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Prof. Born sprach in der Universität über den »Fall Mabuse«.
Zum erstenmal, nachdem er sich Jahre hindurch in schweigsamer Arbeit dem Fall Mabuse gewidmet hatte, spürte Born, wie seine Erlebnisse, Erfahrungen, Gedanken, in seinem Mund zu Leben geworden, eine neue Gegenständlichkeit annahmen.
Er erlebte hier den Fall Mabuse von einer anderen Seite. Daß er ihn aus sich selbst freigab, dem Bewußtsein von fünf- bis sechshundert Zuhörern, die den Saal füllten, übermittelte, ihn in diesem Bewußtsein fremder Menschen als etwas aufbaute, was einen körperlichen Eindruck des Verbrechers vermittelte, der gespenstisch über allem zu schweben schien, erwirkte in Born tief aufreißende Gefühle.
Er war nun nicht nur Ergründer und Mitteiler, sondern Schöpfer dieser abgründigen, seltsamen und geheimnisvoll verwegenen Persönlichkeit, die über die allgemeine Zerstörung des Hirns hinaus einen Trieb in sich lebendig zu halten vermochte.
Born benötigte nun zu seinem Vortrag keine Notizen mehr. Er war auf die tiefen und dunklen Beziehungen gekommen, die zwischen gesundem und krankem Hirn bestanden … Er legte dar, wie etwas, das bisher eine klare, glatte Grenze war, auf einen Reiz hin, gesandt von einer nicht zu ermittelnden Zentrale, im nächsten Herzschlag sich zu verwischen beginnt und das Individuum aus der Gemeinschaft der Normalen ausscheidet … wie diese allmächtige Kraft, in einer Laune Gutes und Böses schaffend, dem Betreffenden die Erkenntnis des eigenen Zustands vorenthält … und daß es gegen das Wirken der geheimnisvollen Kraft keinen Schutz und kein Heilmittel gab … daß wir Menschen ihrer Tyrannei ausgeliefert und unentrinnbar zu Taten gezwungen werden, die wir in normalem Zustand niemals begangen hätten … Schuldlose aus der Gemeinschaft der Gesellschaft auszustoßen … weil ein Teufel die Funktion eines winzigen Gehirnganges störte.
Das Verhängnisvolle sei daran: je näher ein Gehirn dem Genialen sei, um so leichter habe es der böse Geist, das Pünktchen zu treffen, von dem aus auf einmal die ordnende und sammelnde Kraft in Verwirrung gestürzt werden könne.
Born sprach bald, ohne daß ihm seine Gedanken klar bewußt wurden. Er redete wie aus dem Unmittelbaren eines tiefen und schöpferischen Prozesses in seinem Innern. Seine Zuhörer fühlten sich von dieser gespenstigen Unmittelbarkeit der Mitteilung mit Schauern übergossen, und als Born, ohne zu wissen weshalb, am Ende der vorgenommenen Redezeit aufhörte, wagte niemand sich zu erheben.
Er selber stand oben noch lange Sekunden abwesend stumm, und dann war es, als erwache er aus einem Traum. Dieses Erwachen vollzog sich so, daß er sah, wie eine zweite Erscheinung seiner Persönlichkeit, die sich neben ihm aufgestellt hatte, in ihn zurückzuschlüpfen begann.
Als sich die beiden Bilder vollkommen deckten, gewann er das klare und eindeutige Bewußtsein zurück.
»Das ist nicht möglich!« beschwor er sich im stillen, »wenn das wahr ist, was ich gesehen habe, dann bin ich nicht mehr ich … sondern geisteskrank, persönlichkeits-gespalten, im Dämmerzustand lebend … nein, ich bin nur, weil ich diese Zustände an meinen Kranken so gut kenne, übersensitiv geworden und kann mit Willen und Absicht mein Ich teilen … es ist ganz harmlos, wenn auch sehr originell: ich bin vermutlich der einzige Mensch, der mit wissenschaftlichen Mitteln in klarer Erkenntnis einen Zustand des eigenen Ichs herbeiführen kann, der sonst nur als Symptom einer Geisteskrankheit vorkommt.
Ich weiß wohl zuviel, ich sehe zuviel, und der Mechanismus der Doppelexistenz ist – für mich – so leicht zu handhaben, daß ich nun eigentlich auch imstande sein müßte, die unwillkürliche, also krankhafte Form des Zustands zu korrigieren, zu heilen. Ich muß jetzt eine genau bestimmte Therapie finden … nun, das hat noch Zeit, die Hauptsache ist, daß ich meine Fähigkeit kontrollieren kann, wenn es auch in einer Art von Selbsthypnose geschieht, grundsätzlich verschieden von der zerstörenden Macht, die Menschen geisteskrank werden läßt. Es ist etwas Ungeheuerliches, was mir da gelungen ist … ich muß vorsichtig sein, darf es nicht zu früh preisgeben …«
Gefaßt, beinahe stolz sah er über die Menge der Zuhörer hinweg, dann verbeugte er sich hastig und verließ das Podium. Nun erst war auch von den Zuhörern der Bann genommen.
Professor Born hatte einen dunkelblauen Viersitzer, den er selbst steuerte und für alle Ausgänge in die Stadt benutzte. Als er zu diesem Wagen kam, der stets an einer bestimmten Stelle, etwas entfernt vom Eingang parkte, stieß ihn der Anblick zweier Damen, die auf einmal darin saßen, aus dem benommenen Sinnen, das ihn noch immer an das Erlebnis seines Vortrages band.
Helli und die Lara begrüßten ihn. Gestört in seinem Zustand durch die unvorhergesehene Anwesenheit der beiden Damen, grüßte er hastig und etwas zerstreut zurück, horchte bei der Vorstellung der berühmten Tänzerin nur halb hin, schaute auch kaum auf und setzte sich ans Steuer.
Helli und die Lara saßen hinten. Immer noch eingesponnen in das Erlebnis beim Ende seiner Vorlesung, verrichtete er mechanisch die notwendigen Griffe, um den Wagen in Gang zu bringen. Der Motor lief. Die Kuppelung griff ein, und Born ließ den Wagen sofort mit einer gefährlichen Schnelligkeit durch die Straßen laufen. Ihn überkam dabei ein phantastisches Gefühl, als setzten dieser Wagen und dieses Tempo ihn instand, vor sich selbst davonzulaufen.
Zufällig blickte er in den Spiegel über der Windschutzscheibe.
Er erschrak. Er sah in dem Spiegel, wie ein Paar großer, fast achatgrauer Augen unmittelbar in die seinen schauten, und sie taten es mit dem lächelnden Ausdruck eines Einverständnisses, das schon lange zwischen ihm und der Frau bestehe.
Nur eine Sekunde lang lagen seine Blicke tief in denen der fremden Frau. Dann, inmitten eines Blutschwalls, der sein Gesicht rot machte und sein Herz zu schnellen Schlägen antrieb, wandte er sich ab und richtete seine Augen wieder starr auf die Fahrbahn.
In diesem Augenblick wußte er wieder, daß es in der Welt Frauen gab. Das hatte er in den letzten Jahren vergessen.
Es drängte ihn, nach Hause zu kommen und neben dieser blonden, grauäugigen Frau zu sitzen, ihre Stimme zu hören und sie anzusehen. Zum Glück überredete Helli sie gerade, zum Tee in die Villa mitzufahren.
Als er vor dem Eingang zum Haus die Tür des Wagens vor ihr öffnete und sie aussteigen ließ, war das helle Kobaltblau ihres Kleides im Grau der Stadt von einem erregenden Schimmer. Er sah auch das blaue Hütchen mit dem weißen, rückwärts geneigten Reiherstoß wie ein Blumenblatt auf dem kornblonden Haar liegen. Es schien ihm von einer lieblichen Keckheit. Aber er wagte es nicht wieder, in diese Augen zu schauen, in die achatgrauen Augen, deren Schimmer und Glanz ihn vorhin im Spiegel des Wagens so unvermutet und zärtlich angesehen hatten.
Als sie dann in dem großen Zimmer saßen und die Lara den Hut abgenommen hatte, sah er, daß dieses Haar wie ein Flaum von goldenem Moos war. Am Beginn des seitlichen Scheitels besonders hatte es eine übermäßige Feinheit, betont noch durch die spielenden Lichter der Farbe. Nie hatte er solches Haar gesehen.
Es kam ihm plötzlich die Vorstellung, er bleibe in ihrem Haargeflecht wie in einer Falle hängen, und er lächelte unwillkürlich, ja wider Willen, denn es war eher eine große Traurigkeit, die ihn ergriff, als eine Stimmung, die Anlaß zum Lächeln gab.
Die Lara schaute ihn fragend an.
»Weshalb ich lächle, wollen Sie wissen?« und er sagte ihr, was er eben empfunden hatte.
Da strahlten ihre Augen auf wie ein geschliffener Stein, den unvermutet ein Lichtstrahl trifft. Sie waren hellgrau jetzt, mit einer fernen durchsichtigen Kühle.
Born empfing einen neuen Reiz. Das Haar dieser schönen Frau verlockte nur die Phantasie. Aber ihre Augen brachten das Blut in Wallung.
Seit Jahren hatte Born keine Frau mehr gekannt. Aber heute, da sein Gemüt erregt, seine Nerven gespannt waren, spürte er die Wirkung der Fremden gewaltig. Er fühlte sein Wesen förmlich beflügelt, gesteigert, von einem heißen Hauch getroffen wie vom Glutwind einer Wüste, die sich märchenhaft mit lockenden Luftspiegelungen belebt.
Von diesem heißen Sturm erfaßt, sah er im steinernen Schimmer jener Augensterne neues Leben, neue Möglichkeiten der Erfüllung, wie sie sich ihm nie geboten hatten. Valerie Laras Körper war von weiblicher Süße, voller Gefahr und erfüllt von der stummen Verheißung eines großen Glückes.
Was Professor Born nicht bemerkte in seinem jähen verliebten Rausch, war, daß Helli ihm den ganzen Sturm der Gefühle vom Gesicht ablas und daß sie dann nur noch die Tänzerin anzuschauen brauchte, um ganz genau zu wissen, was ihrem Vater widerfahren war. Im ersten Augenblick erschrak sie ein bißchen über die Veränderung, die so schnell sein ganzes Wesen erfaßt hatte, aber dann wurde ihr doch klar, daß es ein Gewinn, eine Änderung zum Guten war, und da die Lara ihr besser als irgendeine andere Frau gefiel, war sie im Grunde froh über das Geschehene.
Hellis Liebe und Verehrung für den Vater war in der letzten Zeit oft auf harte Proben gestellt worden; mitunter hatten ihn Einsamkeit und Verbitterung fremd, unzart und unverständlich gemacht, und sie hatte zeitweise bis zu Tränen und Fluchtwünschen um ihn gelitten. Solche Ängste schienen nun für alle Zeit gegenstandslos; es war zu hoffen, daß der Vater wieder der liebende und verstehende Freund wurde, als den sie ihn seit ihren Kindertagen gekannt hatte.
Es war nun beinahe so, als sei ihr, Helli, ein großes Glück widerfahren. Denn wenn ihr Wesen auch scheu und in sich gerichtet war, – vor Tatsachen gestellt, begriff sie schnell und handelte entsprechend. Auch jetzt wieder. Der Vater und Valerie Lara sahen sie erstaunt an, als sie plötzlich aufstand.
»Ich muß wieder ins Amt«, sagte sie ruhig, »oder wenigstens an die Arbeit. Gerade in den Abendstunden werden wir am nötigsten gebraucht, gnädige Frau. Mein Vater weiß es, und Sie werden es gewiß verstehen, nicht wahr? Seien Sie also bitte nicht böse, wenn ich mich für heute verabschiede …«
»Gewiß nicht, Fräulein Helli«, sagte die Lara ein wenig verwundert und reichte ihr die Hand.
»Und lassen Sie sich bitte nicht durch meinen Aufbruch stören, gnädige Frau. Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie meinem Vater noch ein bißchen Gesellschaft leisteten.«
Professor Born und die Lara verständigten sich mit einem kurzen stummen Blick, dann nickten sie ihr zu und schauten ihr nach, bis sie das Zimmer verlassen hatte.
*
Es fand sich auf natürlichem Wege, daß nun in der Unterhaltung der beiden Alleingebliebenen die Rede auf die Vorlesung des Professors und auf seine Beschäftigung mit Geisteskranken kam. Als die Lara bemerkte, ob nicht ein Arzt, der so ausschließlich mit Geisteskranken zu leben habe, selber großen Gefahren des Geistes ausgesetzt sei, antwortete Born lächelnd, aber doch mit eingehender Gründlichkeit: »Krankheiten des Hirns haben keine ansteckenden Keime. Nicht vom Mitleben und vom Anschauen kommen die Gefahren, sondern aus dem Hineinschauen in eine Nebenwelt der Wirklichkeit, die dieselben Rechte für sich beansprucht, wie die richtige Welt. Von dem Hineinschauen in eine Welt, die ihren Ablauf oft ganz gesetzmäßig hat, aber an irgendeiner winzigen, falschgestellten Weiche unbemerkt auf das Nebengleis gerät, weiterläuft und den Weg nun für die Hauptrichtung hält.
Der Beobachter und Ergründer stellt sich oft die Frage: Ist die Weiche wirklich falsch gestellt gewesen? Hat sie nicht im Gegenteil den Betroffenen in einen weiteren Weg geworfen? In einen Weg, der ihn weit aus der Bahn des Alltäglichen führt! Das Gesetz gilt nicht für Moses und die Propheten, sagt die Bibel. Wissen wir denn, ob zum Beispiel Nietzsche nicht gerade in seinem Wahnzustand reicher war als vorher, da er noch gezwungen war, sein Inneres in Einklang mit dem Konzert der Mitwelt zu halten, die kleiner war als er?
Allerdings ist das ein Fall der Krankheit, der sich auf eine bestimmte Kategorie von Erkrankungen beschränkt. Eine große Zahl von Hirnen funktioniert aus rein mechanischen Mängeln nicht, die durch Vererbung oder erworbene Krankheiten entstanden sind. Den Arzt aber zieht es zu dem Rätsel der anderen. Mabuse gehört zu ihnen, um nur einen bekannten Fall zu nennen.«
»Ich kenne weder den Namen noch den Fall«, sagte die Lara ruhig. »Stellen Sie sich vor«, fuhr sie fort, »ich habe nie in meinem Leben einen Geisteskranken gesehen.«
»In dieser genauen Behauptung kann das nicht stimmen«, antwortete Born. »Denn es gibt in der Tätigkeit eines jeden Hirns Millionen von Abstufungen des Ablaufs, die für den Zuschauer des Augenblicks nicht als normal oder krank einzuordnen sind.«
»Halten Sie sich eigentlich für gesund?« fragte die Lara auf einmal mit einer fast rohen Schroffheit, und in ihren grauen Augen ging zugleich ein schillernder Wechsel unerkenntlicher Lichter vor.
Es ließ sich nicht erkennen, welcher Art die Wirkung war, die die plötzliche Frage auf Born hervorrief. Nur daß sie eine Wirkung ausübte, verriet sein Benehmen. Er schaute plötzlich auf und ein wenig starr vor sich hin.
»Ich?« fragte er erst nach einer Weile. Dann schwieg er wieder, und die Lara belagerte mit ihren Augen sein Gesicht. Nach kurzer Zeit sagte Born, ohne besondere Wichtigkeit oder Dringlichkeit, sondern sehr einfach und fast im Ton der alltäglichen Feststellung: »Als meine Tochter mich Ihnen vorstellte, habe ich Sie nicht angeschaut. Ohne persönlichen Grund. Es war nur eine Folge äußerer Umstände. Als ich im Spiegel meines Wagens dann Ihre Augen in die meinen gerichtet sah, war ich erschrocken. Meine ersten Beziehungen zu Ihnen brachten mir also ein Gefühl des Scheuens, der Furcht. Seitdem ich aber mit Ihnen hier im Haus zusammen sitze, hat diese Empfindung einem übermäßig quellenden Strom von Gefühlen, Wünschen, Vorstellungen, Erregungen, die alle um Sie kreisen, Platz gemacht. Erregungszustände heben stets den normalen Ablauf der Gehirntätigkeit auf und bilden kleine geistige Fieber. Fieber jedoch sind die Botschaft einer Erkrankung an das Blut, als Träger des Lebens.«
Born schwieg und sah die Frau an. Seine Augen, die zwischen zwei Farben wechselten, waren jetzt grün, und mit lastender Eindringlichkeit forschten sie in dem schönen Frauengesicht. Die Lara war aufgestanden und ihm mit einer unmerklichen Bewegung näher getreten.
Da nahm er auf einmal ihre beiden Hände, beugte sich nieder und drückte sein Gesicht hinein. Er stieß einen ungeduldigen leisen Ton aus, wie einen Ruf.
Auch aus dem geschwungenen Mund der Lara kam ein Laut wie von einer freudigen und in der Freude leidenden Wollust. Einen Augenblick lang sah es aus, als wolle sie ihr Gesicht zu dem Kopf niederneigen, der sich in ihre Hände flüchtete. Aber der Laut verstummte sofort. Durch ihre Augen fuhr das Aufschimmern eines Triumphes. Ihr schlanker Körper reckte sich ein wenig gerade.
Sie ließ Born die Hände und fühlte in ihren inneren Flächen die Form seines Gesichtes, der Augenhöhlen, der Nase und der Lippen … und die Wärme seines Atems.
»Professor Born!« sagte sie endlich leise und mit einem fragenden Mahnen.
Born richtete sich auf.
Er schien ruhig, gestillt und ernst.
Unvermittelt sagte er: »Ich möchte Ihnen diesen Doktor Mabuse zeigen. Ausschließlich ihm haben meine letzten drei Jahre gehört.«
Plötzlich klang seine Stimme ungeduldig und so, als ob es unmöglich sei, daß die Frau seinem Wunsche Widerstand entgegensetzen könne: »Kommen Sie, Frau Lara. Nehmen Sie Ihren Mantel, wir gehen gleich hinüber!«
In seinen Augen war es eine besondere Auszeichnung für die Besucherin; ließ er doch sonst, außer den Wärtern, niemanden zu dem Kranken.
Die Tänzerin schien das auch zu begreifen, denn sie gehorchte, ohne etwas einzuwenden, und folgte ihm stumm aus dem Zimmer. Born konnte nicht sehen, daß für einen Augenblick ein kleines Lächeln um ihren Mund spielte und schnell wieder verschwand.
Borns Villa lag außerhalb der hohen Mauer, die die Anstalt von den umliegenden Straßen absonderte. Durch einen Garten, wo im Sommer Blumen blühten, führte ein Weg auf eine Tür in dieser Mauer. Eine elektrische Lampe hing an einem Träger darüber. In ihrem Licht tanzte ein wenig Schnee, als Born und die Lara auf die Tür zugingen.
Jenseits der Mauer waren schmale Anlagen, aus denen Gebäude in die Dunkelheit ragten. Sie traten in das erste ein, das zugleich das größte war. Der Türwächter grüßte, indem er hinter dem Fenster seiner Loge aufstand und sich verbeugte.
Sie stiegen eine Treppe hinan, kamen in einen Flur. Die Lara las auf einer Tür in erhabenen weißen Buchstaben »Verwaltung«.
Am Ende des Flurs schloß Born mit einem Schlüssel, den er inmitten anderer an einem Bund trug, eine Tür auf. In dem breiten Flur, in den sie jetzt eintraten, standen einige Männer herum oder gingen auf und ab. Ein Wärter grüßte und trat heran.
»Rufen Sie Dominik!« sagte Born zu ihm. Während der Wärter sich entfernte, wandte Born sich an die Lara: »Sie brauchen sich nicht zu ängstigen. Es sind alles harmlose Kranke.«
In diesem Augenblick trat von einem der Fenster her ein Patient an Born heran: »Mein Name ist Hoffmeister! Herr Professor wissen schon, nicht wahr? Kriminalinspektor Hoffmeister … Darf ich fragen, wann ich freikomme?«
»Weshalb wollen Sie denn nicht noch ein bißchen bei uns bleiben?« fragte Born gemütlich.
»Es besteht gar keine Ursache dazu, Herr Professor. Ich fühle mich ja vollkommen gesund.«
»Gefällt es Ihnen nicht bei uns? Sind wir nicht nett zu Ihnen?«
»Ich muß freikommen, Herr Professor. So bald wie möglich. Die Störung ist völlig vorbei. Ich habe eine wichtige Angelegenheit mit der Polizei zu regeln. Es handelt sich um eine Entdeckung, die ich vor meiner Einlieferung gemacht habe, und die die Polizei kennenlernen muß, damit größerer Schaden verhindert wird …«
»Ja, ja …«, sagte Born nur, »… wir sprechen noch darüber. Kommen Sie, Frau Lara!«
Er zog die Frau mit sich, und als sie einige Schritte gegangen waren, erklärte er leise: »Ein typischer Fall, sehen Sie: Völlig gesunder Mensch, mit normaler Begabung, bis auf die Tatsache, daß er ein Verbrechen aufgedeckt zu haben glaubt. Dieser Wahn ist nun vorherrschend in ihm und bestimmt sein ganzes Denken und Fühlen.«
»Ist er heilbar?«
»Gewiß! Durch sorgsame Behandlung, durch die Zeit, durch Zufälle … die auf das Zentrum, von dem die Störung ausgeht, heilend einwirken und ihre Ursachen wieder beseitigen.«
Der Wärter Dominik kam durch die Tür am anderen Ende des Flures.
»Was macht er?« fragte der Professor.
»Wie immer, Herr Direktor.«
»Wir wollen zu ihm. Schließen Sie auf.«
Sie verließen den Flur auf der anderen Seite und gingen nun stumm hinter dem Wärter her. Bald kamen sie wieder an eine verschlossene Tür. Der Wärter öffnete sie, und sie traten in einen Durchgang, der anscheinend zwei Häuser miteinander verband. Ein Wärter saß auf einem Stuhl und erhob sich schwerfällig. Es war ein riesenhafter Mann mit einem Gesicht, das kaum geformt zu sein schien. Nur die Augen, die zu klein waren, hatten den Ausdruck eines ständigen Zorns.
Die Lara schaute ihn ein wenig erschrocken an.
»Guten Abend!« sagte Born. »Nichts Neues?«
»Nichts!« antwortete der Wärter kurz und mit unfreundlicher Stimme.
Inzwischen hatte der Wärter, der sie begleitete, die zweite Tür aufgeschlossen, auf die der Durchgang mündete. In der Öffnung dieser Tür wurde ein Gitter aus eng aneinanderstehenden dicken Eisenstäben sichtbar, das einen beleuchteten leeren Flur absperrte.
»Wir kommen jetzt in das sogenannte feste Haus«, sagte Born zur Lara. »Darin sind die vom Gericht überwiesenen kriminellen Verbrecher und solche, die verurteilt, aber wegen ihres Geisteszustandes in Irrenpflege gegeben werden mußten, untergebracht. Auch Mabuse wohnt hier. Wir sind gleich da. Ich bitte Sie, sich nicht im geringsten zu ängstigen. Die Überwachung ist sehr streng und sichert Sie vor jeder Gefahr.« Er wandte sich an den Wärter: »Danke, Dominik, ich brauche Sie nicht mehr.«
Dann schloß er die erste Tür auf und ging voran in eine kleine Kammer, in der über einem Bett in der Decke ein Licht brannte. Das Licht schien auf einen Mann, der halb aufrecht im Bett saß. Der erste Blick, den die Lara in den Raum warf, traf diesen Menschen. Sie sah zunächst nur die wild zerzausten, schneeweißen Haare. Dann erschien darunter ein graues Gesicht, das aussah wie ein Stück verdorrter Wiese. Das Gesicht veränderte Ausdruck und Haltung nicht, als sie eintraten. Es war tief auf die Brust gebeugt und völlig reglos.
Zuerst erschienen die Augen geschlossen. Aber bald war zu erkennen, daß sie einen Spalt weit geöffnet waren und auf einen Block niederschauten, der auf der Decke des Bettes lag und auf dem die Hand des Mannes mit langsam steilen und beharrlichen Zügen einen Bleistift führte.
»Ist er das? Mein Gott!« flüsterte die Lara.
»Sie können laut sprechen«, sagte Born. »Er nimmt uns nicht wahr. Ja, es ist Doktor Mabuse.«
Mabuse lag da und führte den Bleistift automatenhaft, fast sah man die Bewegung nicht. Außer der schreibenden Hand war alles starr und tot in ihm.
»Was schreibt er?« fragte die Lara.
»Sein Testament. Er schreibt es seit drei Jahren, mit mehr oder weniger langen Unterbrechungen. Fünf Jahre lag er ohne jede Tätigkeit da. Auf einmal begann er. An der Wand sehen Sie noch die Überreste der ersten Versuche. Er hatte sich die Fingerspitzen aufgebissen, um mit Blut zu schreiben. Ich habe es als Dokument an der Wand gelassen. Es war, als sei ein Geist von den Toten auferstanden.«
»Und … was steht in diesem … Testament?«
»Eine Enzyklopädie des Verbrechens.«
Die Lara schauerte zusammen, doch in ihren Augen erschien zugleich ein gieriger Ausdruck.
Plötzlich riß Mabuses Hand eines der Blätter vom Block und ließ es auf dem Bett liegen, wo es hingeglitten war. Born trat heran und nahm es, indem er sich ein wenig über den Kranken niederbeugte, um es erreichen zu können.
Als er sich wieder aufrichtete und das Blatt in die Tasche steckte, schaute die Lara ihn an. Sie sah ein Gesicht, das sich in den kurzen Augenblicken dieser Verrichtung völlig verändert hatte. Aus Borns Zügen war die jugendlich heftige Spannung gewichen, die Augen hatten jetzt etwas Abwesendes, etwas, was sich verbarg. Sie sahen aus wie zwei Opale aus unpoliertem grünem Gestein. Die Tänzerin schaute mit einer erschrockenen Gier hinein. Aber Borns Augen schienen ihre Blicke nicht zu gewahren. Sie hatten sich in ein unterirdisches Land zurückgezogen. Sie irrten einmal über das Gesicht der Frau und richteten sich dann wieder zurück zu dem Kranken im Bett.
Erst als die Lara ihn anredete, schüttelte Born leicht den Kopf und reckte sich aus der eingesunkenen Haltung auf. Als er sich ihr zuwandte, waren auf einmal der Glanz seiner Augen und die gestrafften Gesichtszüge wieder da.
»Gehen wir!« flüsterte die Lara. Sie fühlte sich von einer unheimlichen Erregung befallen. Sie zog schaudernd den Pelzkragen ihres Mantels höher. Ein fremder Druck lastete auf ihrem Hirn. Sie wehrte sich vergeblich dagegen.
Sie gingen denselben Weg zurück. Born war plötzlich von einer liebesheißen Besorgtheit um sie. Mit flammender Zärtlichkeit betrachtete er oft sekundenlang ihr Haar und berührte ihre Hand mit der seinen.
Als in dem Flur, wo sich zwischen den anderen Kranken Hoffmeister aufhielt, dieser wieder auf sie zutrat, winkte ihm Born mit großer Heftigkeit ab. Hoffmeister bestand jedoch auf einer Aussprache.
»Sie dürfen mich nicht länger hinhalten!« rief er. »Ich bin anderswo notwendiger.«
»Darüber, wo Sie sich aufhalten müssen, habe ich zu bestimmen«, entgegnete Born mit befehlender Schärfe. Und als Hoffmeister sich an den Weitergehenden hängen wollte, winkte Born dem Wärter. Dieser hielt den Kriminalinspektor zurück, und Born und die Lara verließen den Raum.
»Verzeihen Sie mir«, sagte Born, »daß ich Sie diesem Auftritt aussetzen mußte. Schärfe ist manchmal notwendig bei ihnen.«
Er führte sie in seinen Arbeitsraum, ein großes, streng eingerichtetes Zimmer. Die Wände waren mit schmalen glatten Schränken verbaut. Tische und Sessel waren aus Stahl und einem gebeizten dunklen Holz. Ein großer eiserner Schrank war halb in die Mauer eingebaut.
Zu ihm ging Born. Er öffnete ihn und kam mit einem dünnen Aktenbündel zum Tisch zurück. Er legte es vor die Lara hin.
»Was Mabuse von seinem Testament bisher geschrieben hat!« sagte er dazu. Er nahm das Blatt, das er vom Bett aufgelesen hatte, aus der Tasche und legte es auf die anderen. »Das hat er heute geschrieben, Sie waren dabei.«
In diesem Augenblick ging das Telefon. Die Lara hörte, wie er antwortete: »Zu mir?« Er warf zugleich einen Blick auf das aufgeschlagene Papierbündel. »Einen Augenblick«, sagte er dann hastig, legte den Hörer auf den Tisch und schickte sich an, nach den Papieren zu fassen. Aber er unterbrach die Bewegung, nahm das Sprachrohr wieder auf und sagte: »Er soll im Wartezimmer auf mich warten. Ich komme gleich.« Höflich entschuldigte er sich bei der Lara und verließ das Zimmer.
Die Tänzerin schaute auf das Bündel Papiere und deckte ihre Hand darüber, als wolle sie es mit dieser Bewegung in Besitz nehmen. Dann schüttelte sie erstaunt den Kopf. Sie schaute zerstreut und wie gelähmt weg. Schließlich zwang sie sich, das Blatt zu lesen, das Born aus der Tasche gezogen und auf die anderen gelegt hatte:
Tiefer als Attentate gegen die politischen Bestrebungen wirken solche gegen die Grundlage des täglichen Daseins: das Geld. Es müssen Mittel gefunden werden, die Börsennotierungen unsicher und fragwürdig zu machen. Durch künstliches Eingreifen, zum Beispiel fingierte Käufe, im letzten Augenblick zurückgezogene Aufträge, können die Kurse zum Stürzen gebracht werden. Andererseits kann auch durch falsche Nachrichten oder zu spät erfolgte Widerrufe ein Spekulationsfieber erzeugt werden. Durch geschickte Manipulationen im Börsenteil der Tageszeitungen, besonders der Morgenblätter und der Spätabend-Ausgaben, können Vermögen zerstört und Menschen ruiniert werden, können Begriffe wie ›Kapital‹ und ›Werte‹ ausgelöscht werden. Das Wesentliche ist nicht das Schicksal einzelner Börsenpapiere, sondern die allgemeine Unzuverlässigkeit der preisbildenden Nachrichten. Durch systematische Falschmeldungen immer zu erzwingen. Technische Mittel: Zerstörung oder Mißbrauch der Fernsprech- und Telegrafenanlagen. Die nachfolgende Verwirrung eignet sich gut zum Ausstreuen entscheidender Gerüchte mit politischem Hintergrund …
Die Lara wandte die Augen zur Tür, weil sie draußen jemanden vorbeigehen hörte. Aber Born kam nicht zurück, es blieb alles still, und nur ihren eigenen Atem hörte sie.
Da stand sie nun, sozusagen am Ziel, sie brauchte nur zuzugreifen … Und dann?
Sie dachte zurück, wie sie mit raffinierten Vorarbeiten zuerst Helli Born, dann ihren Vater kennengelernt hatte. Ihr Auftrag betraf übrigens bloß den Professor, und es war Zufall gewesen, daß sie die Tochter des Mannes hatte verwenden können, um die befohlene Beziehung herzustellen. Die Tänzerin war vor einem Jahr in Paris das Opfer einer kleinen Gruppe von Männern geworden, die sie für internationale Verbrecher halten mußte. Sie hatte nicht einen einzigen davon zu Gesicht bekommen, und im Anfang waren die Aufträge, die man ihr zukommen ließ, ganz leicht gewesen. Genaugenommen waren sie es immer gewesen, bis zuletzt, den jetzigen nicht ausgenommen. Einen bedeutenden Arzt kennenzulernen, war ja nicht schwer und ganz und gar ungefährlich.
Und was hatte ihr, vor zwei Wochen in Bukarest, ein Professor namens Born bedeutet? Er mochte in den engsten Beziehungen zu ihren Auftraggebern stehen oder tödlich mit ihnen verfeindet sein – was ging es sie an?
Freilich war sie von anderer Seite vertraulich gewarnt worden: es gehe gar nicht um den Professor Born, sondern um den Doktor Mabuse, der sich in Borns Klinik befinden solle, obgleich er offiziell für gestorben gelte. Man hatte ihr von der früheren Wirksamkeit Mabuses erzählt, von seinen ausgedehnten Organisationen, seinen Beutezügen, die in die Millionen gegangen waren, von seiner Skrupellosigkeit, die Dutzende oder Hunderte seiner Helfer, wenn sie nicht aufs Wort pariert hatten, ins Zuchthaus gebracht, ja in den Tod gejagt hatte … Und nun war auf einmal der Auftrag »Born« gar nicht so harmlos, konnte sich rasch sehr leicht ins Gefährliche entwickeln. Denn ihre, Valerie Laras, Auftraggeber, wußten ziemlich viel über den jetzigen Zustand Mabuses, sie wußten sogar, daß er eine Art Testament schrieb, dessen einzelne Hinweise von noch unbekannten Gruppen oder Personen ausgeführt wurden … und dieses Testament sollte sie, wenigstens in Abschrift, zur Stelle schaffen. O nein, es war kein harmloser Auftrag mehr, er konnte, wenn man nicht sehr geschickt war, das Leben kosten …
Und das Entscheidende: Professor Born war nicht, wie sie geglaubt hatte, irgendein älterer Herr, dessen Schicksal sie kalt lassen würde, ganz gleich, welche Wendung es etwa durch ihr Eingreifen nehme. Seit sie gesehen hatte, welche Gefühle sie in ihm durch die Wirkung ihrer Persönlichkeit aufgewühlt hatte, konnte er ihr nicht mehr gleichgültig sein. Sie liebte ihn nicht, natürlich nicht, aber sie spürte dunkel, daß sie fortan für vieles verantwortlich war, was er tat. Ihre Nähe hatte ihn verändert. Hatte seine Nähe auch sie verändert?
Sie wußte es noch nicht, sie kannte sich eigentlich zu wenig. Was sollte werden, wenn sie sich eines Tages eingestehen mußte, daß sie ihn liebte? Es war nicht wahrscheinlich, aber unmöglich war es doch auch nicht …
Jedenfalls kam viel darauf an, ob Born und sie an der gleichen Front kämpften, nebeneinander, oder ob sie durch Machtspruch ihrer Herren Gegner waren, Feinde. Welche Möglichkeiten zu furchtbaren Konflikten gab es da! Konnte sie dem allen noch entrinnen?
Die Lara überschaute in Gedanken den Weg, den sie aus der Villa in dieses Haus, die Treppe hinauf, draußen durch den Flur geführt hatte. Sie brauchte nur das Bündel Papiere in ihre Handtasche zu stecken und diesen Weg zurückzugehen. Dann gehörte es ihr. Dann waren ihre Aufgabe und der Auftrag erfüllt …
Sie stritt nicht einmal mit sich. Weshalb tat sie es nicht? Sie wußte keine Antwort darauf. Nur ganz tief im Dunkel ihres Innern war ein schmales Licht, das auf Born niederleuchtete. Er war mit in das Geheimnis gezogen, das sie vor diesen Schriften lähmte. Was in ihr vorging, vermochte sie nicht zu erkennen. Alles arbeitete da unten wie von Fieberwellen gestoßen. Sie trieben das Bild herauf, wie Born sein Gesicht in ihre Hände hinabpreßte, und in diesem Augenblick hörte sie die Tür sich öffnen und wieder schließen. Hastige Schritte näherten sich ihr. Sie schloß nochmals die Augen und fühlte fast in demselben Augenblick zwei Arme ihre Schultern umspannen und ein Gesicht an dem ihrigen.
Mit einer eindringlich flüsternden Stimme sagte Born: »Bleib! Verlaß mich nicht!«
Sein Atem berührte warm ihre Schläfe.