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Auf Seeland

Die seeländischen Jungen standen in hellem Aufruhr. Sie waren zu zahlreich und immer hungrig. Außerhalb der bewohnten Orte trieben sich ganze gesetzlose Schwärme von jungen Leuten herum, die ihre Heimat verlassen hatten und wie Wilde im Walde lebten, wo sie nachts oben in den Bäumen schliefen, oder sie trieben sich auf dem Wasser herum in roh behauenen Baumstämmen, die sie nach Art entschwundener Zeiten mit Feuer ausgehöhlt hatten. Die Alten, die natürlich in erdfesten Häusern wohnten und in ordentlichen, klinkgebauten Booten fuhren, schüttelten die Köpfe über ihre Nachkommen, die, statt Fortschritte zu machen, zum Urzustand zurückzukehren schienen.

Der Sommer war die große Zeit der Jungen und die sorgenvolle der Alten in bezug auf ihre Nachkommenschaft; monatelang hörten sie nichts von ihnen, außer wenn dumme Streiche und Unglücksfälle lautbar wurden. Im Winter trat eine Art Waffenstillstand ein, dann kamen die Jungen nach Hause geschlichen, um einige Zoll gewachsen und mit einem düsteren, verschlossenen Wesen. Solange noch etwas in den Vorratskammern war und eine Ecke in der Asche für die Nacht, waren die Alten zu gebrauchen. Jeden Frühling aber brach der Krieg von neuem aus.

In einer Harde auf Seeland plünderten die Jungen eines Frühjahrs ihren eigenen väterlichen Boden und belagerten die Dörfer, eine Keckheit, die, wenn auch grob, doch zum Lachen gewesen wäre, wenn sie sich nicht einer Todsünde schuldig gemacht hätten, nämlich der Gewalttätigkeit gegen die Götter, wodurch sie den Alten unersetzlichen Schaden zufügten und sich selbst zu Ausgestoßenen machten.

Die Harde lag an der Ostküste am Öresund, wo die Gegend in der Vorzeit weniger gerodet und bebaut war als die Landschaft um den Isefjord herum. Der Wald war hier so zusammengewachsen und dicht, daß die Wildnis eine natürliche, unbestimmbare Grenze gegen andere bewohnte Landstriche landeinwärts bildete. In den Ausläufern des Waldes, die sich ganz bis zum Strand hinunterzogen, waren Lichtungen mit Dörfern und großen Gehöften, deren Bewohner Vieh im Walde hielten und etwas Ackerbau trieben. Längs der Küste lagen Fischerdörfer, deren Bevölkerung Heringe im Sund fischte und Handel damit trieb. Die Strandbewohner standen in lebhaftem Verkehr mit der Umwelt, mit den Schonen auf der anderen Seite des Sundes und mit Fremden von noch weiter her, es war ein altes, seefahrendes Volk, das schneller mit neuen Dingen in Berührung kam als die seßhafteren Leute im Binnenlande.

In dem Tal, das vom Sund längs des jetzigen Möllebaches bis zu den Lyngby- und Fureseen geht, lagen viele alte Gehöfte, und hier, ein Stück den Bach hinauf, hatte die Harde ihr Thing, hier lag der heilige Hain der Götter, Weiha, und hier wohnte der Großbauer, der Erste der Harde, der die Opferfeste leitete. Die Einwohnerschaft hier war uralt. Die Bauern hielten unentwegt an dem Götterkultus und den heiligen Handlungen fest, die seit undenkbaren Zeiten von den Vorfahren überliefert waren. Es bestand ein sehr einfacher und unantastbarer Pakt zwischen den Göttern und den alten, unabhängigen Geschlechtern; die Götter gaben Wetter und Wachstum, und die Bauern, die durch deren Wohlwollen die Erde besaßen, zeigten sich durch entsprechende Opfergaben an Vieh und Früchten erkenntlich, bei besonderen Gelegenheiten auch durch einen oder mehrere Menschen. Bei den Göttern war Pferdefleisch sehr beliebt, und das war gut, denn die Bauern schätzten es sehr, und da die Götter sich mit einem Gericht vom Blut zu begnügen pflegten, fiel den Bauern der Rest zu. Selbstverständlich aber durften nur die, die zu den vornehmen Geschlechtern gehörten, Pferdefleisch essen.

 

Große Ereignisse, zum Beispiel was Könige unternahmen, waren noch nicht in die Gegend gekommen. Man lebte das Leben der Bauern und forderte das Meer in aller Bescheidenheit heraus. Aber man folgte den Geschehnissen in der Welt, und landete ein Handelsmann mit seinem Schiff an der Küste, dann strömte alles herbei, weniger um zu handeln, als um frische Neuigkeiten von draußen, wo sich etwas ereignete, zu hören. Während der langen, öden Winterabende, wenn die Leute um das knackende Feuer saßen, die Frauen mit ihrer Arbeit, während ein Horn mit Bier oder Met zwischen den Männern die Runde machte, die an einem Lanzenschaft schabten oder ein Netz flickten, dann war der Erzähler, der herrliche Mann mit der Gabe des Gedächtnisses, der Mittelpunkt der Versammlung, besonders wenn es ein Wandersmann war, mit neuen Künsten und dem etwas fremden Klang in der Aussprache, der wie süße Zauberei in das Ohr des Eingeborenen klingt. Dann kreisten Sagengeschichten und die eigenartig starken Weisen, die einen Mann ganz wild machen konnten, von Königen und Helden und fernen Reichen, von Rolf Krake, Sigurd Faavnesbane, bis das Feuer die ganze Stube zu füllen und aus der Glut blendende Erscheinungen in den Rauch unter der Decke zu springen schienen.

Äußerst im Kreise der Lauschenden, wo der Feuerschein eben noch die wilden Züge beleuchtete, brüteten dann die Knaben. Sie hingen an den Lippen des Erzählers, so daß ihr Gesicht, ihnen selbst unbewußt, in Bewegung war und wie ein Spiegel alles wiedergab, was sie hörten, sie wagten kaum mit den Augen zu blinzeln, aus Angst, daß ihnen etwas entgehen könne. Die Welt des Feuers war über ihnen, sie schauderten, daß es ihnen förmlich aus den Haaren knisterte. Die Windstöße im Rauchloch über ihren Köpfen waren wie das Prusten des Wunderpferdes, von dem sie gerade hörten, das durch die Luft galoppierte.

Es war zu Regner Lodbrogs Zeiten. Und wenn der Erzähler zu ihm kam, dann veränderten die Jungen ihre Stellung, seufzten tief auf und hingen wie versteinert an dem, was sie jetzt zu hören bekommen sollten. Der Feuerschein lag in ihren starren Augen, die Nasenflügel blähten sich, und im Verein mit dem Duft aus dem Methorn, der wie ein Mitsommertag voller Blumen und Bienen war, und dem Geruch des brennenden Holzes, das wie der Wald selbst war, wenn die Sonne Harz aus den grünen Bäumen schwitzt, im Verein mit Feuer, Wald und Sommer, der, wenn auch fern, doch in ihrer Nase war, tranken sie die Erzählungen vom König, dem unvergleichlichen Seefahrer und Helden.

Auch die Alten hörten mit Vorliebe von König Regner, alle Erzählungen von ihm waren Wirklichkeit, noch dazu aus ihrer eigenen Zeit und aus Kreisen, die man kannte, obgleich der Glanz des Abenteuerlichen darüber schwebte. Man wußte nicht, was spannender war, die Berühmtheit und die glänzenden Kriegertaten des Königs in fremden Landen, feine persönlichen, seltenen Fertigkeiten, oder seine vielen berühmten Liebeshändel. Allein auf Seeland sollte er ebenso viele Kinder haben wie Nächte im Jahr! Den jungen Burschen gefiel es gar sehr, von König Regners Weiberliebe zu hören, wenn sie mit den Mädchen am Feuer Nüsse knackten, und fand man zwei Kerne in derselben Nuß, dann hieß es sogleich: wollen wir beide ein Paar sein? Der Bierkrug kreiste schneller, die Männer wurden durstig und die Mädchen saßen mit niedergeschlagenen Augen da und bekamen eine Menge gesponnen, wenn von den unzähligen Mädchen die Rede war, die Regner Lodbrog betört hatte.

Die meisten Erwachsenen hatten den König einmal gesehen, als er vor einigen Jahren in der Harde zu Gast gewesen, und das war ein Erlebnis, das man nie vergaß. Selbst in den unterirdischen Hütten der Sklaven sprach man mit hellerer Stimme von König Regner, und es war, als ob ein Schimmer auf den schmutzigen Gesichtern zurückgeblieben war, nachdem man sich in seiner Schönheit gebadet hatte.

 

Auf die Knaben aber wirkte Regner Lodbrogs Ruhm mehr als eine bloße Sage, er steckte an, ging ihnen ins Blut. Sie wollten auch Helden sein. Sie wollten nichts anderes sein und versäumten keine Gelegenheit, um zu lernen, was nach ihrer Meinung dazu gehörte.

Es galt, sich abzuhärten. Sie versuchten sich gegenseitig die Augenbrauen mit ihren Holzschwertern abzuhauen und gingen aus dieser Mannesprobe mit gebrochenen Nasen hervor, ohne eine Miene zu verziehen. Die einzige Sünde war Furcht, und das war eigentlich ein Unglück, das selten bei den Jungen vorkam; alles mochte ihnen zustoßen, nur nicht die blasse Gemütsstimmung, in der man zu handeln unterläßt, die kannten sie nicht. Durch halsbrecherische Wagestücke, denen nur die Tauglichen gewachsen waren, wurden sie eine auserwählte Schar. Sie hatten ein Spiel, bei dem es galt, von Baum zu Baum durch den Wald zu entern, ohne jemals den Boden zu berühren; glückte es einem nicht, dann war er abgetan und konnte in sein Dorf zurückkehren wie der Ausgestoßenste zwischen Ausgestoßenen.

Je größer sie wurden, desto lebensgefährlicher wurden die Mannesproben, schließlich wurde das Spiel schrecklicher, als wenn es Ernst gewesen wäre. Eines Sommers erhängten die Jungen sich frischweg, um zu zeigen, daß sie es wagten, und um »das Sterben zu lernen«, es wurde zu einer reinen Epidemie, bei der man sich ohne viel Zureden aufknüpfte. Eine ganze Anzahl kam um bei dieser wahnsinnigen Übung, auf die nur Knaben verfallen konnten; die, die dabei umkamen, hatten ja keinen Nutzen von der harten Schule, die sie durchmachten, aber soweit reichten ihre Gedanken nicht, wenn sie sich den Strick um den Hals legten. Für die überlebenden aber wurde das Spiel von sehr gefährlicher Bedeutung, es übte sie in der sorglosen Verachtung von Menschenleben. Ihre Zahl hatte nie eine Rolle gespielt, im Gegenteil, sie war eine Schuld, man hatte ihnen immer vorgehalten, daß sie zu zahlreich seien. Und sterben – ja, das hatten sie jetzt gelernt. Erst kam das Blut, und dann wurde man kalt und konnte keine Luft mehr bekommen. Einige lachten merkwürdig und erschauerten, als ob sie gekitzelt würden, andere zuckten nur etwas mit den Beinen, das war gar nicht schwer.

Im übrigen hatten die Knaben keine Vorstellung vom Tode als von einem plötzlichen Abschluß des Lebens; die Kameraden, die umkamen, verschwanden ja nicht im selben Augenblick, sie existierten noch eine Zeitlang als Leichen, selbst wenn sie eine unheimliche Veränderung durchmachten. Ja, wenn nur noch die Knochen übrig waren, so blieb er doch noch immer »unser Freund«, und hatte man ihn besonders gern gehabt, dann bekam sein Schädel einen Platz im Kreise und wurde mitgeschleppt, wenn die Horde etwas vorhatte, woran man dem toten Bruder einen Anteil gönnte.

Daß die alten, seßhaften Heiden auf ihren Höfen das Zeichen des Hammers machten, wenn sie ein seltenes Mal Einblick in das Treiben der Waldjungen bekamen, wird man begreiflich finden. Das sorglose Umgehen mit Menschenleben gefiel ihnen nicht.

Zu den kriegerischen Übungen der Knaben kam der Hunger, und der war ein häufiger Gast in der Gegend, ob nun die Ernte fehlgeschlagen war oder man Pech mit dem Vieh gehabt hatte. Sie waren hungrig, auch ohne Hungersnot, und aßen, was sie sahen.

Auf diese Weise hatte die Schar sich zu einer Gefahr für die ganze Harde entwickelt. Viele von ihnen waren nicht mal mehr Kinder, sondern lang aufgeschossene Burschen, die nicht die geringste Lust zeigten, sich den Erwachsenen in den Wohnstätten anzuschließen; reine Riesen waren darunter, mit Ochsenkräften und Seelen wie Lerchen, träge, lebenslustig und auf du und du mit dem Tode.

 

Es waren übrigens nicht nur Knaben in der Horde, sondern auch Mädchen, abgehärtete Wesen, die Gnade vor den Augen der Knaben gefunden und die Prüfungen mit ihnen ausgehalten hatten. Sie gediehen im Walde, wuchsen erstaunlich schnell aus dem Kinderröckchen heraus, in dem sie von Hause fortgetrippelt waren, sie wuchsen wie Haferhalme im Freien, schließlich saß ihnen der Rock nur noch wie der Rest eines Wickeltuches um den Leib, aus dem sie nach beiden Seiten mit langen, wettergebräunten und behaarten Gliedern herausgeschossen waren. In einem einzigen Sommer erblühten sie zu Frauen, ihr Gang wurde zögernd, und sie bekamen rätselvolle, insichgekehrte Augen.

Jetzt wurde alles anders. Die Mädchen, die man früher nur unter der Voraussetzung geduldet hatte, daß es keinen Unterschied gab, wurden mit Fleiß über jede Gleichheit emporgehoben. Sie, die früher den Nachtrab gebildet hatten und umherirren mußten, um die Knaben aufzufinden, wenn sie an ihren Spielen teilnehmen wollten, brauchten jetzt nur in aller Gemütsruhe irgendwo zu sitzen, um Gesellschaft zu bekommen und deren Mittelpunkt zu werden, die Knaben fanden sie, wo es auch war, tauchten zu Dutzenden auf und schmeichelten sich durch Tapferkeit und Geschenke ein; Bienenkuchen, Vogeleier und andere schöne Dinge häuften sich im Schoß der Mädchen, und die edlen Knaben zeigten, in einem plötzlichen Durchbruch, neue und blendende Farben in ihrem Wesen. Sie hatten so feine Stimmen, daß man Vogelgesang zu hören glaubte – es sei denn, daß der Nachbar ihnen zu heftig warb, dann brachen sie in ein nichts weniger als nachtigallenartiges Gebrüll aus, das eine sofortige wirbelnde Balgerei zur Folge hatte. Die frischentfaltete Jungfrau aber saß zufrieden und würdig im Grase, die Beine unter sich, verzehrte ihren Honig und sah zu. Es kam vor, daß einer der Kämpfenden mit gebrochenem Rückgrat auf der Walstatt liegen blieb, während die Gesellschaft nach einem anderen Platz im Walde zog, wo es dem Mädchen behagt hatte, sich niederzulassen und den Kunststücken eines ganzen Knabenschwarms zuzuschauen, die ihretwegen ausgeführt wurden. Man stürzte sich von Bäumen herab und tauchte bis auf den Grund des Meeres. Man hielt langsame, unmenschliche Qualen aus, um sich vor ihren Mädchenaugen mit den schönsten Tätowierungen zu zeigen, und kratzte sie wieder mit Sand aus, wenn sie nicht zu gefallen schienen. Der Gegenstand all dieser Auszeichnung aber ging in stiller Gemütsruhe einher und wuchs als Frau, sie begriff im Grunde ihren Wert nicht, erfaßte aber ihre Bedeutung, da alle Welt sich bis zur Todesverachtung um ihre Gunst stritt; ihr Schicksal reifte wie von selbst, während sie zusah. Einer der großen Jungen ging schließlich so lange und ausdauernd mit Geschenken, Schlägereien, Todesverachtung und anderem voran, daß die übrigen sich dem Mädchen nicht mehr zu nähern wagten. Dann gehörten die beiden zusammen.

Damit soll nicht gesagt sein, daß alle Mädchen Schönheiten waren; bei den meisten war das Geschlecht alles, was sie besaßen. Aber anderseits war auch keine ganz ohne Liebreiz. Eine hatte prachtvolles Haar, eine andere schöne Zähne, eine dritte die hübschesten Beine und weiter nichts, und andere wiederum entbehrten aller dieser Vorzüge, hatten dafür aber ein liebes Augenpaar, in dem alle Glückseligkeit der Erde verborgen lag. Wie dem auch sei, in dem Sommer, wo sie anfingen so schwer zu werden, als seien ihre Herzen Schalen, die überzufließen drohten, war immer einer da, der just für den einen schönen Zug, den sie ihr eigen nannten, leben und sterben wollte. Und gab es eine, die gar keine Gaben von der Natur bekommen hatte, keinen Mund, kein Haar, nicht mal ein paar ansehnliche Beine, nur Unschönheiten, armselige Augen und Sommersprossen bis an die Zähne, alle traurigen Reize der Kletten und Brennnesseln, ja, dann fand sich doch einer, der mit ihr gehen wollte, wenn sie ihren Sommer bekam, einer, der sie Schande halber prügelte, nur um ihr nah zu sein, der aber heimlich mit ganzer Seele von der heißen Dankbarkeit dieser armen Kreatur abhing.

 

Aber zuweilen einmal kommt es auch vor, daß ein Mädchen alle, alle Gaben der Schönheit in ihrer Person vereinigt. An ihr hat die Natur, die dem, der hat, alles gibt, alle Vorzüge an Körper und Geist verschwendet, ein Anlauf zum reinen Menschen, der sonst nur in den Träumen der Menschen vorkommt.

Ein solches Mädchen wuchs in der Horde auf. Sie nannten sie Gevn. Sie hatte schönes Haar und einen lieblichen Mund, Zähne wie Quellwasser und ein Gesicht wie wilde Rosen, sie hatte lange, runde Glieder, so fehlerfrei und frisch wie junge Weidenschößlinge, die während eines einzigen Sommers in einem Stück in die Höhe gewachsen sind; alle Glückseligkeit der Erde lag in ihren traurigen Augen und sie bewegte sich, als sei ihr Herz eine Schale, bis zum Rande mit den Wundern des Lebens gefüllt. Keine war so gut, so still und so froh wie sie. Während das Verhältnis zwischen den Knaben und den anderen Mädchen, selbst den frommsten, eine gewisse unterdrückte Stimmung von Raub bewahrte, wo alles erlaubt war, was sonst unter den Geschlechtsgenossen unter sich nicht als anständig galt, Überrumplung, jede Art von Treulosigkeit, fühlten alle, daß Gevn über diese Umgangsformen erhaben sei, sie war so unfaßbar ehrlich und freimütig, daß keiner das Herz hatte, treulos gegen sie zu sein. Es war keine Spur von Krieg in ihrem Wesen, aber sie war stark wie eine junge Kuh, und wollte jemand sie gegen ihren Willen mit sich ziehen, dann wurde sie störrisch, lachte zuerst unaufhörlich, schlug aber schließlich so hart mit ihren runden Händen, daß man sich schämen mußte, und ließ man sie dann noch immer nicht los, dann wurde sie böse, bekam plötzlich heiße Augen und brüllte häßlich, und dann konnte keine menschliche Macht sie mehr halten. Man konnte mit ihr nicht wie mit einem Mann kämpfen, der natürlich mehr Kräfte hatte, aber ermüdete, und entweder siegte oder den Kampf aufgab. Sie aber gab den Kampf nicht auf und wurde auch nicht müde, die zähen Glieder blieben immer gleich zäh, und je härter man sie anfaßte, desto steifer wurde sie. Je länger der Widerstand dauerte, desto mehr geriet sie in Harnisch; wenn aber der Kampf zu Ende war, dann lächelte sie gleich wieder und trug keinen Groll, sie konnte nichts dafür, es war, als habe sie eine zweite Natur, die sich gegen harte Behandlung auflehnte. Mit Gewalt konnte man bei Gevn nichts erreichen.

Wie aber war sie dann zu gewinnen? Nur wenige wagten überhaupt die Augen zu ihr zu erheben, die meisten wurden durch die Stärke des Gefühls, das sie in ihnen erweckte, gelähmt. Ihre Schönheit beschützte sie wie eine unsichtbare, unübersteigbare Grenze. Die Luft um sie herum war mit der Süße ihrer jungen Fruchtbarkeit geladen, sie duftete wie Rasen im Sonnenschein, wenn es geregnet hat, eine zarte Wärme ging von ihrer Haut aus, eine Wärme, die ihre eigenste war, zugleich aber die nährendste der Welt; jeder, der ihr so nah kam, daß er sie spürte, wurde ganz still, konnte sich bei dem Reichtum, der dadurch in seine Seele einzog, nicht rühren.

In dem Sommer, als Gevn sich als Weib entfaltete, wurden die großen Jungen Männer. Ihre gewohnten, blendenden Werbekünste waren hier nicht am Platz, nur die Schlechtesten, die keinen Sinn für Gevns Wesen hatten, setzten das Leben ihretwegen für eitle Kraftproben ein. Nein, es gehörte mehr dazu, eine ganz neue Form von Leben, Auszeichnungen, von denen noch keiner geträumt hatte. Natürlich gab es zuerst einen Kampf zwischen den Größten und Mutigsten, um überhaupt Zutritt zu ihrer Gesellschaft zu bekommen, und das war ein Kampf ohne Gnade oder Rücksicht, bis er entschieden war; Gevn bekam nur die Stärksten zu Gesicht. Zwischen denen wurde wieder ein Daseinskampf ausgefochten, bei dem alle zartesten Kräfte der Seele entfaltet wurden. Sie war das Ziel, das den Willen bis zum äußersten abhärtete. Alle erstrebten sie, jeder auf seine Art und mit allen Kräften, nie war eine solche Spannung in der Horde gewesen; immer weniger konnten sich auf der Höhe halten und schließlich waren nur noch zwei übrig, die noch nie besiegt worden waren. Zwischen ihnen wurde der letzte entscheidende Kampf ausgefochten, ein großes Ereignis im Stamm, das damit endete, daß der eine sich für überwunden erklärte. Sieger wurde ein Junge, der ebenso wie Gevn alle die Eigenschaften in sich vereinigte, die sonst unter den vielen verteilt waren; er blieb allein übrig. Germund hieß er.

So wurden Gevn und er ein Paar.

Nach dem Kampf wurde Germund der erklärte Anführer der Schar. Und er verstand es, der allgemeinen Gesetzlosigkeit Richtung zu geben. Unter seiner Führung begannen die Knaben im Walde sich zu einem Volk im Volk zu sammeln. Das Kinderdasein war zu Ende, etwas Neues mußte geschehen.

 

Von Germund ist im übrigen zu berichten, daß er von einem der Gehöfte in der Harde stammte, seine Eltern aber vergessen hatte. So weit er zurückdenken konnte, hatte er im Freien gelebt, hatte alle Grade in der Knabenschar durchgemacht, sich jeder Art von Tod ausgesetzt und sie überlebt. Er war der Rücksichtsloseste unter all seinen Altersgenossen und hatte den schnellsten Kopf. Seinem einzig dastehenden Glück war es zu verdanken, daß er überhaupt noch am Leben war, alle Gefahren der Kindheit hatte er hinter sich, nicht ein einziges Mal war er zurückgescheut, wenn es etwas zu wagen gab. Das Glück folgte ihm, und wie es schien, ihm allein, mit einer wunderbaren Ausdauer. Erhängte er sich, so brach der Ast, und hielt der Ast, dann riß der Strick; der Tod wollte ihn nicht durch Erhängen haben. Fiel er von dem Gipfel eines Baumes herab, so erschlug er einen Feind, der unten stand und sich über seinen Fall freute, und kam selbst unbeschädigt davon. Lief er einem Bären geradeswegs in den Rachen, hoffnungslos verloren, dann zeigte es sich, daß es ein uraltes, zahnloses Tier war, das vergeblich auf ihm kaute, ihn nur zwischen den knorpeligen Gaumen klemmte, bis Germund sich totlachte über diese verfluchte Kitzelei. Auch der Bär sollte sein Tod nicht werden. Der Sund wollte ihn nicht haben, er hatte Schiffbruch erlitten und war anscheinend manch liebes Mal ertrunken, das Meer aber hatte ihn immer wieder herausgegeben. Fallgruben im Walde, wo andere sich aufspießten, wilde Tiere, Hängemoore, Kreuzotternbisse, Fehlschüsse, das erste Wintereis, das jedes Jahr sein Opfer forderte, alles hatte er probiert und war glücklich davongekommen, erfahren wie kein zweiter, mit mancher Narbe, aber unerschüttert, immer gleich dummdreist und lebendig und bereit, alles noch einmal durchzumachen und noch mehr dazu.

Was Germund vor anderen voraus hatte, war seine unglaubliche Schnelligkeit. Es war, als ob er sich unsichtbar machen könne; wenn er jemanden angriff, konnte man ihn kaum sehen, so blitzschnell war er in seinen Bewegungen. Wenn er um sich haute, war es wie ein blendender Nebel, in dem nicht ein, sondern hundert Blitze aufeinander blitzten. Er zeigte nicht erst die geballten Fäuste, prophezeite seinem Gegner nicht lange Tod und Unglück, sondern wandte ihm schon nach vollbrachter Tat den Rücken, bevor jemand wußte, daß er überhaupt angefangen hatte. Etwas überlegen? Er hatte überlegt, war bereits fertig! Die Entschlossenheit lag in ihm wie ein stets bereiter Blitzschlag; diese angeborene Schnelligkeit ließ ihn zu jeder Tagesstunde den Tod herausfordern, war aber gleichzeitig die Ursache seines Glücks. Man versuchte ihm diese Schnelligkeit abzulernen, war so geschwind, daß man zu früh kam, und wieder war es Germund, der triumphierte! Er wurde von allen bewundert und sehr gefürchtet.

 

Es stand eine Eiche im Walde, ein gewaltiger Baum mit weitverzweigten Ästen, von jeher der Versammlungsort der Horde, die hier bei Tage Rat zu halten und nachts im Baum zu schlafen pflegte. Er hatte so viele bequeme Winkel, verstand einen Ast so gut zu runden, daß man das schönste Nest darin finden konnte. Darin war ein Gezwitscher von Vögeln und wilden Kindern, die mit der Sonne erwachten, der ganze Baum erzitterte bis in die äußersten Zweige, als ob er sich vor Lachen über das versteckte Leben, das sich in seiner Krone rührte, schüttelte. Nachdem aber Germund alle aus dem Felde geschlagen hatte, wohnten Gevn und er dort allein.

Eines Tages kam Germund zu der Erkenntnis, wie teuer der Baum ihm sei, er sah plötzlich die große Eiche vom Gipfel bis zur Wurzel wie ein seltsam schönes Wesen, für das er noch nie Sinn gehabt hatte, es fiel ihm auf, daß es solch innig guten Baum nicht noch einmal gäbe, er lebte ja auch auf seine Art und war von derselben schönen Luft umgeben wie Gevn.

Der Baum stand in einer Lichtung auf einer Anhöhe, von wo man weit über den Sund und bis nach Schweden sehen konnte. Wie oft hatte Germund nicht von einem der höchsten Äste einen schaukelnden und lustigen Blick über die weite Welt genossen und irgendein geheimnisvolles Schiff verfolgt, das mit allen Rudern gegen den Strom im Sund anstrebte.

Er kannte die rundkuppeligen Waldlinien, die die Lichtung einschlossen und sich mit schattigen Toren öffneten, wo verzweigte Buchen sich wie Säulen abhoben und sich hin und wieder ein Hirsch mit langsam wiegendem Geweih zeigte; er kannte das alles wohl, hatte nie etwas anderes gekannt, und doch berührte es ihn jetzt wie etwas ganz Neues. Ein Weih über seinem Kopf, der Sund, der dort draußen mit blauen Wogen schritt und in dem Nebel verging, der Schonen verhüllte, das Wildschwein, das sich im Grase trollte, das alles war zu einer Welt, nicht mehr um ihn, sondern in seinem Herzen geworden.

Gevn war es, die in alle lebenden und leblosen Dinge übergegangen war, er fühlte, ohne es zu verstehen, daß sie Wald, Himmel und Sund sei, die Erde hatte ihre Freundlichkeit, selbst in Blumen und Gräsern war eine sanfte Seele, die ihre Güte von ihr empfangen hatte.


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