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An einem bitterkalten Aprilmorgen mit Frost in der Luft steuerte Björn Eisenpanzer auf England zu. Die Schiffe schaukelten längsseitig in der hohen See, hoben die nassen, triefenden Steven aus den Wogen und brüsteten sich, schlugen dann von neuem den Kiel in den Schaum, wie Pferde, die durstig die prustenden Mäuler in das Trinkwasser begraben, die Segel blähten sich in dem günstigen Wind schwellend von den Rahen mit langen Schoten und unter vollem Druck, als wollten sie die ganze Flotte aus dem Meer heben und geradeswegs durch die Luft nach England Hineinfliegen.
Die Männer gingen in der starken Luft an Bord und blickten zum Land hinüber, starr in den Zügen vor Kälte und Nachtwachen, schweigend, fastend und mit knurrenden Därmen, aber voll zurückgedrängter Lebenskraft. Die groben Kleider, die seit Tagen von Salzwasser durchnäßt waren, dampften an ihren warmen Körpern. Jeder Mann war mit ganzer Seele in seinem Blick voran; all die scharfen, blauen Augen waren auf diese neue Küste gerichtet, die Meer und Morgengrauen vor ihnen gebar, während der Wind sie darauf zu trieb.
Die erste Landkennung zeigte sich just beim Morgengrauen, eine meilenlange, gewaltige Sandbank, die plötzlich in vagen Umrissen wie ein Spuk im Reifnebel am Westhimmel auftauchte, sich aber bald als festes Land erwies, hohe, nebelweiße Uferfelsen, die sich wie gemauert aus der Brandung emporhoben und mit einem großen, erloschenen Blick übers Meer starrten. Das war England.
Indem sie näherkamen, klang ihnen ein kühler Laut entgegen, Englands Stimme, es war der Wellenschlag gegen die meilenweite Küste; in einem breiten Streifen davor war das Meer fahl und milchfarbig von der Kreide, die von den Felsen heruntergewaschen wurde, ein Land, das sich breitete und um Platz bat! Schwärme von schreienden Seevögeln, Englands Schutzgeister, kamen der Flotte vom Lande aus entgegen, im übrigen aber sah es dort drinnen noch öde und wie ausgestorben aus.
Nach und nach tauchte über dem Kamm der Uferfelsen das Innere des Landes auf, mächtige Strecken mit großen, meilenweit geschwungenen Linien, Wälder, Heide, grüne Wiesen, die das Morgenlicht auffingen und wie die neugeschaffene Welt in einem Strahl der Aprilsonne schimmerten. Weiter fort verdämmerte das Land in blauen, fernen Höhen, und dort lag Schnee, der in der Nacht gefallen sein mußte; England zeigte sich den Fremden in ein wohlbekanntes Laken gehüllt, und sie nahmen es als ein Wahrzeichen, ohne zu schaudern; sie waren hergekommen, um hier zu sterben, jawohl, ihre Gebeine wollten sie in England niederlegen!
Roh und bewegt stand jeder Mann und sättigte sein Auge mit einem Morgenblick auf England, das dort hoch auf seinem Kreidesockel im Meer lag und die schönsten Landschaften auf seinen Schultern trug, eine Unendlichkeit an Ackern, Platz soweit das Auge reichte, Wälder und Wiesen, Höfe, Jarltümer, ausgedehnte neue Reiche! Und man wußte, daß dort drinnen Menschen gingen, wenn man vorläufig auch noch nichts weiter sehen konnte als ein Feuer hier und dort im Walde, mit ihnen wollte man seine Kräfte messen – o ja, und man konnte auf den Schiffen hören, wie die Männer sich gewaltig die Hände rieben, wie wenn ein Hund seine Ohren schüttelt. Auf der Brücke standen die Anführer und zeigten mit einer Armbewegung, die den halben Horizont umfaßte, auf Pässe und Klüfte zwischen den Höhen – von dort führten die Wege ins Land hinein – von dort sollten die Reiche erobert werden.
Gegen Mittag, als sie dicht an die Küste herangekommen waren, sahen sie Hünengräber auf den Höhen, die sich frei vom Himmel abhoben, ganz wie sie es von daheim kannten; ja, das waren die Gräber der Alten, die vor ihnen in vergangenen Zeiten mit derselben Absicht hierhergekommen waren; England winkte ihnen mit einem Grab, gut, hier wollen wir begraben werden! Und von diesem Augenblick an verschloß sich ihr Gemüt der Erinnerung an das Land, von dem sie gekommen waren, an die Reise und was sie auf dem Meer ausgestanden hatten, sie waren jetzt hier, und jede Fiber war auf dieses Land gerichtet, das ihnen vorläufig mit steilen Felsen den Eingang versperrte, das sie aber zum Öffnen zwingen wollten.
Durch eine Kluft, wo die Klippen sich öffneten und einen Blick auf die hochgelegene Heide gewährten, sahen sie, wie eine mächtige Signalflamme von dem Gipfel einer Anhöhe ihren Rauch in weitem Umkreis zum Himmel wälzte; da wußten sie, daß ihre Ankunft im Laufe des Vormittags im Lande gemeldet sein würde.
Dort aber wollten sie nicht hinein. Sie gingen einige Stunden vor Anker und ließen die Leute an Land rudern, um auf einer Sandfläche unterhalb der Klippen Essen zu kochen, darauf griffen sie wieder zu den Riemen und ruderten weiter südlich auf die Humberbucht zu, um sich dort mit dem Normannenheer zu vereinigen.
Die ganze Humbermündung und der Fluß weit hinauf wimmelte von Schiffen in allen Größen; sie lagen vor Anker und sie ruderten umher, Schiffe gingen und kamen vom Meere, von Osten, von Süden, aus der Seine und von anderen Gegenden der französischen Küste; eine bewegliche Brücke von Fahrzeugen schien im Kanal zwischen England und Frankreich zu liegen. Überall am Strand brannten Lagerfeuer, und hier wimmelte es ebenso wie auf dem Wasser von Menschen, alles scheinbar ohne Zweck und Ordnung.
Aber es war dennoch eine Seele im Heer, der Normannenkönig selbst, Regner Lodbrog. In seinem Namen war alles, was Jugend hieß, Krieger sowie Schiffe, aus dem ganzen Norden herbeigeströmt, um an seinem Schicksal Anteil zu bekommen. Von ihm ging alles aus, was geschah, die Bewegungen der Flotte, alle Unternehmungen an Land, in seinem Kopf vereinigten sich die verstreuten Raubträume Tausender von heißen Köpfen und sammelten sich zu geordnetem Überblick; wenn alle anderen ungeduldig drängten, war er der einzige, der warten konnte, und wenn dieselben Stürmer unschlüssig dastanden, war er derjenige, der einen Entschluß zu fassen vermochte.
Es versteht sich von selbst, daß König Regner, der sich während eines langen Lebens persönlich als der Erste zwischen ausgezeichneten Helden hervorgetan hatte, ein Wunder an Wuchs und Kraft war, sehr groß und entsprechend wuchtig gebaut. Aber in den letzten Jahren hatte er fast nur Lebenszeichen durch seinen Verstand, sein Gedächtnis und seine Einsicht von sich gegeben, davor beugten sich alle, wie sie sich früher vor seiner Stärke gebeugt hatten. Er hatte einen kräftigen, knochigen Kopf, der trotzdem so schmal war, daß er mit dem langen, fleischigen Hals in eins ging; der Unterkiefer trat zu beiden Seiten unter den Ohren wie ein Kamm vor; selbst wenn er in Ruhe war, pflegten die Kiefer sich zu strammen und ganz leise zu arbeiten. Er hatte sehr helle Augenwimpern und Brauen, und wenn er still dasaß, sanken die Brauen so tief herab, daß sie die blauen, tiefliegenden Augen, die dicht zusammensaßen, fast verbargen.
Seine Gesichtshaut war, wo Schrammen und Narben sie nicht bedeckten, dicht mit roten und blauen Adern gesprenkelt, die von seinem Leben auf dem Meer herrührten; seine riesenhaften, mageren Hände aber waren so weiß, als ob kein Blutstropfen drin sei. Sonst sah er aus wie Bauern im allgemeinen und gab durch nichts in Benehmen oder Mienenspiel zu erkennen, daß er der König sei. Er bewegte sich sehr wenig und sprach nur bei besonderen Gelegenheiten. Auf dem Schiff, wo er Wohnung genommen hatte, ging er für gewöhnlich ohne Waffen und in einfachen Kleidern, man sah ihn meistens ruhend dasitzen, nicht selten mit irgendeinem kleinen Kind auf den Knien, einem seiner Enkelkinder, oder dem ersten besten Säugling, den er in der Nähe fand; der König lächelte allen Kindern sanft und geistesabwesend zu; er war gewohnt, daß jedes Kind, das ihm vor Augen kam, sein eigenes sei.
Die Kleinen brachten ihm Blumen, erste verkümmerte Kräuter des Frühlings, Huflattich und Stiefmütterchen, die sie am Flußufer gepflückt hatten, und stundenlang danach konnte man den König wie erloschen dasitzen sehen, die tiefliegenden Augen von den Brauen beschattet und die Blume, die das Kind ihm gegeben hakte, vergessen in der Hand. Dann wußte niemand, was er dachte.
Man ließ ihn am liebsten in Ruh, denn es gab keinen im ganzen Heer, vom Fürsten bis zum Ruderknecht, dem nicht ungemütlich wurde, wenn in die hellen, scharfen Augen des Königs Leben kam und sie sich gerade auf ihn richteten.
Während der König so voller Ruhe war, waren alle anderen im Heer, vom obersten bis zum niedrigsten, in Fieberhaftigkeit und Eile. Das Gerücht ging, daß König Regner in diesem Jahre die Absicht habe, einen gesammelten Angriff auf England zu machen. Während eines Menschenalters hatte er bald nach einer, bald nach der anderen Seite des Kanals und der Nordsee gekriegt; jetzt hieß es, daß in dem kommenden Sommer York genommen werden solle.
Daß die heimlichen Pläne des Königs unantastbar seien, bezweifelte niemand, ebensowenig, daß das ganze Heer dazu da sei, zu warten, bis seine Pläne reif wären. Aber es gab eine Partei im Heer, der es schwer fiel, sich ruhig zu verhalten, während der König England belauerte, und an der Spitze dieser Partei standen keine geringeren als des Königs eigene Söhne.
Die Jugend geriet aus Rand und Band in dieser Jahreszeit mit neugeborener Sonne, Zugvögeln in der Nacht und unwiderstehlichen Frühlingsempfindungen. Fahrten zur See und die gefährlichen Abenteuer an Land konnten sie nicht mehr sättigen. Schreiende Eingeborene totzuschlagen und ihr Vieh zum Strande zu treiben wurde zu einförmig. Recht ansprechend waren die Jagden in den ausgedehnten, fremden Wäldern, gewürzt durch das Gefühl, gleichzeitig selbst gejagtes Wild zu sein, aber das genügte nicht. Die Jugend spielte am Strande, vor dem die Flotte lag, sie rangen miteinander, spielten Ball und waren drauf und dran, sich gegenseitig vor lauter überschüssigem Lebensmut das Fell über den Kopf zu ziehen; sie badeten trotz Hagelschauern, tummelten sich in dem eiskalten Wasser und priesen den Sommer, wenn das Wasser halbwegs frei von Eis war; die Sonne, die jedesmal, wenn sie durch die Wolken brach, an Leuchtkraft gewonnen zu haben schien, obgleich sie noch nicht wärmte, fiel auf die nackten Körper, die so nordisch weiß waren, daß Adern und Sehnen und das perlmutterfarbige Fleisch durch die dünne Haut schimmerten. Das beißende kalte Wasser brannte sie kirschrot, sie brüllten wie Eber und galoppierten hinterher in entzückter Ausgelassenheit splitternackt in Tauschnee und Sonnenschein am Strande hin und her.
Das war die Jugend, deren Nachkommen die Herzogtümer in der Normandie und England unter sich teilen sollten.
Den meisten aber erging es wie eines Tages einem jungen Krieger aus dem Heer, übrigens ein Ereignis, das über den Kreis hinaus, wo er bekannt war und Verwandte hatte, nicht viel Aufsehen machte.
Es geschah, während sie am Strande badeten. Einer der Jungen geht an Land, um sich anzuziehen, steht in der prachtvollen Nacktheit seiner zwanzig Jahre da, atmet heftig nach dem kalten Bad, das seine Haut zerfetzt hat, die Schulterblätter dampfen von der inwendigen, kochenden Blutwärme, er schlägt sich dröhnend auf den Brustkasten, blinzelt mit Wasser in den Wimpern zur Aprilsonne hinauf, die in einer Wolke schreitet, Himmel und Erde brechen sich wie ein einziger, großer, lebender Diamant vor seinem Blick, und mit dem Regenbogen in der Seele stürzt er längelang, ohne einen einzigen Laut zur Erde, wie von einem unsichtbaren Blitz getroffen! Als die Freunde herbeieilen, ist er tot, und man findet einen gefiederten Pfeil, der aus den Seitenknochen seines Rückens heraussteckt; von hinten geradeswegs ins Herz getroffen! Oben an Land aber in der Richtung eines Busches sieht man einen Reiter auf einem kleinen langhaarigen Pferd davoneilen, den großen englischen Bogen, mit dem er den Mord ausgeführt hat, noch in der linken Hand. So starb er, ein Unbekannter im Heer, wie so viele andere, das war der Zweck seiner zwanzig Jahre, dazu hatte seine Mutter ihn geboren, dazu hatte er sich geübt und nach Kräften gestrebt! Abends beim Trinkgelage war auf dem Schiff, wo er hingehörte, ein junger Krieger, sein Altersgenosse und Freund, der sich abseits setzte, den Mantel über den Kopf zog und nicht mit in die Munterkeit einstimmen wollte, wie oft man auch kam, ihm auf die Schulter klopfte und ihn ermunterte. Eine Nacht und einen Tag blieb er so im Dunkeln sitzen; erst am nächsten Abend verlockten sie ihn zu einem starken Trunk, und als er betrunken war, weinte er. Von da an nahm er wieder am Leben teil.
Was geschah nicht alles im Heer, worauf verfielen die jungen unbändigen Krieger nicht alles, denn das tägliche Feldleben mit seinen Strapazen und Lebensgefahren war ihnen zur Gewohnheit geworden. Eine Zeitlang gingen sie eifrig auf Weiberfang aus, besonders die, die vom Meer kamen, ausgehungert von Einsamkeit, mit Appetit auf alles und jedes, was zum andern Geschlecht gehörte. Zur Abwechslung von Trunk und Spiel waren die Töchter des Landes eine Annehmlichkeit, besonders ihr Fang war eine Zerstreuung, aber auch das verlor seine Abenteuerlichkeit, wurde ein alltäglicher Zeitvertreib wie anderes; die Weiber waren hier wie überall, wehrten sich erst gewaltig und krähten wie Hühner, denen der Hals umgedreht werden soll, hinterher aber blieben einem die Federn an den Fingern kleben und man konnte das Vieh nicht wieder los werden. Die jungen Krieger waren noch zu grün, um anderes an den Frauen zu schätzen, als die Freuden der Liebe; daran dachten und davon sprachen sie aber beständig.
Am längsten behielt doch die heiße Welt des Trinkens und des Rausches ihren Wert; das muß man sagen: es wurde ganz unmäßig an Bord der Schiffe gezecht, und hierbei standen auch die Älteren nicht zurück. Wilde und tolle Streiche, in der Blüte der Trunkenheit begangen, wurden von Schiff zu Schiff in den einförmigen Tagen um die Tag- und Nachtgleiche, wo das Leben nur auf Warten eingestellt zu sein schien, erzählt. Unschuldige und auch sehr grobe Späße mußten der Wartezeit Inhalt geben; man neckte die Berserker, ließ Mäuse zwischen sie, wenn sie es am wenigsten ahnten, und amüsierte sich über das Gekreisch der Narren, oder man versteckte Mädchen unter den Fellen in ihren Kojen, zum ebenso großen Entsetzen der weiberscheuen Trabanten; man feierte ein Hochzeitsfest zwischen einer Meerfrau, die man gefangen hatte, und einem alten Sklaven und senkte sie dann zu ihrem Schloß ins Meer hinab, reich versehen mit Geschenken in Form von Feldsteinen um den Hals; man schoß nach einer lebendigen Scheibe, die ein unglücklicher Kriegsgefangener darstellen mußte, man erfand weniger rohe, aber dafür törichtere Dinge; die Jugend fühlte sich um ihre Bestimmung betrogen und rächte sich durch zwecklose Grausamkeit.
Schließlich, bevor es zu bunt wurde, löste sich die Spannung in dem Gemüt der Jungen zu etwas Wirklichem, zu einem Ziel, Aussicht auf Erlebnisse, Taten! Noch in der ersten Hälfte des April gab der König seinen Söhnen und deren Freunden die Erlaubnis, von der Mannschaft und den Schiffen zu nehmen, was Lust hatte, und auf eigene Faust eine Seefahrt zu unternehmen, während er selbst günstige Gelegenheit in England abwarten wollte. Auf diese Weise kam die später so berühmte Mittelmeerfahrt zustande.
Zwischen den Lodbrogsöhnen und ihren Kameraden war es schon ein alter Plan. Ursprünglich stand König Haastein dahinter, und so wurde er auch der Leiter der Seefahrt. Er war es, der die Idee gehabt hatte, und so wie sie in seiner Einbildungskraft dämmerte und sich schnell auf die anderen verpflanzte, war ihr Ziel mit wenigen und einfachen Worten dieses: ins Weite zu fahren, um das Himmelreich zu erobern.
Haastein, der ebenso wie die Muspelsöhne, die darum auch seine Garde bildeten, ursprünglich von den Hochgebirgsgegenden in Norwegen gekommen war, hatte sich, trotz reicher Erfahrungen in der Welt, gewisse Urvorstellungen bewahrt, die in seinem Geschlecht überliefert worden waren, und aus ihnen war der Plan zu dieser Wikingerfahrt entstanden.
Wenn überhaupt etwas bei den Gelagen der Lodbrogsöhne verhandelt wurde, so war es immer und immer wieder das Himmelreich; mancherlei wurde darüber von den Völkern in Europa erzählt, wer aber konnte wissen, was daran Wirklichkeit sei? Handgreiflich vor ihnen lagen ja einige recht nette Reiche in Frankreich und England, Throne hier und da, Grundbesitz, Vieh, Goldgeräte, gute Frauen und dergleichen mehr. Kleinkram, – nein, das einzig Richtige war, zur Quelle selbst zu gehen. Was mochte es mit dem Himmelreich, auch Paradies genannt, wohl auf sich haben? Waren all die Herrlichkeiten, die man im Norden kannte, nicht nur wie einige spärliche und armselige Tropfen im Verhältnis zu dem wirklichen Reichtum und Glanz des Südens? Daß das Himmelreich im Süden lag, war klar, und wenn man nur weit genug fuhr, mußte man es ja erreichen. Alle Nachrichten bekräftigten diese Annahme. Wer hatte Lust, sich hier herumzutreiben und Ausländer abzuschlachten, um ein wenig Gold zu bekommen, soviel, wie zu einer Armspange gehört, anstatt nach dem Lande zu fahren, wo das Gold herkam, wo es wie Steine und Sand auf der Erde lag? In jenem Reich gab es Berge von Gold, das war sicher; woher sollte es sonst kommen?
Dieses Reich existierte. Woher waren die Asen seinerzeit gekommen? Woher holten die Bienen ihren Honig? Flogen sie nicht jeden Sommer nach der Insel der Seligen und kamen mit vollem Wanst nach Hause? Wo blieben die Vögel im Winter, wenn man fragen darf? Es war einleuchtend genug, daß dieses Land vorhanden sei und auch gar nicht übermenschlich weit fort läge. Es gab Menschen, die südlicher wohnten und in naher Verbindung damit standen, wenn man ernsten, bereisten Leuten Glauben schenken durfte; wie sollte es auch sonst mit dem Reich zusammenhängen, von dem so viel geredet wurde, wo der weiße Christ regierte, von dem der allmächtige Fürst in Rom sein Lehen hatte? Würde man jemals richtigen Bescheid über alle diese Dinge bekommen, wenn man nicht selbst hinfuhr und sich mit eigenen Augen davon überzeugte?
Außerdem, hier ging man und wurde alt, die Freunde starben rings um einen herum, und inzwischen gab es ganz ohne Zweifel ein Land der Jugend, ein Reich, dessen Bewohner niemals starben. Davon hatte doch ein jeder schon gehört. Ein schönes Land, das seinesgleichen nicht hatte, mit Flüssen, in denen der rote Wein floß und die Fische gebraten herumschwammen. Und was das Verlockendste von allem war: die Mädchen dort hatten Flügel wie große Vögel und flogen oben in der Luft umher und spielten Harfe!
Das war keine Fabel, denn Haastein besaß eine Kostbarkeit, die er in einem Kloster erbeutet hatte, ein Pergamentbuch, in dem man unter anderem diese beschwingten Frauen leibhaftig sehen konnte. Das Buch war voll von kräftigen Zeichen, jede Seite glich einer Aufstellung von lauter kleinen vierschrötigen Männern, von denen jeder ein geheimnisvoller Buchstabe war, ein ganzes Heer von Rätseln. Dazwischen waren Bilder, ganz klein und wie in weiter Ferne, aber deutlich und schön, in den herrlichsten Farben. Hier sah man wirklich die niedlichsten, leckersten Mädchen in roten Hemden zu einem wunderbaren, blauen Himmel hinauffliegen. Obgleich man das Buch leider nicht lesen konnte, war es doch klar, daß es vom Land der Jugend und der Seligen handelte. Dort fiel nie Schnee und die Bäume hatten das ganze Jahr hindurch Blätter, Beweis genug für die Unsterblichkeit. Es gab einen Fluß in diesem Reich, wenn man darin gebadet hatte, konnte man nie sterben, was einem auch zustoßen mochte. Ja, freilich, und so ein Land ließ man ruhig liegen, ohne auch nur den Versuch zu machen, es mit einem Schiff zu erreichen!
Natürlich wurde der Eingang zu den glücklichen Inseln von mancherlei gefährlichen Untieren bewacht, sowohl feuerspeienden Drachen als auch Löwen, die fliegen konnten; außerdem mußte man durch tiefste Dunkelheit, um hinzugelangen; ja, ja, es war nicht jedermanns Sache, glücklicherweise, denn sonst wäre das Land ja schon lange von anderen besetzt worden. Indessen war Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß bereits einige dagewesen seien, denn die Bruchstücke, die man in Europa von den dortigen Herrlichkeiten besaß, stammten sicherlich von einzelnen orientalischen Seefahrern, die Mut und Glück gehabt hatten, Einfälle in das Paradies zu machen. Manches deutete auch auf feste, heimliche Verbindungen; zum Beispiel der Kanel, von dem so viel im Handel war; wer konnte nicht sehen, daß er die Rinde eines köstlichen Baumes war, der zweifellos auf den Inseln der Seligen wuchs, denn er schmeckte ja so süß und stark, als ob man das reine rote Feuer im Mund hätte. Vielleicht bekam man ihn von Treibhölzern, die aus den Wäldern des Himmelreichs stammten, wer konnte das wissen. Met, wenn er recht alt und kräftig war, gab sicher auch eine gute Vorstellung von dem täglichen Zustand auf den Inseln der Seligen; die üppige, schwindelnde Stimmung, in die man kam, war ein Vorgeschmack des ewigen Glücksrausches in den Wohnungen der Sonne. Es geschah darum auch bei Becherklang und in der Glückseligkeit des Metrausches, daß die Jungen Gelübde ablegten und sich im Lande des ewigen Sommers Stelldicheine gaben.
Wie hingerissen seufzten sie nicht beim Gedanken an die schwanenbeflügelten Jungfrauen, die mit bloßen Füßen in ihren Hemden durch blumige Gärten schwebten! Wie bedauerlich, daß die beschwingten, weiblichen Einwohner auf den Inseln dort allein im ewigen Sonnenschein leben mußten, ohne eine Spur von männlicher Gesellschaft, in Unsterblichkeit und ohne Liebe! Aber jetzt wollte man sie überraschen! Höchstwahrscheinlich waren sie zahm und würden mit ausgebreiteten Flügeln herabkommen; sollten sie sich aber als scheu erweisen, nun, dann hatte man ja verschiedene Mittel, um Vögel zu fangen. Netze, Schlingen, im schlimmsten Fall mußte man sie flügellahm schießen, aber sie würden ziemlich sicher von selbst kommen. Wie man lachte und sich vor Behagen kratzte, wie man unwillkürlich schmatzende Bewegungen mit den Lippen machte!
Unerträglich, daß man auf einem feuchten Schiff sitzen und warten mußte, in Zug und Fußkälte, mit einem Stück Segeltuch überm Kopf, das von Tauschnee beschwert war; warum fuhr man nicht augenblicklich zur Sonne hinunter und saß mit seinem Mädchen im Arm unterm Schatten ihrer Flügel! Ach! Die Jungen seufzten und der Wind seufzte; sie lagen noch immer vor England, sie und die Schiffe, und quollen nach oben und unten vor Feuchtigkeit aus, und alt wurden sie, warum kam man nicht von der Stelle? Was die Drachen und die tiefe Dunkelheit betraf, nun, sterben mußte man ja auf alle Fälle. Die Hauptaufgabe war, den Seeweg zum Himmelreich zu finden, die Richtung, in der es lag; und zu diesem Zweck konnte man ja einige Bienen mitnehmen, sie fliegen lassen, wenn es Sonnenschein wurde, und ihnen dann nur einfach folgen, sie kannten ja, wie ein jeder wußte, den Weg zum Himmelreich.
Regner Lodbrog lächelte eigentümlich, als seine Jungen sich damit brüsteten, daß sie dieses Land suchen wollten, und um Urlaub und Mannschaft baten; wohl schüttelte er mannesklug den Kopf, aber es ist trotzdem nicht unmöglich, daß gerade dieser Plan ihn bewog, sie ziehen zu lassen. Ja, ja, sie mochten sich immerhin auf den Weg begeben und das Land der Jugend suchen, und wenn sie es gefunden hätten, sollten sie zurückkehren und ihm erzählen, wo es läge. Sicherheitshalber wollte er inzwischen versuchen, England zu erobern und es für sie in Verwahrung nehmen, bis sie zurückkämen.
Ungeheuer war der Jubel und die Erwartung unter den Jungen, als der König endlich den Plan gebilligt hatte. Alle wollten natürlich mit, auch die Älteren; da war nicht ein lebender Mann auf der Flotte, der nicht Lust dazu hatte. Die Lodbrogsöhne aber trafen erst ihre Wahl und ließen dann das Los für den Rest sorgen; einige Zweikämpfe wurden auch notwendig, um zwischen Bewerbern zu entscheiden; alles ging Hals über Kopf vor sich, in zwei Tagen und Nächten war die Mannschaft ausgewählt und die Schiffe klar.
An Bord waren außer Haastein, den Lodbrogsöhnen und ihren Freunden nur die Hervorragendsten aus der blutjungen Mannschaft des Heeres. Alles in allem waren es zweiundsechzig Schiffe mit Zwanzigjährigen bemannt, eine Flotte von Himmelsstürmern, aus allen Teilen Skandinaviens. Da waren die Muspelsöhne, da waren die seeländischen Jungen, junge Fünen, Bornholmer, Jüten, Töndern, Schonen, Friesen, eine johlende Stimme aus jeder Landschaft im Norden, und alle verlangten im Chor und unverzüglich das Himmelreich. So stach die Flotte in See.
Eine Schar Frauen, die als überflüssig an Land gesetzt worden war, folgte den Schiffen, als sie abfuhren, zog sich von Baum zu Baum am Ufer entlang und schließlich ganz ohne Deckung auf eine Landzunge hinaus, wo sie stehen blieb, bis die Schiffe vorbei waren. Der Wind zerrte an ihren Röcken und ihrem langen Haar.
Die jungen Stürmer dort draußen aber hatten keine Gedanken mehr für Northumberlands schwerfällige Töchter, die mit den Füßen an dem lehmigen Boden ihrer Heimat klebten und bald vom Nebel verwischt wurden; sie fuhren mit Strom, Ebbe und allen Riemen den Humber hinab, ihnen winkten ja die beschwingten Jungfrauen des Himmelreichs, die unter einem ewig blauen Himmel flogen und Harfe spielten.
Regner Lodbrog stand auf dem Königsschiff mit einem zufälligen Kind auf dem Arm und schaute den Fortziehenden nach, bis der Blick in den hellen, tiefliegenden Augen mit ihnen zu verschwinden schien, unterm Schatten der weißlichen Brauen.