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Die Störung im Himmelreich

Italien, wo die Lodbrogsöhne landeten, hatte Leute ihres Bluts schon früher gesehen; das Füllhorn Skandinavien hatte eine Woge nach der anderen von Erulen, Goten, Langobarden nach Süden entleert.

Ein ganzes Jahrtausend vor den Lodbrogsöhnen hatten die Zimbern hier ihre Gebeine niedergelegt und zwar so buchstäblich und in solchem Umfang, daß die Bauern später ihre Weingärten mit den Knochen der gefallenen Männer eingefriedigt hatten. Damit aber war just der Traum der Nordländer erfüllt worden, Weinlaub um die Stirn, und wie hübsch schlang sich die Weinranke um den leeren Brustkasten und krönte die Hirnschale der Männer aus dem Norden, die ihr Geschick vollbracht hatten.

Von denen, die vorangegangen waren, aber wußte die neue Woge nichts; die Vorfahren, die ins Weite reisten, hatten keine Überlieferungen hinterlassen, sie waren nur verschwunden. Die Lodbrogsöhne waren demselben Ruf wie die sturmvollen Alten gefolgt, aber ganz und gar in eigener genialer Unwissenheit.

Das erste, was sie von Italien sahen, waren herrliche Berge, mit vielen Farben und Adern, von weißen Flächen durchschossen, die wie Gletscher aussahen, sich aber als Marmor erwiesen. Ein lehmiger Fluß hatte seine Mündung zwischen niedrigen Dünen mit grünblauen Wacholdergebüschen und Pinienwäldern, er färbte das Meer eine ganze Meile im Umkreis und zeigte den Wikingen den Weg; dort wo er herkam, mußte die Erde fruchtbar und fett sein, das war klar. Sie drangen also durch den Fluß ins Land ein, und hier lag gleich ihr Schicksal und wartete auf sie in Gestalt einer kleinen witzigen Verwechslung. Sie glaubten nämlich, daß der Fluß der Tiber wäre, und darum konnte die erste große Stadt, zu der sie kamen, ja keine andere als die Weltstadt Rom sein! Hu Hei, die einzunehmen war doch mal eine Aufgabe!

Und ein Umweg war es auch nicht für sie, denn wie das Gerücht erzählte, sollte Rom ja gerade der Eingang zum Himmelreich sein; der Lehnsmann des weißen Christus, wie man den Papst nannte, sollte ja sogar den Schlüssel dazu aufbewahren. Den wollte man ihm natürlich mit Gewalt entreißen, Rom mußte genommen werden!

Die Stadt, zu der sie kamen, hieß Luna, ein damals großer und schöner Ort, fast ganz aus Marmor von dem nahegelegenen Karrara erbaut. Es war entschuldbar, daß die Wikinge ihn für Rom hielten, denn er bot sich den Augen der Nordländer mit einer Pracht dar, wie sie sie noch nie erlebt hatten; es war die erste klassische Stadt, die sie sahen.

 

Die ganze Stadt war wie eine befestigte Burg, von hohen Mauern mit soliden Türmen umgeben, dahinter aber ragten Prachtbauten in die Höhe, mit Giebeln und Säulen, die wie frischgefallener Schnee leuchteten. Die Wikinge konnten Götterbildnisse drinnen unterscheiden, so lebendig anzusehen, als seien es Menschen, die in ewiger Glückseligkeit versteinert wären.

Einige von ihnen schienen weibliche Gottheiten zu sein, sie hatten die himmlische Breite in der Mitte und hoben sich in weißer unsterblicher Nacktheit von dem italienischen Himmel ab, der so blau war, daß er einem festen Stoff glich, einer Edelsteinwölbung, und die Nordländer fühlten sich von der Ähnlichkeit mit den niedlichen Frauenbildern in dem Buch betroffen, die sie aus dem nebligen England fortgewinkt hatten; wenn es die himmlischen Jungfrauen auch nicht selbst waren, so konnte ihr Reich doch nicht mehr fern sein.

Die Stadt selbst ragte im Sonnenschein über die Mauerzinnen wie ein weißer, wunderbarer Felsen, der von Menschenhänden und mit Kunst in tausend feine Einzelheiten ausgehauen war, wie ein gewaltiges, üppiges Schmuckstück an der blauen Brust des Himmels.

Und das Wunderwerk hatte Stimme, es sprach mit vielen tönenden, ernsten und schönen Zungen, das waren die Kirchenglocken. Hin und wieder brach die Stadt in ein schönes Einzelgespräch aus, sang und tönte mit vielen Glocken auf einmal, so eigenartig reich und einsam, daß es weithin wogte und klang. Jeden Morgen begrüßte die Stadt die Sonne mit ihren Glockenzungen, und jeden Abend läutete sie und redete schwermütig und schön, während die Sonne unterging, bis die letzten klingenden Wellen mit der Dämmerung hinstarben.

Schon als die Wikinge den Fluß hinauffuhren, noch bevor sie die Stadt sehen konnten, hatten sie die singenden Glocken gehört, und da glaubten sie, daß die Landschaft sprechen könne und sie mit einem freundlichen Lied willkommen hieße. Es klang, als ob irgendwo in der Nähe Harfen versteckt seien, und die Männer hielten Umschau am Flußufer, ob vielleicht eine Flußjungfrau im Schilf säße und zauberte.

Aber nein, bald zeigte es sich, daß der Gesang aus der schönen Stadt käme. Der Glockenklang vermengte sich mit dem Sonnenschein und der schönen Erde, überall blühte es, der Pinienhain mit den flachen, dunkelgrünen Kronen war voll von würzigem Harzduft, und im Verein mit all dieser Wärme und Süße erzitterte die Luft von Glockenklang, als sei es die Sommerstimme der Ewigkeit, die sich aus eitel Freude an den wolkenlosen, sonnigen Tag wandte.

Alle möglichen Gefühle begannen sich in den fruchtbaren Schifferseelen zu rühren; es lachte seltsam in ihrer Brust, als ob ein Gefangener dort drinnen sich seiner Befreiung nah fühlte, es lief ihnen kalt über die Kopfhaut, sie lauschten, lauschten … sollte dies das Land der Jugend sein, waren sie am Ziel?

König Haastein zweifelte nicht. Die Stadt war offenbar Rom. Endlich waren sie angelangt. Mochten andere weiterreisen, ans Ende der Welt, wenn ihnen danach gelüstete, dies war die Verwirklichung seiner Träume, hier wollte er seinem Schicksal begegnen. Mit der biegsamen Natur, die ihm eigen war, brachte er sofort alle Sagen vom Himmelreich mit diesem Ort in Übereinstimmung. All die vagen Kenntnisse, die man hatte, waren natürlich ursprünglich von Rom ausgegangen, das war sonnenklar. Hier war alles, was sie suchten. Jetzt galt es nur, in die Stadt hineinzukommen!

Der Plan, die Stadt durch Überrumplung zu nehmen, fiel zu Boden, die Tore waren gut verschlossen und die Festungswerke so solide, daß der Gedanke, die Stadt unverzüglich zu stürmen, als unvernünftig aufgegeben werden mußte.

Da geschieht es, daß ein Plan fix und fertig König Haasteins fruchtbarem Kopf entspringt und sofort zur Ausführung gelangt.

 

Das Folgende ist so bekannt, daß man sich nur an die historische Überlieferung zu halten braucht, mit besonderer Berücksichtigung des hochgelehrten Dudo, dessen Chronik ein gutes Jahrhundert nach den Ereignissen aufgezeichnet wurde, aber noch einen lebendigen Einblick in die vollblütige Natur der Nordländer, besonders Haasteins, gewährt.

Von Dudo bekommt Haastein (allgemein Hasting genannt, klassisch Hastingius oder Alstignus) folgendes Zeugnis für Betragen, in vornehmen, lateinischen Hexametern abgefaßt:

Heidnisch und gierig, auch beispiellos hart und grausam,
Schädlich und Schrecken einjagend, furchtbar und schändlich,
Wahrlich ich sage euch schamlos und rastlos, gesetzlos,
Mörderisch, roh, auch schlau und kriegerisch, wo er sich zeiget,
Führer der Bosheit, Verräter und lügnerisch, heuchelnd,
Gottlos und selbstfroh, verschlagen, ein Wagehals, treulos,
Galgenfrucht, Spötter, unbändig, noch schlimmer als streitbar,
Höhe der Bosheit und Schuld und der Arglist Beförderer.

Dudo schildert, wie der Seekönig in seiner Schlechtigkeit Boten zum Oberbefehlshaber der Burg und zum Bischof schickt, den er für den Papst hält, und sagen läßt, daß sie Seefahrer seien, die widrige Winde gehabt und sich deshalb gezwungen sähen, hier an Land zu gehen. Sie bitten nur so lange mit der Stadt Frieden schließen zu dürfen, bis sie Lebensmittel eingekauft hätten. Ihr Führer, berichten sie weiter, sei krank, von Schmerzen gepeinigt und verlange nach der Taufe, wolle gern Christ werden.

Den Obrigkeitspersonen in Luna gefiel dieses wohl. Der Friede wurde geschlossen und ein Handel zwischen Bürgern und Wikingen begann, natürlich ohne daß diese Zutritt zur Stadt bekamen. Die Einwohner betrachteten die Ereignisse im Licht ihrer Anschauung, die für eine katholische Stadt im Mittelalter allgemein war; es waren friedliche, nicht besonders begabte Leute, recht habgierig, wenn die Umstände ihnen gefahrlos erschienen, wie aus der Chronik hervorgeht, sonst aber unschädlich und recht gutmütig.

Haastein wurde wirklich getauft. Wie es in dem empörten Dudo heißt: Der Bischof in Luna macht das Bad bereit, weiht das Wasser und läßt die Kerzen anzünden. Der betrügerische Haastein steigt ins Bad und nimmt seelenroh die Taufe entgegen, sich selbst zum ewigen Verderben ( suscipit nefarius baptismum, ad animae suae interitum). Darauf wird er vom Bischof und dem Oberhaupt der Stadt mit Ehren aus dem Bade geleitet und in einem vorgegebenen Schwächezustand ( quasi infirmus) zu seinem Schiff getragen.

Welche Vorstellungen Haastein auch vom Christentum haben mochte, Wasserschreck kannte er jedenfalls nicht. Mancher Heide, der im allgemeinen nichts gegen den Glauben haben mochte, würde beim Gedanken an Wasser auf seiner bloßen Haut erbleicht sein. Wasser aber war gerade Haasteins Element. Der derbe Spaß hat sicher bei den Freunden auf der Flotte viel Beifall gefunden.

Im übrigen wird Haastein seine Handlungsweise weder als sonderlich treulos noch bindend empfunden haben. Er und alle Nordländer sahen den Glauben als eine viel praktischere Sache an als die symbolischen Handlungen, die sich daran knüpften. Der Glaube, abgesehen von der Taufe, bedeutete für die Nordländer in Wirklichkeit nicht weniger, als daß sie in ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis treten, das Dasein von ganz neuen und ihnen noch unbekannten Mächten als Lehn entgegennehmen sollten. An dem weißen Christus zweifelten sie keineswegs, er war nach allem zu urteilen ein mächtiger Häuptling; die Asen hatten sie aus eigenem Antrieb verlassen, weil sie zu alt geworden waren und kein Lebenszeichen mehr von sich gaben; das wäre kein Hindernis gewesen. Mangel an Einsicht in die Dinge war es auch nicht, jedenfalls wußte Haastein, der mit bei der Einnahme von Paris gewesen war, gut Bescheid über das Wesen des Christentums. Nein, es war etwas anderes, was sie vom Christentum zurückhielt, da war etwas, was der Zehnte, Steuer für die neue Gottheit hieß, eine handgreifliche Frage, Politik, die nicht durch Wasser oder Glauben entschieden werden konnte. Außerdem wollten die Christen den Nordländern verbieten, Pferdefleisch zu essen, die heilige Speise ihrer Vorfahren! Dafür versprachen sie ihnen allerdings Anteil am Lamm, schön, dagegen hatten sie nichts, aber Pferdefleisch ließen sie sich trotzdem durch keine irdische oder übernatürliche Macht nehmen. Jeder nach seinem Geschmack, die Menschen waren ja verschieden, aber die Vorliebe des Nordländers für Pferdefleisch stand nun einmal fest. Sonst hatten sie nichts gegen die Taufe, an Sommertagen; aber auch im Winter schauderten sie nicht davor zurück.

So oder ähnlich mag Haastein gedacht haben, als er auf dem Taufstein stand und der Mann Gottes mit dem rasierten Scheitel ihn lehrte, seine kleinen Hände zusammenzulegen wie ein Sklave, der selbst um die Fesseln bittet. Daß dieser Vorgang eine Verpflichtung enthielt, ist ihm nicht eingefallen. Etwas ganz anderes wäre es gewesen, hätte man durch das Bad Unsterblichkeit erlangt, wie in dem Fluß im Lande der Jugend, das wäre sowohl den Zehnten wie den Glauben wert gewesen, und über das Pferdefleisch würde sich wohl reden lassen; diese Eigenschaft aber hatte die Taufe nicht, sie mußte als sinnbildliche Handlung aufgefaßt werden, denn die Christen zeigten nach dem Bade keine geringere Sterblichkeit als vorher.

Jetzt, berichtet Dudo weiter, heckte Haastein mit seinen Genossen den Plan aus, daß sie bereits am folgenden Tage dem Bischof und Fürsten von Luna melden wollten, Haastein sei seinen Leiden erlegen und man erbitte für ihn ein Begräbnis in der Stadt in geweihter Erde. Dafür wolle man ihnen all seine Waffen und Kostbarkeiten überlassen. Von diesen heuchlerischen Worten hinters Licht geführt und von den Gaben verlockt, versprachen die Obrigkeiten von Luna dem Toten ein christliches Begräbnis.

Haastein ließ sich darauf in einen Sarg legen, der von den Lodbrogsöhnen getragen wurde, während die auserwähltesten Krieger als Gefolge hinterdreingingen. Die prächtigen Waffen, Ringe und Schmucksachen des toten Normannenhäuptlings bekamen einen auffälligen Platz vor der Bahre, und während die Mannschaft, die in den Lagern und auf den Schiffen zurückgeblieben war, ein lärmendes Weinen und Trauergeheul anstimmte ( Clamor ululantium, tumultusque lugentium) zog das Gefolge ungehindert in die Stadt ein.

Hier war alles zum feierlichen Begräbnis hergerichtet, die Kirchenglocken läuteten ohne Aufhören, als ob die ganze Stadt, die Häuser und Mauern in kummervolles Geheul ausbrächen, der Himmel weinte, die Luft seufzte, fast wurden die Nordländer von dieser dröhnenden und tönenden Atmosphäre überwältigt.

Viele von ihnen sahen hier zum erstenmal das Innere einer Stadt und legten trotz ihrer Leichenbittermiene großes Erstaunen an den Tag. So etwas hatten sie noch nie gesehen, die Häuser waren massenweise zu ganzen mächtigen Straßen zusammengebaut, man wohnte offenbar in Schichten übereinander, und die Straße, auf der man ging, war mit behaunen Steinen gepflastert, soweit der Blick reichte. Überall sprangen reicher Hausrat und Schätze jeder Art ins Auge, da waren die herrlichsten Läden, wo Stoffe und kostbare Dinge geradezu vor den Häusern hingen.

Und jetzt schloß die ganze Geistlichkeit sich dem Zuge an, in Purpurmänteln und goldenen Festgewändern, desgleichen die vornehmsten Ältesten der Stadt, gar nicht zu reden von Neugierigen und Teilnehmenden in großen Scharen, dazwischen die allerschönsten Frauen, auf die man später zurückkommen wollte. Chorknaben in weißen Hemden mit einem Kreuz auf dem Rücken gingen mit brennenden Wachskerzen voran, und so erreichte der Zug die Kirche, wo der Häuptling begraben werden sollte.

Dort begann der Bischof feierlich die Messe für den Toten zu halten.

Dabei ereignete es sich, daß die leichtsinnigen Wikinge drauf und dran waren, Beute einer ganz sinnlosen Gemütsbewegung zu werden, die eigentlich nichts mit der Sache zu tun hatte, und sie mußten ihr Äußerstes aufbieten, um sie zu beherrschen, sie wurden stark vom Gottesdienst ergriffen.

Alles war neu für sie, der schwellende Chorgesang, der aus klaren Knabenkehlen kam, und die Orgel, deren übermächtige Zauberei sie fast auf die Knie zwang, die farbigen Kirchenfenster, der Weihrauch, der Kirchenraum mit seinen Gewölben und Säulen, die heiligen Bilder, alles packte sie mit solcher Macht, daß die großen, starken Männer abwechselnd blaß und rot wurden. Die Orgel, was war es für ein Element über ihren Köpfen, das wie der Sturm sang? War es das Meer und die Winde aus allen vier Himmelsrichtungen, die hier zusammengekommen waren, um zu brausen, zu klagen, zu hohen, wilden Orkanen anzuschwellen und wieder in Windstille auszutönen? Die Haare standen ihnen zu Berge, es rann ihnen eiskalt über den Rücken, ihre Augen weiteten sich in panischer Hellseherei, was war das? Nacht und Sterne redeten? Die sehnsuchtsvollen, verklärten Stimmen der Toten? Sie fuhren zusammen – der Untergang der Welt, das jüngste Gericht?

Und der Weihrauch, der in kleinen stoßweisen Wolken aus durchbrochenen Metallgefäßen kam, die an Ketten von den Geistlichen hin- und hergeschwungen wurden, was war das? Der Wald, das süße Harz, wenn die Sonne drauf brannte, Blumen und Bienen, das tiefste Geheimnis des Sommertags, die Sonne selbst, Duft aus dem Garten des Paradieses? Ihre Nasenflügel blähten sich, was war das?

Was wars, was durch Musik und Weihrauch und die regenbogenfarbigen Fenster gaukelte – ferne Reiche, das äußerste Meer, die Ufer der Unsterblichkeit? War es das Ferne, das unfaßbar nah gerückt war, das Himmelreich, – waren sie endlich angelangt, standen sie hier am Ziel?

Eine tiefe Erregung bemächtigte sich der meerrauhen, abgehärteten Männer. Einige standen steif und starr mit bleichen Wangen da, Beute eines peinlich unterdrückten Gefühls, andere wurden kalt, behielten aber einen offenen, furchtlosen Blick; was es auch bedeutete, Leben oder Tod, bereit sollte man sie finden! Einige standen mit bebenden Lippen da, und andere sahen sich in einer Art Wahnsinn um, als suchten sie einen Haltepunkt im Raum für den Sturm von Vorstellungen, der ihnen durch die Seele brauste.

Man kann nicht wissen, wozu die Gaukelei die in mancher Beziehung wenig abgehärteten Krieger verwandelt haben würde, wenn die ganze Versammlung, bei der der Betrug wohl so ziemlich auf beiden Seiten gleich war, nicht plötzlich in eine neue Phase gekentert wäre.

Auf einmal scheint es, als ob der Sarg, in dem der Normannenhäuptling schlummert, sich auf seinem Katafalk bewegt, ein erstickter Klang von klirrendem Stahl ertönt daraus, wie das Geräusch einer großen Wespe, und als die Orgel gerade schweigt und nur die betende Stimme des Bischofs zu hören ist, fliegt der Sargdeckel auf, und heraus springt Haastein, Haastein springlebendig und verschwitzt, mit einem langen, funkelnden Normannenschwert in der Hand; und in weniger als einer Sekunde steht er auf der Erde, der Kriegsschrei gellt ihm aus der Kehle, und bevor jemand sich von seiner Lähmung erholt hat, spaltet er dem Bischof den Kopf, während dieser noch das Buch in der Hand hält ( librum manu tenentem) und tötet darauf den Obersten der Stadt, und jetzt bricht das ganze Leichengefolge in Kriegsgeheul aus, die Masken fallen, die Kirchentüren werden verschlossen und blutig springt der heidnische entsetzliche Kriegsgott auf den Altar.

Darauf stürmen die Wikinge durch die Straßen und öffnen den Mannschaften von den Schiffen, die sich draußen drängen, die Tore, sie füllen die Straßen und der Kampf wird allgemein. Jeder, der sich mit der Waffe in der Hand zur Wehr setzt, wird niedergemacht und der Rest der Einwohner als Gefangene zu den Schiffen geschleppt, so berichtet Dudo.

Einen Schurkenstreich kann man den Sturm auf Luna indes nicht nennen, denn die waffenfähige Besatzung war den Normannen bei weitem an Stärke überlegen und hatte vollkommen Gelegenheit zur Selbstverteidigung. Was den Normannen aber an Zahl fehlte, ersetzten sie durch ihre unerhörte Schnelligkeit im Angriff und durch das jede Besinnung raubende Entsetzen, mit dem sie sich zu umgeben verstanden.

Auf Anhöhen rings um die Stadt herum und tief ins Land hinein hatten sie Hornbläser aufgestellt, die ununterbrochen auf ihren Plätzen tuteten und sich langsam in alle Himmelsrichtungen drehten, wodurch der Eindruck hervorgerufen wurde, als ob sich endlose Heermassen aus der Erde wälzten; die Hörner hatten bald einen unterirdisch dröhnenden, bald himmelhoch kreischenden, angstvollen und blutigen Klang, der die Elenden, die angegriffen wurden, wie die Posaunen des jüngsten Gerichts warnte, während er die Kriegerseelen der Nordländer, die gewohnt waren, beim Sturmsignal der Hörner zu siegen oder zu sterben, bis zum Äußersten anfeuerte.

Die Schlacht stieg den Normannen wie ein übermenschlicher, wilder Rausch zu Kopf, wobei sie sich leichter fühlten als die Luft und im Besitz der feinsten und mörderischsten Eigenschaften der Tiere: der Stärke des Bären, der Zähigkeit des Wolfs, dem funkelnden Blick und plötzlichen tödlichen Niederstoß des Adlers, der Schnelligkeit des Ebers; und alle Tierstimmen klangen wie ein losgelassener Chor durch das Kriegsgeschrei, mit dem die Normannen über die todgeweihte Stadt hersausten, ein entsetzliches Heulen, Brüllen, Kreischen, das schon an sich genügte, Leute vor Schreck um den Verstand zu bringen; die Normannen blieben beim Vorrücken nicht zusammen, so daß man hätte sehen können, wie viele sie waren, sondern verbreiteten sich heulend wie eine Wolfsherde, jeder Krieger war an zehn Stellen auf einmal und doch nicht zu fassen, kaum zu sehen, und die breiten Wikingerschwerter, die langschaftigen, schlanken Beile taten ihre blitzschnelle, allgegenwärtige Arbeit, die Verteidiger der Stadt meinten Hunderte zu sehen, wo nur ein Dutzend Krieger in der Verzückung des reißenden Spiels herumwirbelte, Zauberei mußte mit im Spiel sein, der Kampf war zugunsten der Normannen entschieden, bevor er noch recht begonnen hatte.

Denn sie gingen wie Liebhaber in die Schlacht, unsterblich durch die Todesverachtung, die sie beseelte, Herren auf dem Walplatz, weil das Leben sie noch nicht zu zweifeln gelehrt hatte.

Als aber der Widerstand gebrochen war, begann der Wahnwitz des Plünderns und Zerstörens. Die Muspelsöhne machten sich ans Brandstiften, die anderen verstanden sich freilich auch auf diese Kunst, die Muspelsöhne aber waren die geborenen Handlanger des Feuers, sie liebten das Feuer, und jetzt sollte es leben! Lange genug hatte es sich kümmerlich auf den trägen Herdstellen der Stadt genährt, jetzt sollte es ins Freie hinaus. Hui! Heiß und geschwind, als seien sie die leibhaftigen, roten Feuergeister, rasten Muspels Söhne durch die Stadt, auf Gluten blasend, sie trugen das Feuer, das sie unterwegs nährten, von der einen Brandstätte zur anderen, sie verschafften den Emmern Luftzug, indem sie sie im Schnellauf weiterbrachten, sie sprangen selbst wie gierige Flammen von Haus zu Haus. Und bald brennt die Stadt an hundert Stellen, Klöster und Prachtbauten gehen in Flammen auf, Kirchen brennen, man hört, wie die Glocken einen letzten erstickten Erzton von sich geben, bevor sie mit Türmen und Zacken in Trümmer zusammenfallen.

Das Feuer, der uralte und ewigjunge Erneuerer, wächst rasend, ganze Welten von Rauch und Finsternis wälzen sich aus den Häusern, als ob sich das Dunkel der Jahrhunderte dort angesammelt hätte und jetzt vom Feuer vertrieben würde, es kämpft mit dem schwarzen Qualm, ist drauf und dran zu unterliegen, nur ein blutroter Schlund ist noch in der kohlschwarzen Umarmung des Rauchs zu unterscheiden, das Feuer aber ringt sich von neuem los, reckt lange, leckende Arme aus den Häusern, schlägt mit einem geisterhaft grimmigen Laut nach dem zurückweichenden Rauch, und jetzt hat es die Oberhand gewonnen, das Innere der Gebäude steht in Weißglühhitze, schrecklich erleuchtet, bald ist die Stadt ein einziges Feuermeer, klarer als der klare Tag, das Feuer sitzt wie eine himmelstrebende Flamme auf der Stadt, alles brennt, die Kirchengewölbe donnern zu einem Schutthaufen zusammen – hier wird hell gemacht! Reiner Tisch hier! Von vorn anfangen!

Und nachdem das Feuer endlich alles hell gemacht hatte und wieder davongegangen war, sitzen die sauren Überreste des Rauchs, der Erinnerung und Ohnmacht qualmend auf der schwarzen Brandstätte beisammen.

 

Gloriabatur Alstignus cum suis, ratus se cepisse Romam, caput mundi, so sagt Dudo – Haastein glaubte, daß er Rom, den Mittelpunkt der Welt, eingenommen habe, und prahlte damit, ebenso wie seine Freunde. Als er aber den Irrtum erfuhr, wurde er so wütend, sagt Dudo, daß er die ganze Landschaft um Luna herum total verwüstete und die Einwohner in Gefangenschaft schleppte. Kein Wunder, daß die Normannen hart von der Enttäuschung betroffen wurden, denn sie verloren mehr als Rom, eine ganze Welt ging für sie unter.

Vergebens versuchten sie in der Hitze des Untergangs ihre Träume zu retten. Ach, die Töchter des Himmelreichs – bis zum letzten Augenblick stürzten sie suchend umher, während das Feuer aus den brennenden Häusern auf sie herabregnete, in eitler Hoffnung natürlich; dagegen stießen sie in einigen Klöstern auf ganze Nester von Nonnen, auch eine Art himmlischer Jungfrauen freilich, aber ohne Federn, nur Brustknochen und Gänsefleisch, gerupfte Engel, nichts weiter!

Überhaupt die südländischen Frauen! Entweder waren es große erdgebundene Truthennen, die engbrüstig glucksten, bis sie einen blauen Kopf bekamen, das einzige Lebenszeichen, das sie von sich gaben, oder seltsam zarte Dinger, blaß und schlank wie Kerzen, die auch wirklich verlöschten, wenn man sie nur anblies! Und hier hing man die unsterbliche Nacktheit in Marmor als Schild aus … zum Teufel!

Glücklicherweise gab es andere Wertsachen, mit denen man sich trösten konnte. Die Beute war unermeßlich. Aber auch hierbei entgingen die guten Leute zu Luna dem Undank nicht. Nicht aller Hausrat war tadellos. Zum Beispiel zeigte es sich, daß die Räuchergefäße, die man doch für echt, jedenfalls für vergoldet gehalten hatte, nur aus Messing waren!

 

Als die Normannen nach vollbrachter Tat abgezogen waren und der Trümmerhaufen der eingeäscherten Stadt durchsucht wurde, grub man auch nach den Resten des Bischofs, der bei Ausübung seines Amtes als Märtyrer gefallen war. Er war nämlich unverzüglich vom Papst heilig gesprochen worden, und deshalb war es von Wichtigkeit, der Christenheit eine Reliquie von ihm zu sichern.

Ein verkohlter Schenkel wurde an der Stelle, wo er den Märtyrertod erlitten hatte, gefunden und bei einer feierlichen Messe als heilig geweiht. Ein kostbarer Reliquienschrein wurde dafür angefertigt in Form eines Herzens, das von einem Schwert durchstochen und mit den teuren Karfunkeln des Glaubens geschmückt war. Jahrhundertelang wurde dieses Heiligtum von frommen Gläubigen geehrt und angebetet. Später kam es durch einen päpstlichen Akt in die Domkirche von Turin, da Luna nicht wieder aufgebaut wurde, und hier verrichtete es in weiteren Jahrhunderten sogar Wunder: Kranke mit Beinschäden verschiedenster Art wallfahrteten aus ganz Italien, ja, aus fremden Ländern dorthin und konnten, sobald sie den Reliquienschrein mit dem heiligen Knochen berührt und dem Heiligen ein Opfer gebracht hatten, ihre Krücken an den Nagel hängen.

Durch Zufall war es aber gar nicht der Knochen des Bischofs; obwohl es nicht in der Legende steht, soll hier mitgeteilt werden, daß er eigentlich einem Normannen namens Gauk gehörte, einem Schiffshauptmann, der seinen Tod bei dem Handgemenge in der Kirche fand, als Alstignus die Geistlichkeit in Luna so schändlich hinters Licht führte.

So kamen die Überreste des nordischen Wikings zu Ehren und Würden, auf daß die Unsterblichkeitsträume der Normannen nicht ganz zu Schanden werden sollten.


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