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Nach einem langen Winter, wo die Vorräte aufgezehrt waren und ein allgemeines Fasten die Gemüter grimmig gestimmt hatte, besonders die der Jugend, die im Wachsen war und Nahrung haben mußte, fand der Überfall auf die Harde statt.
Ernste Unruhen waren vorangegangen. Den ganzen letzten Teil des Winters war die hungrige und erregte Jugend bald hier bald dort, wo sie versteckt gehaltene Lebensmittel vermutete, aufgetaucht. Sie kamen zu Scharen und zeigten mit einer kurzgefaßten, alles fressenden Gebärde auf ihre Zähne; verweigerte man ihnen etwas, so drangen sie mit Gewalt ein, durchsuchten die Häuser und zogen mit dem, was sie fanden, ab. An einigen Stellen versuchte man sie mit Heringen abzufinden, der einzigen Nahrung, die nie ausging, aber dieses Angebot behagte ihnen nicht. Heringe – die Jungen brüllten geradezu, wenn man Heringe auch nur nannte, schrien im Chor durcheinander, um den, der von Heringen redete, zu übertäuben. Brot wollten sie haben, sie kauten lieber eine Handvoll ungemahlenes Korn, als immer diese gesalzenen Fische; der Winter war entsetzlich lang gewesen, sie waren bis ins Herz hinein salzig geworden, ihre Adern dursteten nach Kernen, nach etwas Süßem, das nach Sonnenschein und Grün schmeckte. Selbst über geräucherte Schinken, den Schatz der Hütten und eine große Seltenheit in jenem Jahr, rümpften sie die Nase und prügelten zum Spaß den Bauern, der ihnen nichts besseres geben konnte, mit seinen eigenen Schafskeulen, als ob es Knüppel und keine Göttergaben wären. Frisches Pferdefleisch wollten sie haben, her damit! Hatte man je etwas Ähnliches gehört? Es war ein stehender Witz bei ihnen, von Pferdefleisch zu reden, als ob es ihre tägliche Kost sei, obgleich sie wußten, daß sie es nie zu schmecken bekommen würden!
An einigen Orten, wo die Leute mannsstark waren, bekamen die Unruhstifter Prügel und wurden vertrieben. Scharmützel mit Verlusten von Menschenleben auf beiden Seiten fanden auch hin und wieder statt. Die Jugend wurde schlimmer und schlimmer. An den kalten Abenden um die Tag- und Nachtgleiche, wo das Kommen des Frühlings sich bis ins Hoffnungslose hinzog, hörte man sie vor den Gehöften johlen, mit rauhen Knabenstimmen, durch die Todesverachtung und rasender Selbsterhaltungstrieb klang, und man mußte mit blanker Waffe auf sie einhauen, um sie sich vom Leib zu halten. Doch hüteten die Älteren sich, sie mehr als notwendig zu reizen; die Zusammenstöße fanden wie zum Scherz statt, mit groben Späßen auf beiden Seiten, selbst wenn es zum Blutvergießen kam; denn nahm man sie ernst und ließ sie fühlen, daß sie unehrlich handelten, dann wurden sie beleidigt, und eh man sich versah, hatte man den roten Hahn auf dem Hofe sitzen; es juckte den Knaben in den Fingern nach Feuer.
Endlich aber wich der lange, unheimliche Winter. Es kam wieder Licht in die Luft, man entdeckte Dinge im Hause, die man Monate lang einfach nicht hatte sehen können. Halbjähriger Schmutz in den Winkeln des Gesichts fiel ins Auge, man entdeckte, daß das Haar lang geworden und mit dem Fett der Tierhäute und dem Lehm, der von den Wänden herunterrieselte, zu einer festen Masse zusammengeklebt war; erst jetzt, wo das Licht wieder kam, erfaßte man, wie lang der Winter gewesen und wie übel man zugerichtet war.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel und begann Wärme zu spenden. Die Allerältesten kamen aus den Hütten hervorgekrochen, wo sie sich in Rauch und Dachtröpfeln krumm gesessen hatten, versuchten die Kniekehlen zu strecken und richteten die erloschenen, rußgeränderten Augen auf die Sonne. Ach ja, er da oben war wiedergekommen, wärmte noch einmal alte Augen, die der Winter blind gemacht hatte. Überall an den Südseiten der Hütten hörte man es vorsichtig husten und schnauben, es war Großvater, der auftaute und ohnmächtig zu ihm, dem Wiederkehrenden und Ewigen hinaufweinte.
Frühling!
An einem der ersten Tage, nachdem das Eis auf dem Sund geschmolzen war, verschwanden die Jungen spurlos und wie ein Mann aus der Harde. Sie waren wie weggeblasen und es wurde so seltsam still überall. An ihrer Statt ließ der Kiebitz sich hören. Man wußte nicht, ob man sich über ihr Verschwinden freute, oder ob man sie schon vermißte. Bald sollte man über seine Gefühle Klarheit bekommen.
Eines Abends bei Sonnenuntergang bemerkten die Bauern vom Lande aus eine Reihe niedriger, verdächtig aussehender Boote, die sich anscheinend in Schlachtordnung der Küste näherten. Es blitzte draußen von Eisen, und obgleich auf dem Sund kein Segler zu sehen und man so zeitig im Jahr nicht auf Seeräuber gefaßt war, glichen die Schiffe doch zu sehr Landungsbooten, als daß man sie unbeachtet lassen konnte. Es wurde Lärm geschlagen, das Horn gellte am Strande und hallte vom Walde her wieder, in einem Augenblick war alles Tumult und Verwirrung, das Vieh wurde zum Walde getrieben, Frauen, Kinder und Sklaven denselben Weg geschickt, Hausrat in Sicherheit geschleppt; und bevor die Boote noch den Strand erreicht hatten, waren alle Wohnstätten längs der Küste verlassen, die Bauern hatten sich zurückgezogen und ihre Verteidigungsstellung im Walde vor den Schlupfwinkeln eingenommen; das war ein altes eingeübtes Manöver, das nicht viele Minuten in Anspruch nahm.
Ein einzelner Späher blieb unten am Strande zurück, von Buschwerk verdeckt und mit einer sicheren Retraite im Rücken, um die Bewegungen der Boote im Auge zu behalten. Zu seinem grenzenlosen Erstaunen zeigte es sich, daß die Angriffsflotte mit den verschwundenen Knaben bemannt war! Sie kamen in ihren ausgehöhlten Baumstämmen, waren mit Bogen und Keulen bewaffnet, einzelne mit Beilen, und der ganze Schwarm war kriegerisch bemalt, Gesicht, Arme und Beine mit feuerrotem Ocker und Kalk beschmiert, so daß sie schon von vornherein aussahen, als ob sie geschlachtet wären. An der Spitze war Germund, quer gestreift, und mit einem Wildschweinfell überm Kopf. Die Wache kam ärgerlich aus ihrem Versteck hervor und rief ihnen zu, was in aller Welt das für ein Aufzug sei.
Darauf gerade hatte Germund gerechnet. Er kam näher, ohne die Frage zu beantworten, und als die Wache die Frage wiederholte und Germund nah genug war, streckte er den Mann mit seiner Keule zu Boden. Jetzt würden die Bauern im Walde vorläufig keinen Bescheid bekommen.
Der nächste Schritt war, alle Häuser und Gruppen von Hütten, die an der Küste lagen und von den Bewohnern verlassen waren, in Brand zu stecken. Sie lagen hauptsächlich zu diesem Zwecke da und waren nicht viel wert. Germund aber hatte eine bestimmte Absicht bei diesem Beginnen. Der Schwarm verteilte sich und ging ans Werk, wie der wilde Wind, eine Hütte nach der anderen loderte auf, die Bäume standen und glotzten im Feuerschein wie am hellichten Tage. Die Knaben arbeiteten unverdrossen, sie schnüffelten in die dunklen Wohnungen hinein und niesten bei dem allzu bekannten, verhaßten Geruch, der ihnen entgegenschlug, einer Mischung von altem, saurem Rauch, nassen Häuten und einem Gestank aus dem Lehmboden, den man in den Hals bekam – brrr – puh – ein Fußtritt in die Asche auf dem Herd, einen Brand oben ins Dach, und einen Augenblick später springt das Feuer heraus, mit einem häßlich qualmenden Dunst vermischt – der Winter geht in Rauch auf! Die behenden Gestalten sprangen zwischen den Bäumen umher und warfen lange Schatten; sie kannten ja die Pfade und die Lage der Häuser in- und auswendig; in wenigen Minuten stand die ganze Küste in Flammen.
Germund ließ jetzt eine entsprechende Abteilung seiner Mannschaft bei den brennenden Häusern zurück, indem er ihnen befahl, ein ungeheures Kriegsgeheul anzustimmen, als ob sie Tausende zählten, und Scheinangriffe auf die Bauern im Walde zu machen, Handgemenge aber zu vermeiden, sie nur in ihrer Stellung zurückzuhalten und ihre Aufmerksamkeit so lange wie möglich auf den Strand zu fesseln; darauf stach Germund mit dem Rest wieder in See, ruderte schnell in nördlicher Richtung am Strande entlang und bog in den Bach ein. Sein Plan war, um die Bauern herum zu kommen, aber nicht um ihnen in den Rücken zu fallen, nein, er hatte Vernünftigeres vor.
Der Hof, wo der Opferpriester wohnte, war Germunds Ziel. Die Dunkelheit brach herein, während sie wie wild den Bach hinaufruderten. Germunds Berechnung erwies sich als richtig, die Leute des Großbauern waren zum Walde geeilt, um sich den anderen Bauern beim Kampf gegen die vermuteten Seeräuber anzuschließen, der Hof stand leer.
Das erste, was Germund tat, war, sich der wichtigsten Voraussetzung des ganzen Schlachtplans, der Kriegsgaleere zu versichern, die vor dem Gehöft im Bach vertäut lag. Es war ein altes, ehemaliges Seeschiff, das dort gelegen hatte, solange die Knaben zurückdenken konnten, grünschleimig an der Wasserlinie und vom Wetter gebleicht; Germund legte es mitten in den Bach hinaus und machte es segelfertig. Unter Ruderbänken und Tauen versteckt lagen Riemen und andere Gerätschaften, die die Knaben nach und nach an Bord geschmuggelt hatten; das Schiff hatte sie im geheimen den ganzen Winter beschäftigt. Dann begab Germund sich zum Gehöft. Jetzt galt es, die Ausrüstung zu schaffen, Waffen und Mundvorrat.
Auf dem Gehöft waren nur einige Sklaven, die sich in die erdgegrabenen Hofgebäude verkrochen hatten; Germund ließ Steine über die Eingänge zu ihnen hinunterwälzen, und dann begann man den Hof abzusuchen. Waffen gab es in Hülle und Fülle; außer denen, die die Leute mit zum Walde genommen hatten, hingen noch herrliche Streitäxte und Speere in der Festhalle, die erbeutet wurden. Aber Lebensmittel gab es kaum so viel, daß ein Hund satt werden konnte! Die Kornböden waren leer, nicht eine Spelze war da, alles war entweder gegessen oder in Sicherheit gebracht worden. Die Ställe standen leer, obgleich der Mist noch warm war, Vieh und Pferde waren zum Walde getrieben. Das hatten sie nicht anders erwartet. Aber daß kein Korn da war! Wie sollte man ein Schiff ohne Korn ausrüsten?
Die Knaben waren nach dem Winter abgemagert, und in den letzten Tagen hatten sie nur wenig in den Leib bekommen. Der Hunger saß ihnen in der Kehle und ging ihnen zusammen mit der Wut darüber, daß sie nichts fanden, und der Erregung über ihr Vorhaben auf die Nerven – und plötzlich, während sie oben und unten und überall suchen, steht der Hof in Flammen! Einer hat der Versuchung nicht widerstehen können und hatte dem Herdfeuer einen Fußtritt gegeben, was nur menschlich war, aber jetzt konnte man die Leute vom Hof und mit ihnen die halbe Harde jeden Augenblick zurückerwarten! Was jetzt?
Weiha! Das Gotteshaus im heiligen Hain fällt ihnen plötzlich ein. Natürlich, es sah dem Bauern ähnlich, seine guten Dinge dort zu verstecken! Mit Feuerbränden in den Händen stürmen sie auf das niedrige Erdgebäude im Hain zu, einen Ort, wo sonst kein lebendiger Mensch hinzukommen wagt, besonders nicht abends. Hier hingen die Dornbüsche voll von Schädeln und alten Skeletten der Opfer, und in den heiligen Bäumen baumelten Reste von Menschen und Tieren. Schön war es hier nicht, und noch dazu stand Todesstrafe auf Betreten dieser heiligen Stätte. Ums Leben aber ging es auf alle Fälle und darum stürmten die Jungen darauf los. Die Tür zu Weiha war verschlossen, Germund rannte sie ein, und im nächsten Augenblick standen sie im Heiligtum. Ein feuchter Geruch von Erde, Ruß und verwesten Knochen schlug ihnen ins Gesicht.
Einen Augenblick stocken sie. Denn im Schein ihrer Fackeln treten die Götter aus dem rabenschwarzen Dunkel hervor, stehen im Halbkreis und starren ihnen entgegen, stumpfe Figuren, Kopf und Körper in eines, mit einer Kruste von getrocknetem Blut bedeckt, die hier und da abschält, und mit großen, weißgrünen Schimmelflecken an den Füßen. Einen Augenblick schwanken die Friedensstörer, es ist so totenstill hier und die unbeweglichen Götter betrachten sie so groß mit ihrem ganzen Körper, da aber schüttelt Germund Funken aus seiner Fackel, tritt vor und kommt zur Sache: » Ist hier Korn versteckt?«
Die Götter stehen so eng, daß sie den Weg versperren, und dahinter ist ein undurchdringliches Dunkel, das die Knaben kennen und das auch am Tage dort zu brüten pflegt; oftmals hat ihnen davor gegraut, wie vor der Unterwelt selbst, wenn sie hineinguckten. Germund aber möchte doch mal sehen, was hinter den Göttern ist, und schwingt seine Keule auf den mittelsten, der kurzhalsig und wie zum Sprung bereit dasteht, keinen anderen als Njord selbst. Der Schlag trifft ihn mit einem Klang von altem morschen Holz mitten auf den Bauch, und er stürzt von seinem Sockel herab.
Im selben Augenblick ertönt ein furchtbarer Schrei aus dem Dunkel dahinter. Germund springt mit der Fackel durch die Öffnung, sie hören einige menschliche Ausrufe, die Fackel fällt zu Boden, ein Röcheln und ein kurzer Kampf, dann fordert Germunds ganz ruhige Stimme die anderen auf näherzukommen, und als sie in den Raum hinter den Göttern eindringen, finden sie Germund mit den Händen um die Kehle eines Menschen! Es ist der Großbauer, oho, der Opferpriester in höchsteigener Person!
Während die anderen den Bauern halten, leuchtet Germund den Raum ab und sieht, daß nicht das geringste Eßbare da ist, rein nichts, nur Rasenwände, das Dach und einige alte Skelette. An Lebendem nur einige Kröten und Ohrwürmer und dann der bebende Priester, der Besitzer des Gehöfts und der erhabene Vormund der Harde, der Brave, der in die Unterwelt hinter die Götter gekrochen ist, während alle anderen zum Wald geeilt sind, um das Land zu verteidigen! Jawohl, und nicht ein Bissen hier oder auf dem Hof zu entdecken.
Da bekommt Germund einen Einfall. Er sieht, daß der Priester ein wohlgenährter, leckerer Mann in seinen besten Jahren ist, gerundet von all den Festopfern, an denen er im Namen der Götter mit den Bauern teilgenommen hat. O ja, hier haben sie gesessen und ihre heiligen Mahlzeiten abgehalten, heilig, das heißt so viel, daß Außenstehende nichts abbekamen. Der Priester ist so feist wie eine Stute, und eigentlich müßte er, da er keine anderen Nährwerte zu vergeben hat, eigentlich müßte er selbst unser Schiff morgen verproviantieren. Aber die Götter sollen ihn haben! Die armen, wurmstichigen Götter, die er betrogen hat; denn hat er nicht selbst getreulich all das Pferdefleisch gegessen, das ihnen zukam, und sie mit einem oder zwei Blutspritzern hintergangen? – jetzt aber sollen sie ein Opfer erhalten, das ihnen den Verlust ersetzt, sie sollen ihren eigenen Opferpriester bekommen und zwar sofort! Auf dem Altar liegt das alte, ehrwürdige Flintmesser, mit dem er so manches Opfer geschlachtet hat, auf den Stein mit ihm, und laßt es euch nicht kümmern, wenn er knurrt, das tut man, wenn man selbst abgestochen wird. Hier ist eine Mahlzeit für den alten gestürzten Njord, iß dich satt und gib uns morgen gutes Wetter! Laßt uns Feuer anmachen, damit es hier hübsch hell und gemütlich wird, und dann fort!
Wie die Nacht, die alle häßlichen Dinge mit ihrem Mantel bedeckt, und wie das Feuer, das Löcher hineinreißt, so war das, was geschah. Indem Germund seine brennende Fackel in Weihas Strohdach steckte, rannte er davon und weihte mit einem letzten Blick über die Schultern die gestürzten Götter dem Feuer.
Laute Rufe gellten durch den Wald, Hörnerblasen und Schildergetöse, es waren die Bauern, die von ihren Posten zu dem brennenden Heiligtum eilten. Da aber waren die Missetäter mit dem geraubten Schiff schon weit den Bach hinunter.
An der Bachmündung nahmen sie die Kameraden auf, die dort die Bauern zurückgehalten hatten, und vor Mitternacht befanden sie sich unter der Insel Hveen. Hier gingen sie an Land, raubten einige Schafe und ein neugeborenes Lamm aus einem Stall, und ruderten darauf mit allen Riemen in nördlicher Richtung aus dem Sund hinaus, auf das offene Meer zu.