Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Löwenzahn, die Blume der Kinder, ist das verbreitetste Unkraut in Nordeuropa. An einem der ersten warmen Vormittage, Anfang Mai, springt er aus, massenweise und auf einmal, steht leuchtend gelb da und richtet sein ganzes rundes, durstiges Gesicht verlangend auf die Sonne, eine Familie neben der anderen, soweit man sehen kann, als ob ein Goldschatz über die Felder ausgestreut sei. Später, wenn der Wald ausgesprungen ist und die hellen Nächte und langen sonnigen Tage kommen, schießt der Löwenzahn in Saat, jene luftigen Daunenbälle, die wie kleine Sphären im Gras stehen, flüchtige Symbole des Augenblicks und der Vergänglichkeit, bis sie im Winde zerstieben und die Flocken sich auf Reisen ins Blaue begeben.
Für alle die sich daran erfreuen, findet dieses jährlich wiederkehrende Blumenfest statt, das die nordische Natur selbst heilig hält, zur Erinnerung an unsere Vorfahren, die fruchtbare Kindheit des Menschentums.
Zur Tauwetterzeit in Schweden und Norwegen, wenn die Sonne wie neugeborenes Feuer über den weißen Wolken zu funkeln beginnt und ihr Spiegelbild wie tausend gebrochene Sonnen mit der schmelzenden Nässe vermischt, die von den Brauen der Berge herabstürzt, wenn der Schnee mit der Sonne Wasser zeugt und das Wasser Licht gebiert, dann schwillt das Herz der Alten in der Natur. Dann sind sie uns nah, die starken Schwärmer, die seit Jahrtausenden tot sind, aber unsterbliche Sagen hinterlassen haben von ihren Wanderungen, von ihrem Lawinengemüt, das sie zu ganzen Völkerschaften über die Landesgrenzen trieb, eine Generation nach der andern. Die älteste Geschichte unserer Vorfahren, die Völkerwanderung, die Wikingerzeit, ist geheimnisvoll mit dem Frühling und unseren eigenen frühesten Kindheitserinnerungen verwebt, den ersten Blumen, dem ersten blendenden Ausbruch der Frühjahrssonne, womit die Welt ihren Anfang nimmt.
Die Kraft der nordischen Natur, das gewaltige Spiel der Jahreszeiten mit dem Leben, schuf die Instinkte der Alten. Ihr ganzes Dasein sammelte sich ums Frühjahr, alle Wechselfälle des Jahres strebten darauf zu. Die Sonnenwende war der Keim zu ihrer ersten Anbetung, aus Dankbarkeit ging sie hervor. Der Winter hielt die Menschen gefangen und härtete sie ab, der Frühling, der große Befreier, der nie versagte, löste alle Quellen und lehrte sie glauben. Während sie als Menschen wuchsen, befestigten sich die gebundenen, unbewußten Kräfte, die ursprünglich dem Rhythmus der Jahreszeiten entstammten, und wurden zu Charakterzügen. Die Hoffnung, die mit der Wiederkehr der Sonne verknüpft ist, machte sich frei und wurde selbst zu einer Naturkraft. Was zuerst nur Sehnsucht nach der Sonne war, wurde bei dem Nordländer zu Sehnsucht nach der Ferne, Wanderlust, und schließlich durch inneres Wachstum zu einem Verlangen, das jenseit von Zeit und Raum und allen faßbaren Dingen ist, zu einer Idee. Die nordische Seele ist ein gewaltiges Streben über sich selbst hinaus.
Alle Sehnsucht aber, jede Idee stammt von innerer Fruchtbarkeit ab. Wo kein Wachstum ist, da entwickelt selbst die Sonne nur Hitze. Das Volk, in dessen Seele der Frühling sich erweiterte und zu einer inneren, blühenden, eigenen Welt wurde, war jung und schwellend vor Frische, es nährte sich abgehärtet von Widrigkeiten, Schneewetter und rauhen Stürmen wie der Löwenzahn, und verbreitete sich gierig wie dieser, selbst dort, wo kein anderes Unkraut Wurzel fassen wollte; es war ein Volk in seiner Kindheit, ein Volk von Kindern, im bildlichen wie im buchstäblichen Sinn.
Man sagt, wo Not ist, da sind Kinder; die Alten, die gegen ein feindliches Klima kämpfen mußten und noch nicht die nötigen Waffen dazu hatten, sind ein Beispiel dafür. Es war, als ob jedes schlimme Jahr einen Mund mehr in allen kinderreichen Familien hervorbrachte. Die Verhältnisse besserten sich nur langsam, der Appetit aber nahm unheimlich schnell zu.
Aber wo Kinder sind, da ist auch Frühling. Nicht zufällig werden Kindergeburten im Norden volkstümlich mit dem Storch in Verbindung gebracht. Der Frühling verknüpft die beiden Vorstellungen miteinander: die kleinen Kinder und das Erscheinen des Storchs in der Landschaft. Der Storch selbst gehört zu den ältesten Erinnerungen der Kinder, sie stammt von dem ersten warmen Frühlingstag, wo sie zum erstenmal aus einer fensterlosen Erdhütte an die Luft gebracht wurden und wo eine neugeschaffene Welt der Blütenhaut und dem ungeübten Auge des Kindes begegnete. Das erste kraftlose Fuchteln des Säuglings mit den kleinen geballten Fäusten galt dem Storch, der nickend und klug zwischen den tiefgelben Ranunkeln im Moos watete. Ein Widerschein von der Freude der Mutter, die beglückt war, daß sie ihr Neugeborenes mit zur Quelle nehmen und das Wunder im Freien sonnen konnte, fiel auf den Frühlingsbringer, den lieben Storch, mit dem sie ihr Herz auf allumfassende Mutterart geteilt und für den sie, als er sein Nest baute, gefühlt hatte, wie wenn sie selbst es sei; auf diese Weise sind Kind und Storch und Frühling wirklich fast ein und dasselbe geworden, wenn man das Ursachenverhältnis auch mißverstanden hat.
Auf alle Fälle gab es in dem Skandinavien der Vorzeit mehr Kinder und auch viel mehr Störche als jetzt. Das Land war nasser, ein einziges großes, nebliges Moor. Das Wetter war an sich jünger, wenn auch sonst dasselbe wie jetzt, noch war nicht soviel Wasser ins Meer gelaufen, die Erde war feuchter, lag Himmel und Meer gleichsam näher, und tropfte noch von der Schöpfung, dem Bad der Eiszeit. Nach der einen Seite die Ostsee, die Mutter der Wolken, jener nassen Kühe mit platzenden Eutern, die scharenweise über den Himmel wandern, nach der andern Seite die Nordsee mit Nebel und Regen. Niederschläge fast das ganze Jahr, Hagel und nasser Schnee während der einen Hälfte, Regengüsse und warmer Nebel während der anderen. Schweden hob sich aus der Ostsee wie ein Walfisch mit strömendem Rücken, von dem das Wasser in reißenden Bächen hinunterfloß; die dänischen Inseln lagen niedrig und wie ertränkt im Meer mit Fjorden, die tief ins Land einschnitten, und mit Wasserläufen, die, bis an den Rand voll, durch dichte, nasse Wälder flossen. Die rauhe Nordsee bedrängte die jütländische Küste, das nördliche Eismeer donnerte schwarz-grün gegen Norwegens Mauern. Die Wolken schleppten Regen vom Meer herein und wieder hinaus, Nebel saß dem Wald auf dem Nacken, der immer naß war, von oben wie von unten.
Dieses Wetter, von dem sie sich noch nicht unabhängig gemacht hatten, war das Leben unserer Vorfahren. Das Wetter war sie, und sie waren das Wetter. Sie regneten mit dem Regen und der war fruchtbar, gab Korn und Unkraut und Überschwemmungen, die Land wie Vieh bis über den Kopf gingen. Überfluß und Hungersnot lösten einander ab, Menschen wurden zu zahlreich und Menschen starben aus. Es hagelte und wurde wieder schön, wie wenn Kinder weinen, der Donner krachte und der Blitz spaltete die Himmelswölbung über dem Kopf der Elenden, die sich in die Erde verkrochen und, wenn es vorbei war, sich von der gereinigten Luft und dem Regenbogen, der sich in ihren Tränen spiegelte, wieder ins Freie locken ließen. In allem, was geschah, war Hoffnung. Die Sonne glühte stärker für sie, mit einem Feuerschein, der näher zu sein schien und ihnen in die wilden Nerven drang. Irgend etwas lag stets in der Luft für diesen Volksschlag mit der nassen Haut, der dem Wetter preisgegeben war; ihre Poren, jedes Haar auf ihrem Körper nahm an dem Gang der Jahre und Tage Anteil. Die Zeit bestand für sie in einer empfindsamen, niemals gesättigten Erwartung, gleich der, in der Kinder leben. Denn unsere Vorfahren waren wie alle Wilden große Kinder.
Selbst die aber, die ihr ganzes Leben unter dem Zeichen der Kindheit verbringen, altern und müssen sterben. Jünger ist immer die Jugend, der neue Wurf, der heranwächst und die Erwartung zu Erb und Eigen bekommt. Der neue Wurf, das ist der Frühling, das Dasein von vorn angefangen, wenn die vorige Generation erkaltet ist und dem Winter anheimfällt. Die Jungen kommen wie die Sonne, der neue April, Vogelzug und warme Nächte, und sie kommen plötzlich, wie alle Frühlingsboten, rotten sich in aller Geschwindigkeit zu einer Generation zusammen und nehmen das Land im Sturm. Sie werden siegen, denn sie haben das Leben vor sich und sind in der Überzahl.
Jedesmal, wenn eine Völkerwanderungswoge vom Norden ausging und in der Überlieferung Spuren hinterließ, war es solch ein Frühlingswurf, ein Überschuß an Jugend, der sein Schicksal vollbrachte.
Und Überschuß war immer da. Es war, als ob jede Laune des veränderlichen nordischen Wetters, jeder Regenschauer, jeder Schneesturm und jede ziehende Wolke zu einem menschlichen Wesen wurde. Liebliche Sommertage, mit Wärme, Gewitterluft und wogendem Korn, Heumahd und hellen Nächten, Herbst mit wilden Beeren und Wäldern voller Nüsse, wenn der Mensch so gute Tage hat, dann mag er nicht allein sein, das ist klar. Aber auch Mittwinterszeit mit beißendem Frost und fast ausgestorbener Sonne ist keine ungesellige Zeit, wenn man nur wohlverpackt in Fellen in der Erdhütte an seinem Feuer sitzt, das nie ausgeht, und in der Hoffnung zu leben versteht. Die Sehnsucht nach dem Sommer während langer schwarzer Nächte kann Menschen der Sprache berauben, ein Kind aber wird dennoch der lebendige Ausdruck für das, was keine Worte fand, ein kleines dämmerndes und überall rundliches Wesen wie Sonnenflecke unterm Laub im Walde. Kinder entstehen aus Mißjahren und Hungersnot, wenn magere Eltern beim Fasten zusammenhalten und ihren Reichtum in einem neuen Leben sehen. Eine Überschwemmung entvölkert ganze Landschaften; bleiben aber nur zwei übrig, die auf dem Binsendach eines Hauses umhertreiben, bis sie auf einer kleinen Insel landen, wo es Beeren genug zum Unterhalt gibt, dann sind sie zu dritt, bevor die Wasser fallen, und von ihnen wird eine neue Bevölkerung, eine ganz neue Harde abstammen. Bisweilen scheinen sich alle guten Lebensbedingungen, Sonne, Wärme und Feuchtigkeit zusammenzutun, und dann finden geradezu Massengeburten statt, ein reines Zwillingsjahr, und gleichzeitig wird es nicht fehlen, daß unendliche Storchenschwärme ins Land kommen und daß die Frösche sich ganz unerhört vermehren, gar nicht davon zu reden, daß es ein Lemming- und Maikäferjahr wird!
Wenn solche allgemeine Landplage die Harden heimgesucht hat, dann fließen die Hütten über von Kindern. Jede Familie gleicht einem frischen Zweig, dicht besetzt mit Knospen, einem Weidenzweig im Frühling; überall lugen kleine Kinderköpfe hervor, wie in dem Märchenwald selbst, wo die Menschenkinder entstehen.
Die Kinder aber sind sehr wirklich, und die Hilflosigkeit in Mutters Schoß dauert nicht lange. Die Hütten können sie nicht halten. Sobald sie nur in aufrechter Stellung umherstapfen können und fürs Leben mit einem kleinen Fell um die Hüften und einigen Raubtierzähnen an einer Sehne um den Hals, zum Schutz gegen die Gefahren des Waldes, ausgerüstet sind, werden sie ins Freie gelassen, wo die schwärmende Schar aus dem Nachbarlager sie sofort aufnimmt. Hier verlieren sie bald ihr Familiengepräge, man betrachtet sie kaum mehr als Kinder, die zu dieser oder jener Hütte gehören, sondern nur ganz allgemein als Einzelwesen aus der Horde, die man im übrigen für eine Kränkung der Naturordnung hält. Die Horden, Kinder als Begriff, sind ein schrecklicher Begriff. Nur die Mütter haben Nachsicht mit ihnen, denn sie können ihre eigenen noch in der Schar unterscheiden, zerren mit größter Sicherheit eines aus Hunderten heraus, einen ganz unkenntlichen Balg, der auf keinen Namen hört, aber natürlich doch entzückend ist. Dank den Müttern dürfen sie am Leben bleiben.
Im übrigen bekommt man sie selten zu Gesicht, sie schwärmen am frühen Morgen zusammen hinaus und kommen nur hin und wieder vereinzelt nach Hause, um Nahrung zu fordern und in der Hütte zu lärmen, aber es geschieht immer seltener, denn mit der Zeit entdecken sie, daß man von allerhand wildwachsenden Dingen im Walde leben kann, von Eiern und kleineren Tieren, oder was der Strand spendet, von Muscheln und Fischen, die man bald fangen lernt, und ein erhöhter Genuß ist es, sie selbst am eigenen kleinen Feuer zuzubereiten, so fern von menschlichen Wohnstätten wie nur möglich. Im übrigen schenken sie ihrer Nahrung nicht viele Gedanken, wohlgemerkt, wenn sie satt sind, das Tagewerk besteht darin, an Bäumen im Walde hinauf- und hinunterzusausen und im Wasser auf allem umherzutreiben, was nur irgend tragen will.
Eine beliebte Zerstreuung während des langen, unvergänglichen Kindersommers ist, ziellos durch die Landschaft zu galoppieren, bergauf und bergab, in geschlossenem Trupp, und sich in Menschengeheul zu üben. Es geschieht meistens zur Dämmerzeit, daß dieser Drang, sich in ohrenzerreißendem, wildem Gebrüll Luft zu machen, über sie kommt, er ist so schauderhaft, daß selbst die Wölfe darüber verstummen, und in den Hütten läuft es den Erwachsenen über den Rücken, wenn sie die Nachtmusik ihrer Sprößlinge hören. Es bedeutete höchstwahrscheinlich, daß die Horde im Begriff war, sich ganz von den bewohnten Orten loszureißen und sich zu gewöhnen, die Nächte draußen zu bleiben; sie wollten wohl die Furcht vor der Dunkelheit überwinden, indem sie in Scharen heulten. Sie wurden aber selbst nur noch erregter und unregierlicher dadurch.
Ihnen an einem Abend, wenn sie sich toll gebrüllt hatten, zu begegnen, war eine lebensgefährliche Sache, aber es fiel Erwachsenen auch gar nicht ein, nach Sonnenuntergang in den Wald zu gehen.
Bisweilen verschwand die Horde ganz und gar von ihrem Ausbrütungsort und lieferte dann Schlachten mit anderen Horden von weiter her, auf die man im Walde gestoßen war, oder man ließ sich zu friedlichem Verkehr mit ihnen ein, woraus sich ergab, daß mehrere Horden sich zusammenschlossen; es konnten Dinge in der Wildnis vor sich gehen, von denen die erstaunten Eltern einen Begriff bekamen, wenn ihre Sprößlinge sich hin und wieder mit mehr oder weniger verstümmelten Gliedern in der Hütte einfanden. Hier hatte man übrigens genug mit den unteren Enden des Wurfs zu tun, der immer neue Schößlinge trieb.
Ehe man es recht merkt, oder vielleicht war es ein Verhältnis, das sich von Geschlecht zu Geschlecht vererbte, und darum eine selbstverständliche Sache, ist das Dorf mit einer frei umherstreifenden Horde von Kindern jeden Alters versehen, von kleinen kieselharten Schnelläufern, mit fünf bis sechs Sommer alten Sommersprossen zwischen den Haarwurzeln, bis zu langen, heiseren Lümmeln, die wohl eigentlich erwachsen genannt werden mußten, die aber niemand aus der Schar ausgeschieden hatte.
Die Horden aus den Dörfern verschmolzen mit anderen aus dem umliegenden Land, bis die Horde ein wahres Heer von Minderjährigen auf die Beine gestellt hatte, ein neues, junges Volk innerhalb des alten, mit ausgesprochen selbständiger Haltung. Das Verhältnis zu den Dörfern ist nicht das beste, die Jungen tragen eine Kälte gegen die Alten zur Schau, (die es doch seinerzeit, als sie den Grund zu ihnen legten, gut meinten) die nicht mißzuverstehen ist. Sie entwickeln sich bald zu einer offenen Gefahr für die menschliche Gesellschaft, das heißt, für die Älteren, und da keiner seine Eigenen mehr erkennen kann, werden die Umherstreifer als Fremde betrachtet, als Feinde der bestehenden Sicherheit, von denen man das Schlimmste gewärtigen kann.
Schließlich kommt die Horde in die Krise der Mannbarkeit. Ein einziger Sommer vollbringt es bei denen, die gleich alt sind, und im selben Sommer erneuert sich die Welt zum zweitenmal für die neue Generation. Der Storch lenkt von neuem die Aufmerksamkeit auf sich und vermischt sich mit kindlichen Erinnerungen, als sähe man den klugen Vogel zum erstenmal. Eine gewisse Sehnsucht nach dem Herd meldet sich, nach einer fernen, sanften Welt, die man fast vergessen hat, als man noch zu Hause bei Mutter war. Die schlimmsten Stromer der Bande fangen an, den Kleineren das gröbste Kriegerhandwerk zu überlassen und kehren selbst im geheimen zu Dingen zurück, die an ihre früheste Kindheit erinnern. Vogeljunge werden in die hohle Hand genommen und beschützt, werden sorgsam wieder ins Nest gelegt, nachdem man sie heimlich an den Mund gehalten und gefühlt hat, wie weich sie sind; die Quelle wird als Spiegel benutzt von aufgeschossenen und dicknäsigen Individuen, die früher, als sie schöner waren, nur hinkamen, um Wasser zu schlürfen; man geht mit geschlossenen Augen dem Südwind entgegen und läßt sich von ihm das Gesicht betasten und über die Glieder streichen, beim Spielen ist ihnen vor Kitzligkeit nicht nah zu kommen, man begeht abwechselnd rohe Dinge und macht sich lächerlich durch Zärtlichkeiten, man sucht Einsamkeit und kann das Leben doch nicht allein tragen – kurz gesagt, die Knaben sind im Begriff Mann und die Mädchen Weib zu werden.
Unerhörte Dinge werden von der Horde berichtet. Gerüchte von dumpfen Aufruhrsanzeichen verschiedener Art, schamlosen Forderungen, Eßgier, Freiheitsgebrüll schwirren, als ob diese Rasenden, die nicht mal eine Weide ihr eigen nennen, nicht frei genug wären! Es kommt zu krassen Kränkungen des Eigentumsrechts, Körperverletzungen und schließlich zu geschlossenen Überfällen auf die Dörfer. Dann ist das Maß voll, die Jungen müssen fort, bevor sie zu stark werden, heraus aus der Harde mit ihnen. Sie gehen auch ganz gutwillig – – wären die Alten nur schon etwas früher auf diesen Gedanken gekommen!
Auf ihrem Weg nach Norden begegnen die Zugvögel dem Auswandererzug, der in die entgegengesetzte Richtung strebt, einer Schar von Hunderten, die unterwegs andere Banden aufsammeln und zu Tausenden anwachsen, junge Krieger zu Fuß und zu Pferde, Frauen, Kinder und Hausrat auf den laut knarrenden Ochsenkarren, Vieh und was man ihnen sonst an Erbteil gegönnt hat, durch den Wald hinterdrein, in einer langen, schwer vorwärtsarbeitenden Prozession. Der Hammer ist über die vogelfreie Gesellschaft geschwungen, der alte Eichengott steht ihrem Abzuge zu Ehren im Hain mit frischem Blut besprengt, und der Opferpriester wischt sich mit einem Seufzer der Erleichterung den warmen Nierentalg aus den Mundwinkeln.
So hat die Urbevölkerung an der Ostsee, in Skandinavien und Deutschland ihre Überschüssigen fortgeschickt; ihr späteres Schicksal, Ansiedlerleben und Auswachsen zu einem Volk, Zusammenstoß mit Fremden und erneuter Aufbruch, bis sie sich, wie nach einem gemeinsamen Gesetz, in den Mittelmeerländern verlieren, hat den Stoff zu dem ältesten Motiv in der Geschichte unserer Vorfahren gegeben, der Stammythe, die in so ferne Zeiten zurückreicht, daß jede Überlieferung ausgelöscht ist.
In einer verhältnismäßig neueren Zeit ist das Auswanderungszentrum mehr nach Norden verlegt worden und findet überwiegend von der Küste aus statt; die Frühlingskinder tun sich zusammen und verlassen die Heimat zur See. Von den Schären in Schweden, von dem offenen Meeresstrand in Norwegen und von den Fjorden der niedrigen, dänischen Inseln laufen Schiffe mit der jungen begehrlichen Mannschaft aus, die ihre Sonnenträume mit dem vermengt haben, was sie von den Herrlichkeiten des Südens gehört. Das Motiv, mit dem sie sich in die Geschichte einschreiben, ist das alte, die Sehnsucht, die Erweiterungskraft des Gemüts, die sich in Generationen von Meerumseglern und Weltentdeckern fortsetzt, aber nie das Ziel ihres Strebens zu sehen bekommen hat. Denn obgleich die Alten große Wirklichkeitsmenschen waren, lag ihr Leben doch in ihren Träumen. Darum ist das, was für sie Kampf ums Dasein war, für uns Poesie geworden.
So ziehen sie aus nach dem Lande der Verheißung und kehren, wie unsere Kindheit, nie zurück.
Der Kiebitz hat sie ziehen sehen, hat fröstelnd auf seiner Anhöhe gesessen und geschrien, ist hoch geflogen und wieder herabgetaumelt, untröstlich, wie der Kiebitz seither jeden Frühling über öde, nordische Felder fliegt und über vergangene Jugend klagt, über die Jugend, die fortgezogen ist.