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Wir beabsichtigten nun durch die Irtisch-Steppen über Omsk, Pawlodar, Semipalatinsk, Usti-Kamenogorsk und Barnaul nach Tomsk zu fahren. Dieser Weg führte uns durch die fruchtbarsten Landstriche der Provinzen Tobolsk und Tomsk, die von Verbannten dicht bewohnt sind, und gab uns auch Gelegenheit, die mohamedanische Stadt Semipalatinsk, die Kirgisen und einen Teil des Altaigebirges kennen zu lernen, jene schöne Gebirgsgegend, die mir ein russischer Offizier ganz begeistert als »die sibirische Schweiz« pries. Aber noch ein Grund veranlaßte uns, von der üblichen Route abzuweichen. Hier waren, wie ich bemerkte, vom Ministerium des Innern alle Behörden von unserer Reise verständigt worden und zweifellos auch mit Weisungen versehen, wie sie sich uns gegenüber verhalten sollten. Wir befanden uns daher unter einer Art amtlicher Aufsicht, was meinen Zwecken sehr hinderlich war, hauptsächlich meiner Absicht, mit politisch Verbannten zu verkehren. Wie ich später erkannte, hatte ich allen Grund, mich über diese Abweichung von meinem ursprünglichen Reiseplan zu freuen. Wir gelangten dadurch in ein Gebiet, wo die politischen Verbannten freier als anderwärts sich bewegen dürfen, wo es daher am leichtesten ist, sie kennen zu lernen, und wo wir überdies auch einen humanen, unparteiischen Gouverneur fanden.
Wir kauften uns nun einen Tarantas, besorgten uns einen Lieferschein für Postpferde, nahmen von den Bekannten Abschied und setzten unsere Reise nach Semipalatinsk fort.
Die kaiserlich russische Post dürfte gegenwärtig die 54 ausgedehnteste und bestgestaltete Postfahrtverbindung der Welt sein. Vom Südende der Halbinsel Kamtschatka bis zum fernsten Dorfe Finnlands, von der stürmischen Küste des nördlichen Eismeeres bis zu den heißen Wüsten Mittelasiens bildet das ganze Reich ein Poststraßennetz. Man kann in Nischnii-Nowgorod seinen Koffer packen, einen Padarozhnaja (Fahrschein) im Postamt lösen um nach dem 11 000 Kilometer entfernten Petropawlowsk in Kamtschatka zu reisen, mit der Gewißheit, auf der ganzen großen Strecke überall Pferde, Renntiere oder Hunde zum Vorspann bereit zu finden. Postwagen für Reisende, das Wahrzeichen westeuropäischen oder amerikanischen Postdienstes, kennt man in Rußland nicht; die Wagen, welche die Briefe befördern, nehmen keine Reisenden auf. Wer da reisen will, fährt in seinem eigenen Wagen oder Schlitten, wozu er Postpferde mieten kann, man fährt da wann und wie man will, ganz nach lieber Lust und Bequemlichkeit. Die Preise für diese Postbeförderung in Westsibirien sind sehr niedrig. Man zahlt, den Kutscher inbegriffen, für jedes Pferd ungefähr 4,7 Pfennig für 1½ Kilometer, für das landesübliche Dreigespann also gegen 14 Pfennig. Es war mir oft ein drückendes Gefühl, wenn wir den Kutscher mitten in der Nacht wecken und uns mit dem Dreigespann auf stürmischem, vielleicht auch gefährlichem Wege eine kürzere Strecke fahren ließen, um ihm dann die geradezu lächerlich kleine Gebühr zu bezahlen. Aber wie gering diese Gebühr auch ist, vielen der Bauern scheint sie doch bedeutend genug, um mit der Post zu konkurrieren, indem sie den Reisenden »Wolni«, d. h. freie Pferde zur Beförderung von einem Ort zum andern anbieten, und sie werden oft auch vorgezogen, da diese Pferde viel leistungsfähiger zu sein pflegen, als die geplagten Postgäule. Naht man einem Dorfe, so wird der Kutscher zumeist den Kopf wenden und fragen, ob er vor der Poststation Halt machen soll, oder vor dem Hause eines »Freundes«. Mit »Duschki«, mit »Freunden« zu fahren, kommt wenigstens nicht höher zu stehen als mit der Post, 55 und man hat dabei noch gute Gelegenheit, das Hauswesen dieser Leute kennen zu lernen.
Der erste Teil unserer Fahrt von Tjumen nach Omsk bot nichts Interessantes. Wir fuhren durch sumpfige Ebenen, die an vielen Stellen Weiden und Erlengebüsch, Gestrüpp und verkrüppeltes Nadelholz aufwiesen, was uns nur den Ausblick verengte. Dieser Teil der Provinz Tobolsk scheint in einer verhältnismäßig späten geologischen Periode ein Binnensee gewesen zu sein, der das Kaspische Meer und den Uralsee mit dem nördlichen Eismeer verband, nach der Richtung jener Tiefebene, die gegenwärtig Ob und Irtisch durchströmen. Diese Vermutung bestätigt der Anblick der Sandflächen, Salztümpel, Lehmschichten und Moräste, die hier sehr häufig sich zeigen.
Ein Freund gab mir einen Empfehlungsbrief mit an den reichen sibirischen Fabriksherrn Kolmakoff, der auf seinem Gute wohnte, ungefähr 100 Werst von Tjumen entfernt, in der Nähe des Dorfes Zawodo-Ukofskaja. Diesen besuchten wir in den Abendstunden und waren nicht wenig erstaunt über den geschmackvollen Luxus, den wir hier fanden. Das Haus war zwar nur ein Holzbau mit zwei Geschossen, aber es war geräumig und behaglich eingerichtet. Von den Fenstern aus sah man in den schönen Garten mit Teich, Schlängelpfaden, Blumenbeeten, Laubgrotten, Reihen von Johannesbeer- und Stachelbeersträuchen. An des Gartens Ende stand ein geräumiges Treibhaus, gefüllt mit Geranien, Hortensien, Kakteen, Orange- und Zitronenbäume, Ananas und noch mancherlei tropische oder halbtropische Gewächse. Nächst dem Hause befand sich ein Warmhaus, voll Gurken und Melonen; in der Mitte des Gartens ein großes Glashaus, das als Wintergarten diente. In diesem Krystallpalast grünte ein ganzes Wäldchen Bananen und Palmen, mit Blumenrabatten begrenzte Pfade, wo an geeigneten Stellen Ruhebänke oder Stühle aufgestellt waren. Und das alles war keine Topfkultur, sondern wuchs frei aus dem Boden heraus.
56 »Wer hätte gedacht, daß er in Sibirien unter Palmen, in Schatten von Bananen ruhen könne!« rief mein Genosse erstaunt aus, als er sich nun zwischen Blüten und Blumen niedersetzte, um ein Weilchen auszuruhen.
Wir besichtigten noch den anstoßenden großen Park, dann gingen wir ins Haus zurück, wo ein treffliches Abendessen, bestehend aus Kaviar, Pilzen, Lachs, Geflügel, Obst, Backwerk, Wein und Branntwein unserer harrte.
Indes war es Nacht geworden und als gegen die elfte Stunde die von uns bestellten Pferde anlangten, verabschiedeten wir uns von unserem gastfreundlichen Wirt und fuhren in die finstere Nacht hinein.
Es war eine recht schlechte Fahrt. Die ohnehin nicht im besten Zustande sich befindliche Straße war durch das vorhergegangene Regenwetter fast unfahrbar geworden. Der Kutscher hieb ohne Rast auf die Pferde ein und wir wurden durchgerüttelt, so daß an Schlaf gar nicht zu denken war. Am nächsten Morgen erreichten wir matt und schläfrig das Dorf Nowo-Zaimskaja und kehrten in einer Hütte ein, die einem der erwähnten »Freunde« unseres Kutschers gehörte. Ganz erschöpft warfen wir uns auf die Erde nieder, wo schon die Familie Nachtruhe hielt, und schliefen da drei Stunden.
Wir setzten unsere Reise fort. Nach einer 24stündigen schlechten Fahrt, bei der uns kein Schlaf beschieden war, kamen wir Donnerstag morgens bei Regenwetter in der Kreisstadt Ischim an. Zufolge der ungünstigen Witterung unterließen wir es, entgegen unserer ursprünglichen Absicht, in Ischim Aufenthalt zu nehmen; wir tranken im Hause eines Bauern Thee und fuhren dann gleich weiter. Außerhalb der Stadt passierten wir einen gelichteten Birkenwald und sahen da eine Menge Leute, die in unserer Richtung mühevoll durch den Kot wateten. Es waren meistens Muschiks oder Bauernweiber; es befanden sich jedoch Leute dabei, die Regenschirme hatten und städtische Kleider trugen.
Etwa 6 Kilometer von der Stadt entfernt, kam uns eine 57 Prozession sibirischer Bauern entgegen. Große Kreuze mit drei Balken, weiße und bunte Fahnen und riesige Laternen auf langen Stangen getragen, ragten aus dem Zug hervor. Als sie uns näher kamen, sahen wir inmitten der Straße ein starkes Gewühl, welches sich um eine Stange drängte, an der etwas befestigt war, das einem Bild in Goldrahmen glich. Die Stange hatte ein hölzernes Untergestell, wo auf allen Seiten Handhaben waren. Sechs barhäuptige Bauern trugen sie. Sie schwitzten und keuchten bei dieser Last; wahrscheinlich war der Rahmen des Bildes aus massivem Gold oder vergoldetem Silber. Vor dem Bilde schritt ein Geistlicher, umgeben von Diakonen; diese trugen die gestickten Kirchenbanner, Kreuze und Laternen, die große Ähnlichkeit hatten mit Straßenkandelabern. Sie sangen in recht einförmiger Weise, wobei die andern manchmal einstimmten. Die ganze Prozession mochte aus 4 bis 500 Personen bestehen, meistens Frauen, die den niederströmenden Regen gar nicht zu beachten schienen. Der Zug vergrößerte sich fortwährend durch neue Ankömmlinge, wozu auch jene Fußgänger gehörten, die kurze Zeit früher an uns vorüberkamen.
Seit wir Sibirien betraten, hatte ich noch kein so fremdartiges, an das Mittelalter gemahnendes Bild gesehen. Mich dünkte, ich sei ins elfte Jahrhundert zurückversetzt und sähe nun einen von Peter von Amiens fanatisierten Haufen mit Kreuz und Banner zum Kreuzzug eilen.
Als die Prozession vorüber war, der eintönige Gesang verhallt, fragte ich den Kutscher, was das wohl zu bedeuten habe. Mit Mühe gelang es mir eine verständliche Erklärung zu erhalten. Ich entnahm daraus, daß eine der Kirchen von Ischim ein wunderthätiges Bild besitze, und um den Landleuten, die verhindert sind dahin zu wallen, den Segen dieser Reliquie teilhaft werden zu lassen, wird das Bild jährlich einmal nach den bedeutendsten Ortschaften der Umgegend getragen, wobei es von vielen Hunderten begleitet wird. Jetzt kehrte es von seiner Rundreise wieder heim, was unser Kutscher kurz 58 und kräftig mit den Worten bezeichnete: »Die Mutter Gottes kommt wieder nach Hause.«
Trotz des Regens setzten wir am folgenden Donnerstag unsere Reise in der Richtung von Tjukalinsk fort. Wir übernachteten in Orlowa, wo wir ganz erschöpft anlangten, denn in den 60 Stunden seit unserer Abfahrt von Tjumen hatten wir, nur von einer vierstündigen Rast unterbrochen, bei 370 Kilometer zurückgelegt. Über Nacht klärte sich das Wetter auf und als wir am nächsten Morgen aufbrachen, gab es hellen Sonnenschein und die Luft war mit würzigem Duft erfüllt.
Die Straße war zwar noch immer arg, aber das Bild der Landschaft entschädigte uns einigermaßen; je weiter wir südöstlich fuhren, je üppigere Wiesen zeigten sich, fruchtbarer, teilweise bebauter Boden, auf welchem da und dort einige Birken oder Weiden sich erhoben. Die Steppe war übersät mit Blumen. Wir sahen frischgepflügten Ackergrund, wogende Ährenfelder, Zeichen, daß die Gegend bewohnt sei; aber nirgends war ein Haus, ein Zaun zu sehen und doch konnten menschliche Ansiedlungen nicht fern sein. Darüber kamen wir bald ins klare! Plötzlich zog unser Kutscher die Zügel an, setzte sich zurecht und hieb auf die Pferde ein, wobei er sie noch mit Zurufen anfeuerte: »Hek–ja–a!« Der Taranta sauste dahin, daß mir schier der Atem ausging. Plötzlich sank er in ein tiefes Loch, gleich darauf schnellte er wieder mächtig empor, so daß wir fast von unseren Sitzen geschleudert wurden. Nun wußte ich, daß wir gleich nach einem Orte gelangen mußten, denn ein sibirischer Kutscher weist erst in der Nähe seines Bestimmungsortes, was er zu leisten vermag. Ich rief dem Kutscher zu, er möge doch langsamer fahren, doch es war vergeblich. Mit zurückgelegten Ohren tollten die Pferde dahin, als wollten sie einem Steppenbrand entfliehen; ihre Hufe überschütteten den Wagen mit einem Kotregen, der auch mich nicht verschonte, wenn ich den Kopf hinaussteckte, um den Kutscher zur Mäßigkeit zu mahnen. So schickten wir uns denn drein.
Bald gewahrten wir einen geflochtenen Zaun, der sich auf 59 beiden Seiten 1½ Kilometer hinzog und dort, wo er die Straße kreuzte, ein Thor hatte: es war also der Weideplatz des Dorfes. Als unser Kutscher mit lautem Rufen durch das Thor jagte, trat aus seiner halb in der Erde liegenden, mit Gras und Zweigen gedeckten Hütte der Thorwächter, ein Mann mit entzündeten Augen, langem Weißbart und verfallenen Zügen. Er gemahnte mich lebhaft an Rip van Winkel nach seinem 20jährigen Schlaf. Er verbeugte sich und zog von seinem Haupte etwas, was einst ein Hut gewesen sein mochte. Bald war er unseren Blicken entschwunden und wir bedauerten, daß wir diese Verkörperung menschlichen Elends nicht photographieren konnten.
Innerhalb des Thores stand ein Wegweiser mit der Aufschrift: Dorf Krutaja. – Entfernung von St. Petersburg 2992 Werst. – Entfernung von Moskau 2520 Werst. – 42 Häuser. – 97 männliche Einwohner. – Auf der etwa 800 Meter breiten, zwischen Thor und Dorf liegenden Gemeindenweide grasten zahlreiche Rinder und Schafe. Hinter einigen Windmühlen stand das Dorf, einige verwitterte Holzhäuser, die mit Stroh oder Holz gedeckt waren, wenige ausgenommen, deren flache Dächer eine Schicht Erde trugen, worauf Steppenblumen hervorwuchsen.
Der Lärm unseres Kutschers hatte die Aufmerksamkeit der Bewohner erweckt; alles eilte ans Fenster, um zu sehen, ob es nicht der Gouverneur oder gar ein besonderer Abgesandter des Zaren sei, der so geräuschvoll seinen Einzug hält.
Vor dem Hause seines »Freundes« machte er Halt und rief hinein: »Davai loshedaj!« (Bringt die Pferde!) Nun kamen die müßigen Dörfler von allen Seiten herbei, darunter so manche charakteristische Gestalt mit durchfurchtem Antlitz, struppigem ergrauten Bart, das Haupthaar zum Zopf geflochten. Einige waren barhaupt und barfuß in »Schubas« von zerfetzten Schafpelzen, andere hatten dazu hohe Schaftstiefel, noch andere wieder trugen braune, lange Röcke, die mit schmutzigen Gürteln zusammengehalten wurden. Diese Gesellschaft drängte 60 sich an unseren Wagen heran, während der Kutscher die Pferde ausspannte. Jetzt erschien der Hausherr und fragte uns, ob wir erst Thee nehmen, oder gleich weiterfahren würden. Wir erklärten, daß wir die Reise gleich fortsetzen wollen, worauf er seinem Sohne zurief: »Andreas, reite auf die Weide und bring' die Pferde.« Der Junge schwang sich rasch auf einen ungesattelten Gaul, den ein anderer Bursche herbeigeführt hatte, und jagte davon.
Indes versuchten die Versammelten von unserm Kutscher Näheres über uns zu erfahren. Die Auskunft mochte ihnen nicht genügen, denn einer von ihnen, ein Greis, richtete an mich die Frage, »wohin Gott uns schicke.« Als ich antwortete, daß wir nach Omsk und Semipalatinsk reisten, wurde ein allgemeines»Ah!« laut. Nun war seine Frage, woher wir kämen.
»Aus Amerika,« war meine Antwort.
Wieder allgemeines »Ah!«
»Ist das eine russische Stadt?« fragte der Alte hartnäckig weiter.
»Amerika ist keine Stadt, sondern ein Land!« rief da ein hübscher Knabe aus. Und wie eine auswendig gelernte Schulaufgabe klang's, als er fortsetzte: »Die Erde besteht aus fünf Teilen: Europa, Asien, Afrika, Amerika und Australien. Rußland bildet zwei Drittel von Europa und die Hälfte von Asien.« Mehr geographische Kenntnisse besaß er wohl nicht. Die älteren hatten wahrscheinlich noch nie den Namen Amerika gehört. Ein junger Mann aber, der just in Omsk war, als dort die Leichen der bei der Nordpolfahrt der »Jeanette« Verunglückten durchgeführt wurden, versuchte die andern über Amerika zu belehren. Er erklärte, daß sie das klügste Volk der Welt wären, das einzige, welches sich ins große Eismeer gewagt habe. Das ließ ein Alter nicht gelten; er meinte, die Russen hätten schon dasselbe vollbracht, und wenn sie vielleicht nicht so klug wie die Amerikaner wären, so ständen sie doch als Seefahrer diesen nicht zurück.
61 Während hier der Gedankenaustausch über Nordpolfahrten in lebhafter Weise fortgesetzt wurde, kehrte der ausgesandte Bursche mit den Pferden zurück. Sie wurden an den Tarantas gespannt, unser neuer Kutscher nahm seinen Sitz ein und fragte uns, ob wir zur Fahrt bereit wären; wir bejahten diese Frage und er trieb mit lautem »Nu–uh!« die Pferde an. Ein Ruck – ein Aufspritzen des Straßenmorastes – Schellengeklingel des Pferdes – und bald war das Dorf auch dem Rückblick entschwunden.
In ähnlicher Art gestaltete sich Ankunft und Abfahrt in allen Dörfern zwischen Tjumen und Omsk. Die meisten machten einen recht unangenehmen Eindruck auf uns. Überall zwei Reihen verwitterter Holzhäuser, kotige Straßen, nirgends Baumwuchs oder Rasenflächen. Man fühlt sich erleichtert, wenn man ein derartiges Dorf hinter sich hat und in die weite, lustige Steppe gelangt, wo süßer Duft die Luft erfüllt, wo froher Vogelsang unser Ohr erfreut und grüner Rasen unser Auge erquickt, wo wilde Rosen und Gänseblümchen blühen, wo Hyazinthen und Tigerlilien entgegenleuchten.
Zwischen den Dörfern Krutaja und Kalmakowa fuhren wir über eine Steppe, die voll war mit diesen duftigen Frühlingskindern; ich verließ den Wagen, um diese Fülle von Wohlgeruch zu genießen. Ringsum herrschte tiefe Stille, nur das Summen der Bienen, das Zirpen einiger Heimchen im Grase und der klagende Ruf des Steppenhuhnes, das ein Feldmäusenest umkreiste, war vernehmlich.
Den ganzen Freitag fuhren wir in dieser Weise fort. Zuweilen begegnete uns ein Reisender in kotbespritztem Wagen, oder wir fuhren an einer Abteilung Verbannter vorüber, die auf der morastigen Straße mühsam sich fortbewegten. Häufiger sahen wir Bauern in ihren Telegas in das Nachbardorf oder auf ihre Felder hinaus fahren.
Dieser Teil der Provinz Tobolsk ist reicher als man nach dem Aussehen seiner Dörfer urteilen könnte. Die von uns passierten vier Okrugs, (Distrikte): Tjumen, Jalutorfsk, Ischim, 62 Tjukalinsk, haben eine Bewohnerzahl von 650 000 Seelen und zählen 1 618 800 Hektare bebauten Bodens. Der Viehstand der Bauern beträgt 1 500 000 Stück; zwei Dritteil der 10 572 000 Hektoliter betragenden Getreideernte der Provinz geht von hier aus. Jedes Jahr werden in diesen vier Otrugs 220 Märkte abgehalten, die einen beträchtlichen Umsatz haben. Aus dieser kurzen Statistik, deren Daten ich an Ort und Stelle gesammelt habe, bekam ich die Überzeugung, diese Provinz könnte in kurzer Zeit eine der blühendsten des Reiches werden, würde sie rechtschaffen verwaltet und wäre von ihr der Fluch genommen, eine Strafkolonie sein zu müssen.
Freitag nachmittags hielten wir in Tsukalinsk eine kurze Rast und setzten dann mit vier »freien Pferden« unsere Fahrt fort auf der holperigen und schmutzigen Straße, die von Tjukalinsk nach Bekischewa, am Saum der großen Moorsteppe von Baraba, führt. Hier plagten uns große, graue Stechfliegen so sehr, daß wir genötigt waren, Gesicht und Hände zu verhüllen und das Ungeziefer beständig mit Baumzweigen abzuwehren. Das aber verschaffte uns wieder eine schlaflose Nacht – gottlob, die letzte dieser Art! Sonntag den 4. Juli gelangten wir endlich, über und über mit Kot bedeckt, nach Omsk.
Omsk zählt ungefähr 30 000 Einwohner und ist die Hauptstadt des »Oblast« (Territoriums) Akmolinsk, Sitz der Steppenprovinzregierung; die Mehrheit der Bewohner sind Staatsbeamte. An bemerkenswerten Gebäuden besitzt es: die Kadettenschule, das Haus des Gouverneurs, das Polizeiamt und die Citadelle. Die Straßen sind ungepflastert, die meisten Häuser aus Holz; natürlich fehlen auch zahlreiche Kirchen mit ihren bunten, schimmernden Kuppeln nicht. Müßte ich diese Stadt in aller Kürze schildern, so wäre es: Omsk ist eine Stadt mit 30 000 Bewohner, ihr größtes Gebäude ist die Kadettenschule, ihr schönstes das Polizeiamt, eine Stadt, die weder eine Zeitung, noch eine Bibliothek besitzt und wo die größere Hälfte der Bewohner die Uniform des Zaren trägt und es als ihre Aufgabe betrachtet, die andere Hälfte zu regieren. 63 Wie dieses beschaffen ist, wird durch einige Worte charakterisiert, die ein wackerer, intelligenter Bürger bei meinem Abschied an mich richtete: »Wenn Sie, Herr Kennan, es für nötig finden, in Ihren Schriften meinen Namen zu erwähnen, so sagen Sie ja nichts Gutes von mir.« – »Warum denn?« war meine erstaunte Frage. »Ihre Schriften,« antwortete er, »werden wahrscheinlich der Regierung nicht sehr lieb sein und wenn Sie mich da lobend erwähnen, so würde ich von der Beamtenschaft noch mehr als bisher gequält werden. Sie werden dieses Ersuchen recht sonderbar finden, aber ich erbitte es mir als einzige Gefälligkeit.« Diese Äußerung erfolgte erst später, bei unserer Rückkehr aus Ostsibirien, nachdem ich den Betreffenden einiges von unseren Beobachtungen und Erfahrungen mitgeteilt hatte.
Es gab in Omsk nur weniges, was uns interessierte: ein kleines Museum der geographischen Gesellschaft, das wir zufolge Vermittlung des Obersten Pevtsof besichtigen durften und eine Verbanntenkolonie vor der Stadt, wo die Sträflinge in elenden, halb unter der Erde liegenden Hütten wohnten. Ich fragte nach dem Gefängnis, in dem der berühmte russische Schriftsteller Dostojewski anderthalb Jahr lang gefangen saß und wo er zweimal geknutet wurde: es war schon vor langer Zeit abgebrochen worden. Es wundert mich nicht, daß die Regierung diese Mauern niederreißen ließ, die soviel menschliches Elend und Grausamkeit sahen, wie Dostojewski in seinen »Memoiren aus einem Totenhaus« ergreifend geschildert hat. Gerne hätten wir das jetzt bestehende Gefängnis besichtigt, aber es unterblieb, denn der Gouverneur, den wir besuchten und um die Erlaubnis baten, benahm sich uns gegenüber so unhöflich, daß wir ohne Platz genommen zu haben, die Excellenz gleich verließen.
Erholt von den Mühen der überstandenen Reise, verließen wir Mittwoch, den 8. Juli Omsk, um mit drei Postpferden und einem Kosakenkutscher nach Semipalatinsk zu fahren. Die 64 Straße führt entlang des rechten Ufers des Irtisch, durch einige Dörfer, ähnlich jenen, die wir bisher zu Gesicht bekamen, nur daß hier Kosaken wohnten, die von der Regierung genötigt wurden, sich anzusiedeln; dies erfolgt häufig in Grenzgegenden, wo es gilt, feindliche Einfälle oder auch Beutezüge einheimischer Räuber abzuwehren. Derart entstanden im vorigen Jahrhundert die Militärgrenzen am Terek gegen die kaukasischen Bergbewohner und die am Irtisch gegen die Kirgisen. Diese Stämme sind heute wohl schon gebändigt, doch die Kolonieen sind geblieben und die Kosaken wohnen, wo ihre Väter einst zur Ansiedlung gezwungen waren. Es sind schlaue Gesellen, die sich in alle Verhältnisse zu schicken wissen. Zwischen Omsk und Semipalatinks befinden sich 30 bis 40 dieser Kosakenkolonieen und eine gleiche Anzahl zwischen Semipalatinsk und dem Altaigebirge.
Nachdem wir eine kurze Strecke zurückgelegt hatten, zeigte die Steppe ein ganz anderes Aussehen. Keine üppige Blumenpracht wie früher; nur selten eine Rasenfläche, da die heißen Sonnenstrahlen alles versengten. Birkengehölz, das der Gegend nördlich von Omsk ein parkartiges Aussehen gab, wurde immer seltener, bebaute Felder fehlten gänzlich; die Steppe wurde immer mehr zur mittelasiatischen Wüste.
Einige Stationen von Tomsk entfernt hatten wir Gelegenheit, zum erstenmal ein »Aoul«, ein Kirgisen-Zeltlager zu besichtigen; sie durchzogen mit ihren Herden die Ebenen Westsibiriens, vom Kaspischen Meer bis zum Altaigebirge. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung der Steppenprovinzen gehört zu diesen Nomadenstämmen.
Der »Aoul« bestand aus drei oder vier »Kibitkas«, runden, grauen Filzzelten, die abseits der Straße eng beisammen aufgeschlagen waren. Kein Pfad führte zu diesem Lager und die kleinen, grauen Zelte dünkten mich so verlassen und fern von allen civilisierten menschlichen Interessen, wie gebrechliche Kähne auf der weiten Fläche des Weltmeeres.
Unser Erscheinen beunruhigte, vermutlich war ein Besuch 65 im Kirgisenlager sehr selten. Erschreckt flüchteten die dunkelbraunen, halbnackten Kinder in die Zelte, als sie unseren Tarantas näher kommen sahen. Die Frauen blickten heraus, betrachteten uns mit ungewissen Blicken und zogen sich dann eiligst in die Zelte zurück. Auch die Männer, die uns in einer geschlossenen Gruppe entgegenkamen, schienen über unsern Besuch sehr erstaunt und ein wenig erschrocken zu sein. Unser Kutscher jedoch beruhigte sie mit einigen kirgisischen Worten. Ein Greis mit rotgelber Mütze, vermutlich der Patriarch, lud uns zum Eintritt in sein Zelt ein. Es mochte gegen drei Meter Höhe und fünf Meter Durchmesser gehabt haben. Das Gestell bestand aus rauchgeschwärztem Holz, das sich oben kuppelartig rundete, und war mit dickem, grauem Filz überzogen. Die das Dach bildenden, ein wenig gebogenen Sparren gingen von dem in der Mitte der Kuppel angebrachten Holzring auf ein Holzgitter aus, das die kreisrunde Zeltwand bildete; den Eingang bildete eine Thüre, die in Angeln hing. Der erwähnte Ring in der Mitte der Kuppel umfaßte eine Öffnung, die als Schornstein und als Luftloch diente. Unterhalb dieser Öffnung, auf einem von flachen Steinen gebildeten Herd, qualmte ein Feuer, an dem einige Kochgefäße standen. Eine schmale Bettstelle aus rohem Holz, zwei oder drei blau angestrichene Holztruhen, ein niedriger Tisch, auf welchem schmutzige, hölzerne Eßgeräte und ein altertümlicher Metallkrug standen, an der Wand einige Gefäße aus Birkenrinde, Pferdegeschirr, eine Steinschloßflinte, ein buntbemalter Holzsattel, ein mit Silber verzierter Steigbügel und eine Satteltasche aus Teppichstoff – das bildete so ziemlich die ganze Zelteinrichtung.
Dem Kirgisen gilt als erstes Gebot der Gastfreundschaft, dem Besucher mit Kumys aufzuwarten. Nachdem wir uns neben dem Feuer auf einer Filzdecke niedergelassen, trat eine der Frauen an den Kumysbehälter, einen an der Zeltwand befestigten schmutzigen Beutel aus Pferdehaut, und rührte mit einem Stäbchen den Inhalt auf. Dann füllte sie ein 66 ebenfalls sehr unsauberes Holzgefäß mit diesem kirgisischen Nationalgetränk und bot es mir an. Es schmeckte besser als ich erwartet hatte, und war kein so unübler Erfrischungstrank, wäre er nur sauberer und kühler gewesen. Dem Alten zu gefallen trank ich das ganze Gefäß aus; doch hatte ich sicher das Maß unterschätzt, was man trinken muß, um einen kirgisischen Wirt zu befriedigen, denn kaum hatte ich das geleerte Gefäß niedergesetzt, als es aufs neue gefüllt wurde. Ich versicherte, daß ich nicht mehr zu trinken vermöge, und schlug vor, diesen Trunk für meinen Genossen Frost beiseite zu stellen, was den Alten verstimmte. Ihn wieder zu erheitern, holte ich meine Laute vom Wagen und sang das Lied: »Es ist ein Wirtshaus in der Stadt«. Mister Frost, der indessen eingetreten war und des Alten sechsjähriges Söhnchen abzuzeichnen begann, wollte sich dem Kumysgenuß mit der Bemerkung entziehen, daß er nicht zeichnen und trinken zugleich könne. Die Ausrede war gut, aber sie gelang nicht, denn kaum hatte er wieder begonnen, als die Mutter des Kindes, beängstigt von den Blicken, mit welchen der Künstler sein Modell betrachtete, auf das zerlumpte Kerlchen losstürzte, es mit Küssen bedeckte und dann eiligst mit ihm sich entfernte, als gelte es, ihn vor den bösen Blicken eines Zauberers zu schützen. Dieser Vorfall rief eine Verstimmung hervor, die auch mein Liedchen nicht verscheuchen konnte; wir verabschiedeten uns daher bald.
Welche Geschichten mögen es wohl sein, die jetzt in jener Kirgisensteppe im Schwange sind! Was man sich wohl erzählen mag von jenen zwei Gjaurs, die mit heuchlerischer Freundlichkeit in das Zelt eines Gläubigen sich einschlichen, der eine gottlose Lieder vortragend, der andere mit der schlechten Absicht, durch seinen bösen Blick die Kinder zu bannen und ihrer Seelen sich zu bemächtigen, indem er die Körper auf Papier abzeichnet!
Wir fuhren nun in südlicher Richtung, durch die unendlichen Steppen des Irtisch, vier Tage und vier Nächte. Zuweilen pflückten wir am Rande eines schilfumsäumten Weihers 67 weiße Wasserlilien, skizzierten ein einsames Kirgisengrab, tranken Kumys in den Filzzelten dieser gastfreundlichen Nomaden. Jetzt führte die Straße durch das flache Thal des Irtisch, zwischen Goldwundkraut und langem Steppengras, das, vom Winde bewegt, dem erregten Meere glich und wo die hellen Blüten der Spirstaude, dem Wogenschaume ähnlich war; dann wieder zog sich die Straße in eine höhere Steppe hinauf, wo jede Vegetation von der Sonnenglut vernichtet war, um plötzlich wieder in eine feuchte Tiefebene sich hinabzusenken, um einen Steppensee sich zu schlängeln, wo sich den entzückten Blicken Astern und Rosen, Gänseblümchen und Nelken, spanische Wicken und wunderschöne dunkelblaue Glockenblumen boten.
Freitag passierten wir die kleine Kosakenstadt Pawlodar. Die Hitze wurde ganz unerträglich, unser Thermometer zeigte Nachmittags ein Uhr 91 Grad Fahrenheit. Ohne Rock und Weste saßen wir unter dem Lederdach unseres Tarantas, fächelten uns, nach Luft schnappend, mit unsern Hüten Kühlung zu und kämpften mit den großen, grünäugigen Pferdefliegen. Und wie wir da über die weite, sonnenversengte Steppe blickten, schien es uns selbst kaum glaublich, daß wir jetzt in Sibirien wären.
Dicht am Irtisch lagen eine große Zahl Kosakendörfer; der Boden war hier feucht und fruchtbar und ließ daher die Vegetation üppig gedeihen. Diese günstige Lage ermöglichte es auch, daß diese Dörfer Baumpflanzungen und Gärten besaßen.
Es war uns sehr angenehm nach einer Fahrt von mehr als 30 Kilometer über die dürre Steppe in der Julihitze, in diesen kleinen Oasen zu rasten, wo im Schatten der Bäume ein schmaler Arm des Irtisch sacht dahinfloß, wo das frische Grün der Melonenranken einen hübschen Kontrast bildete zu dem Purpur der Mohnblüte, wo Frauen und Mädchen im Flusse ihre Wäsche wuschen und daneben halbnackte Kinder im kühlen Wasser plätscherten.
Den letzten Teil unseres Weges nach Semipalatinsk legten wir in der Nacht zurück. Wir fuhren da über öde, kahle Steppen, die im fahlen Zwielicht einer Wüste glichen.
68 Nach Mitternacht schlief ich ein und erwachte erst um die vierte Morgenstunde, just als wir im Dämmergrau an einem großen, mit Laternen erleuchteten Hause vorüberfuhren. Es war das »Tjuremini-Samosk«, das Kastell, das Gefängnis von Semipalatinsk. Bald kamen wir durch eine breite, öde Straße von Blockhäusern, deren Fensterläden geschlossen waren und deren steile Giebel hoch in das Dämmergrau ragten. Die Straße war mit Flugsand bedeckt, der den Hufschlag unserer Pferde dämpfte und in dem unser Wagen geräuschlos dahinglitt wie eine Gondel in Venedigs Lagunen.
Die Fahrt durch diese einsame Straße der Stadt, die wie ausgestorben vor uns lag, hatte etwas Feierliches, Geheimnisvolles an sich. Nur von der Ferne her scholl im gedämpften Tone die Klapper des Nachtwächters. Vor einem zweistöckigen, getünchten Hause hielt unser Kutscher und bemerkte, das wäre »Hotel Sibir«. Nachdem wir eine gute Weile an der Vorderthüre klopften, öffnete endlich ein schlaftrunkener Kellner und führte uns in eine heiße Stube des zweiten Stockwerkes, wo wir den unterbrochenen Schlaf auf dem Fußboden fortsetzten.
Semipalatinsk liegt am rechten Ufer des Irtisch, etwa 760 Kilometer von Omsk und 1450 Kilometer von Tjumen entfernt; es hat ca. 15 000 Einwohner, Russen, Kirgisen und Tartaren, und ist der Sitz der Provinzialregierung. Als Handelsstadt ist sie von Bedeutung, zumal eine der bedeutendsten Karawanenstraßen von Taschkend und Mittelasien hier vorüberführt, so daß sie den Handel der Kirgisensteppe beherrscht. Der größte Teil der Provinz besteht aus Weideland; von ihren 547 000 Bewohnern sind 497 000 Nomaden, die in 111 000 Filzzelten leben und die 3 Millionen Stück Vieh, darunter 30 000 Kameele, besitzen. Von der Stadt gehen jährlich 40 bis 50 Karawanen nach der Mongolei und Mittelasien mit russischen Waren im Werte von 200 bis 250 000 Rubel. »Des Teufels Streusandbüchse« nennen diese Stadt die hierher kommandierten russischen Offiziere und diese Bezeichnung ist auch recht passend. 69 Das düstere Aussehen der Stadt kommt von dem Mangel an Gras und Blumen und auch von den verwitterten Holzhäusern und den mit Flugsand gefüllten Straßen, den der Wind oft vier bis fünf Fuß hoch an die Häuser weht. Ich glaubte in einer mohamedanischen Wüstenansiedlung zu sein, eine Meinung, die noch genährt ward durch die tartarischen Moscheen mit ihren braunen Minarets, den Mullas in weißen Turbanen und langen Bärten, den zweihöckerigen Kameelen, die von den dunkelbraunen Kirgisen geritten werden.
Montag, in den Frühstunden, besuchte ich den Gouverneur General Tseklinski und überreichte meine Empfehlungen. Es freute mich, daß er, wie es ganz zweifellos schien, von der Regierung bezüglich unser keine Nachrichten und Vorschriften erhalten hatte. Er begrüßte mich höflich, erlaubte mir das Gefängnis zu besichtigen, versprach den Polizeileiter zu senden, in dessen Begleitung wir dann alle Merkwürdigkeiten besichtigen könnten und versprach mir auch ein offenes Empfehlungsschreiben an alle Beamten der Provinz.
Vom Hause des Gouverneurs begab ich mich auf seine Empfehlung hin in die Bibliothek, ein einfaches Blockhaus mitten in der Stadt. Hier fand ich ein kleines anthropologisches Museum, ein bequemes Lesezimmer mit vielen russischen Zeitungen, eine gut gewählte Bibliothek, in der ich staunend Werke von Spencer, Buckle, Lewes, Stuart Mill, Taine, Lubbock, Taylor, Huxley, Darwin, Lyell, Tyndall, Alfred Russel, Wallace und noch vielen anderen erblickte, dabei auch Romane und Erzählungen von Scott, Dickens, Marryat, George Eliot u. s. w. Die Bibliothek war trefflich ausgewählt, besonders die wissenschaftliche Abteilung, und bekundete den Geschmack und das Wissen dessen, der hier gewaltet. Freilich, die meisten jener wissenschaftlichen Werke waren »gereinigte« russische Ausgaben. Fast jedes Kapitel von Lockys »Geschichte des Rationalismus« war von der Censur entstellt worden. Aber selbst in dieser Form und im fernen Sibirien fürchtete sich die feige Regierung vor diesem Buche, so daß es nur mit Erlaubnis 70 des Zaren oder des Ministers ausgefolgt werden durfte. Die meisten anderen wissenschaftlichen Werke standen auch unter besonderer Aufsicht, trotzdem alles ausgemärzt wurde, was »gefährlich« oder »entsittlichend« wirken konnte.
Von der Bibliothek aus schlenderte ich längs des Ufers des Irtisch, der Fähre zu, die Semipalatinsk mit einer jenseitigen Kirgisensiedelei verbindet. Die Fähre hält an einer bewaldeten Insel, zu der man über einen Steg gelangt, oder, indem man das schmale Wasser durchwatet.
Vor mir dahin zogen einige Kirgisen mit drei oder vier Kameelen, davon war eines an eine Telega gespannt. Am Wasser angelangt, spannten sie das Tier aus, legten ihm den leeren Wagen auf den Rücken, die Räder nach oben, und ließen es hinüber waten. Ist ein baktrisches Kameel mit seinen zwei wackelnden Hökern an und für sich schon ein recht komisches Tier, so zeigt es sich noch viel drolliger, wenn es mit einem vierrädrigen Wägelchen auf dem Rücken das Wasser durchschreitet.
Das jenseitige Ufer des Irtisch ist der Saum einer großen Wüstensteppe, die sich weit nach Süden erstreckt. Als ich dort anlangte, wurde just eine Kameelkarawane entladen, die von Taschkend gekommen war und Seidenwaren, Teppiche und noch manche andere Waren Mittelasiens zu Markt nach Semipalatinsk gebracht hatte.
Es war schon in später Nachmittagsstunde, als ich im Hotel wieder anlangte. Hier fand ich Mister Frost, der sich den ganzen Tag im Tatarenstadtteil herumgetrieben hatte, um Skizzen aufzunehmen. Der Abend war schwül; wir saßen bis zur elften Stunde ohne Rock und Weste an den offenen Fenstern und lauschten den fremdartigen Tönen, die vom Stadtteil der Tataren zu uns herüberdrangen. Es war die letzte Nacht des mohammedanischen Ramazans (Fastenzeit, in der Essen und Lustbarkeiten nur nachts gestattet sind) und alle Mohammedaner waren bis nach Mitternacht in lebhafter Bewegung. Durch die Stille der Nacht vernahmen wir öfter 71 auch das Klappern der Nachtwächter und die gedehnten klagenden Rufe der Muezzins, die von den Höhen der Minarets zum Gebete riefen.
Dienstag morgens fanden wir die Straßen mit festlich gekleideten Kirgisen und Tataren belebt; es war der erste der drei Feiertage, die der Fastenzeit folgen. Um die neunte Stunde besuchte uns der Polizeileiter, um auf Weisung des Gouverneurs hin uns bei dem Rundgang durch die Stadt als Führer zu dienen. Wir besichtigten nun die große Moschee der Tataren und besuchten einige Mullas und tatarische Beamte.
Unser Begleiter fragte, ob wir Lust hätten, einem Ringkampfe zwischen Tataren und Kirgisen beizuwohnen, was wir freudig bejahten. Eine Droschke führte uns nun nach einem außerhalb der Stadt gelegenen freien Platz, wo bereits eine große Menge versammelt war. Die Zuschauer, fast nur Kirgisen und Tataren, bildeten einen Kreis von ungefähr 10 Meter Durchmesser. Innen hockten einige Reihen Männer, hinter diesen standen etliche und wieder hinter diesen waren einige zu Pferde, die also gewissermaßen das Galeriepublikum darstellten. Der Polizeileiter führte uns durch die Menge und wir ließen uns in der vordersten Reihe im Sande nieder, den heißen Sonnenstrahlen ausgesetzt und in eine Staubwolke gehüllt, welche die Kämpfer aufwirbelten. Die Anwesenden teilten sich in zwei feindliche Parteien, die getrennt voneinander saßen und standen; wir befanden uns auf Seite der Kirgisen, uns gegenüber waren die Tataren. Jede Partei hatte zwei Kampfordner, die in grüne »Khalats« gekleidet waren und einen Rohrstock trugen. Die zwei von der tatarischen Seite wählten nun aus ihren Reihen einen Kämpfer und forderten dann die Gegner auf, ihren Mann zu stellen, was auch geschah.
Ein junger, hübscher Kirgise, der eine blaue Mütze und einen roten Gürtel trug, stand einem stämmigen Tataren mit gelber Mütze und grünem Gürtel gegenüber. Eine Weile betrachteten sie prüfend einander, dann erfolgte der Angriff, 72 wobei jeder seinen Gegner an dem Gürtel faßte und mit der andern Hand dessen Handgelenk, Arm oder Schulter zu erfassen strebte; ihre Köpfe waren fest aneinandergepreßt, ihre Körper bildeten in der Beuge beinahe einen rechten Winkel, ihre Füße waren zurückgezogen, damit der Gegner kein Bein zu stellen vermöchte. Derart suchte jeder die Blöße des andern zu erspähen, um ihn dann zum Fall zu bringen. Eine Zeitlang gelang es keinem, einen Vorteil zu gewinnen. Ihre Stirnadern schwollen an, von ihren dunkelbraunen Gesichtern troff der Schweiß. Endlich aber wich der Tatar zurück, den Kirgisen mit Gewalt nach sich ziehend, und als dieser dadurch den festen Halt verlor, versetzte ihm jener einen Stoß mit dem Fuß, der ihn zwar nicht zum Fall brachte, aber doch taumeln ließ. Rasch befreite sich nun der Tatar von seinem Gegner, umklammerte dessen Körper unter der Hüfte und warf ihn dann jauchzend über seinen Kopf hinweg zu Boden. Der arme Kirgise fiel mit solcher Gewalt hin, daß er aus Mund und Nase blutete; aber er vermochte doch ohne Beihilfe sich aufzurichten und schwankend zu seinen Genossen zurückzukehren, begleitet von dem lauten Jubel der Gegner.
Die Erregung war im Steigen, neue Kämpfer traten auf. Obgleich die Hitze, der Staub, die Ausdünstung der dichten und nicht sehr reinlichen Menge fast unerträglich war, blieben wir noch eine Zeitlang bei diesem interessanten Kampfspiel. Zur Aufrechthaltung der Ordnung waren zwei Polizisten anwesend, was ganz überflüssig war, denn es verlief alles in bester Ordnung. Die Besiegten waren nicht erbittert, sie belachten sogar öfter ihr Mißgeschick. Die Kirgisen unterlagen in den meisten Fällen; die Tataren waren vielleicht nicht stärker, aber doch flinker, als ihre nomadischen Gegner und siegten bei drei Ringkämpfen in der Regel zweimal. Als wir um die fünfte Stunde den Schauplatz verließen, währte das Kampfspiel noch fort. 73