein, doch wurde keine Abwechslung vorgenommen. Ich kostete das Brot, es war ungefähr von der Art wie es die sibirischen Bauern gewöhnlich genießen, nur war es nicht genügend ausgebacken; das Fleisch, das ich an die Gefangenen verteilen sah, schien mir noch weniger befriedigend, es glich den Fettbrocken, die zur Seifenfabrikation verwendet werden.
Die Mahlzeiten der Sträflinge fanden folgendermaßen statt: Nach dem Morgenaufruf erhielten sie ein Frühessen, aus 63 Ziegelthee und Brot bestehend, das sie in den Zellen verzehrten. Nachdem dies geschehen war, marschierten sie nach den Goldwäschereien, Thee und Brot für ein zweites Essen mitnehmend. Dieses erfolgte, gleichviel bei welcher Witterung, im Freien an einem Lagerfeuer. Erst in der späten Nachmittagsstunde, wenn sie von ihrer Arbeit zurückgekehrt waren, erhielten sie in den Zellen die eigentliche Mahlzeit: Suppe, Fleisch, Brot und zuweilen auch noch ein wenig Thee. Nachdem dann wieder der Namensaufruf erfolgt, werden sie in den Zellen eingeschlossen.
Die Kleidung eines Sträflings im Karagebiet besteht – oder sollte vielmehr bestehen – aus folgendem:
Alle sechs Monate ein grobes Linnenhemd und gleichartige Hose, jedes Jahr einen Rock, eine dickere Hose und eine Mütze, ferner im Winter für die Dauer von dreiundeinhalb Monate berechnet: ein Paar »Brodnjas«, Lederstiefel, und im Sommer für die Dauer von zweiundzwanzig Tagen berechnet ein Paar »Kottjis«, pantoffelartige Schuhe. Von welcher Art die Nahrung und Kleidung der Sträflinge ist, erklärt sich am besten und kürzesten aus dem Umstande, daß die Regierung für einen Sträfling in dem Karagebiet jährlich kaum achtzig Rubel ausgiebt.
Nachdem wir das Gefängnis von Mittel-Kara besichtigt hatten, fuhren wir gegen Ober-Kara, verließen dann den Wagen und gingen in der Richtung des Flusses nach den Goldwäschereien.
Der goldhaltige Sand im Karagebiet befindet sich unter einer Schicht von Thon oder Stein, deren Dicke zwischen drei bis sechs Meter schwankt. Die Gefangenen müssen nun diese Schicht entfernen und den goldhaltigen Sand zur Maschine befördern, wo er in einem großen eisernen Trichter ausgewaschen wird. Das Ganze wird dann in eine Reihe flacher, geneigter Rinnen abgelassen, wo der »schwarze Sand« und die Goldteilchen zu Boden sinken und von querliegenden Hölzern an dem Ablaufen verhindert werden.
64 Der erste Abbau, den wir besichtigten, bot einen gar trüben Anblick, der durch den grauen Wintertag noch gesteigert wurde. Dreißig bis vierzig Gefangene von einem Kordon Kosaken umringt, arbeiteten in einer tiefen Grube, deren Sohle einst das Flußbett gewesen sein mochte. Einige entfernten mit Spitzhacken die harte Decke, andere füllten den Abbau in Traggeräte und wieder andere schafften sie fort und entleerten sie in einer gewissen Entfernung. Die Maschine war nicht im Betrieb, denn es sollte jetzt nur eine Goldschicht bloßgelegt werden.
Die gefesselten Sträflinge arbeiteten verdrossen, man merkte, daß sie sich nach der Nachtruhe sehnten. Es war stille; die Ruhe wurde nur unterbrochen von dem Geräusch der Spitzhacken, von den kurzen Befehlen der Aufseher und von dem Kettengeklirr der Sträflinge, die den Abbau forttrugen. In einer geringen Entfernung versuchten einige Soldaten auf dem beschneiten Boden ein Feuer anzumachen, um ihren Thee bereiten zu können und die froststarren Hände zu erwärmen. – Wir beobachteten die Sträflinge ein Viertelstündchen, dann kehrten wir zu unserem Wagen zurück, verstimmt von dem trüben Anblick und dem Wetter.
In den Minen von Kara wird im Winter von 7 Uhr morgens bis 5 Uhr abends gearbeitet, im Sommer von 5 Uhr morgens bis 7 Uhr abends. Einen beträchtlichen Teil dieser Zeit beansprucht auch der Weg, den die Gefangenen vom Gefängnis zu den Goldgruben und wieder umgekehrt zurücklegen müssen. Diese liefern jährlich dem Zaren 11 Pud Gold. Die wirkliche Ausbeute ist jedoch viel größer, allein die Sträflinge, die im »freien Kommando« leben, wissen oft Goldkörner beiseite zu schaffen und an Leute zu verkaufen, die dieselben über die chinesische Grenze schmuggeln. In Sibirien selbst ist der Handel nicht möglich, da der Besitz des »Goldenen Weizens« – wie es die Gefangenen nennen – an und für sich schon strafbar ist; aber der Handel bringt so reichen Gewinn, daß ihn viele wagen. Sie kaufen den Gefangenen das Gold ab, 65 das »Gott gehört«, wie diese zu sagen pflegen, und woraus sie den Schluß ziehen, daß sie es für sich behalten dürfen, wenn es ohne Gefahr der Entdeckung möglich ist.
Major Potuloff meinte, die Erhaltungskosten der Sträflinge im Karagebiete dürften sich auf jährlich eine halbe Million Rubel belaufen. Ob auch der Zar, dem der ganze Ertrag der Goldgruben gehört, einen Teil dieser Kosten deckt, weiß ich nicht; aber es ist mir bekannt geworden, daß die »Kabinettminen« – wie sie in Rußland genannt werden – jährlich gegen 3600 Pfund reines Gold ergeben.