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Manche Menschen, deren Leben reibungslos auf einer ruhigen Mittellinie verläuft, fallen in eine Art von beständigem Winterschlaf. Sie verrichten ihre Aufgaben wohl gewissenhaft, aber mit einem leidenschaftslosen Ausschalten ihres Inneren. Mit sanft geneigtem Kopf gehen sie gegen ihren täglichen Dienst an, und ein Erheben der Stimme scheint ihnen drohend etwas aufscheuchen zu wollen, was im Innern, im Dunklen, ruhen bleiben sollte. Sie wissen nicht, wodurch dieses Gesetz der Lauen Herrschaft über ihr Inneres gewann.
Ja, sie wissen nicht einmal, daß sie sich sozusagen hinter diesem Winterschlaf ihrer Leidenschaften nur versteckt halten.
Bis ein Zufall eines Tages ihnen ein Ereignis zwischen die Beine wirft; dann, im Stolpern, erkennen sie auf einmal die Glut, die aus der Asche wieder auflodern möchte.
So erging es Hoffmeister. Er war bisher ein Beamter gewesen, der seine Pflichten erfüllte. Er tat es mit Intelligenz, aber ohne Besessenheit, und das tägliche Frühstück, das ihm aus der kleinen Bierkneipe an den amtlichen Schreibstubentisch gebracht wurde, war ihm nicht bedeutungsloser als die Aufdeckung einer verborgenen Spielhöllenkneipe.
Das Frühstück war Pflicht gegen Körper und Gaumen, das andere gegen sein Amt.
Aber jetzt, da er über seine Lässigkeit gestolpert war, ergriff etwas Neues, etwas, was jähzornig aus einem inneren Versteck hervorschoß, Besitz von ihm. Ihm war, als ob eine unsichtbare Faust ihn aus sich selber hervorrisse.
Und nun war er wie ein Jagdhund. Nun, da er sich wirklich seiner Gemütlichkeit ganz hätte hingeben können, ja sollen, um neue Kräfte zu sammeln, raste er herum und beschnüffelte mit überhitzter Nase vertrocknete und verrochene Spuren.
Sein Blut stand im Siedepunkt, tagaus und tagein: er wird die Falschmünzer finden. Etwas anderes kannte er nicht mehr.
Er ging den neuen Weg von dem Abend in der heimlichen Spielhölle aus. Aus diesem Abend war ihm eine Erinnerung geblieben. Sie begann mit einem Namen: Kent.
Deutlich stand er vor ihm. Allmählich und in hartnäckigem Kampf gegen die durcheinander bewegte Masse der Erinnerungen fand er in seinem Gedächtnis auch den Mann wieder, der zu diesem Namen gehörte.
Seine Erinnerungen lösten immer bereiter diesen Namen aus, und zugleich stellte sich das Bild eines straffen jungen Mannes ein, der mit einem gutgeschneiderten Smoking bekleidet war und sich in der aus Menschen, Stimmen, Qualm und Alkoholdunst, Gerüchen und Erregung gemischten Atmosphäre des Lokals in der Bendixstraße bewegte.
Es war ein schlanker, blonder, vielleicht dreißigjähriger Mensch von Haltung, zusammengerafft im Aussehen, mit einem schmalen Pferdekopf. Sein Name, Kent, war der einzige, den Hoffmeister in dieser Nacht in der Gesellschaft gehört hatte, und dieser Kent war überall gewesen. Aber er war überall nur dazwischengewesen, hatte Fragen beantwortet, Wünsche erfüllt, Zwiste geschlichtet, den Partner zu einem Scherz oder einer Unterhaltung abgegeben, ohne jemals sich unmittelbar an dem Treiben der Gesellschaft beteiligt zu haben.
So hatte Hoffmeister jetzt nachträglich die Empfindung, dieser Name und sein Träger hätten in dem Lokal eine besondere Rolle gespielt. Nicht, als ob dieser Kent nun gerade als der Unternehmer des Lokals angesprochen worden wäre. Aber er war ein Geist, der in dieser unterirdischen Anstalt heimisch und leitend war.
Als Hoffmeister sich immer schärfer besann, stellte sich heraus, daß sein Gedächtnis eine Bewegung des Kellners aufbewahrt hatte, der ihm die beiden falschen Scheine gegeben … nämlich die, als habe sich dieser Kellner zunächst an den hinter ihm stehenden Kent gewandt, um sich von ihm die zwei Scheine geben zu lassen.
Ja, die Erinnerung an diese Bewegung des Kellners kam ihm immer deutlicher und stand bald genau und festumrissen in Hoffmeisters Hirn.
Er konnte nicht umhin, sich schwere Vorwürfe zu machen, und zwar die, daß er zu lässig gewesen war. Er hatte die beiden Geldscheine mit der Wahrscheinlichkeit oder zumindest der Möglichkeit, daß es gefälschte waren, in Empfang genommen. Wohl sagte sich Hoffmeister, daß er auch nichts erreicht hätte, wenn der Kellner festgenagelt worden wäre.
Der Kellner hätte die Ausrede leicht gehabt, die Scheine selbst von einem unbekannten, inzwischen verschwundenen Gast bekommen zu haben.
Aber da sie vom Manager selbst kamen, von diesem Gentleman … diesem Pseudokavalier Kent!
Das wäre die Gelegenheit gewesen, zum erstenmal einen mittelbar, wenn nicht unmittelbar Beteiligten festzunehmen.
Welche Fahrlässigkeit, daß er es nicht getan hatte. Welch unverzeihliches Versagen! Er mußte an sein Gabelfrühstück gedacht haben. Es gibt keine Entschuldigung, warf er sich vor. Sein Chef hatte recht gehabt, ihn zwangsweise zu beurlauben und damit zu maßregeln.
Aber wenn er auch keine Entschuldigung fand, so hatte er wenigstens einen Trost, denn es war für die weitere Arbeit, die er trotz seines Urlaubs leisten wollte, leisten mußte, wenn ihm etwas an seiner Rehabilitation lag, keine geringe Hilfe, daß er diesen Namen und den dazu gehörenden Mann kannte, der mit großer Wahrscheinlichkeit in der Angelegenheit, die zu klären Hoffmeister nun all seine Leidenschaft einsetzte, eine Rolle spielte.
Er sann auf Mittel und Wege, was er anzustellen hätte, um diesem Kent wieder zu begegnen. Wohl vermochte nur ein Zufall diese Erfüllung zu bieten. Aber auch Zufällen konnte man in die Hände arbeiten.
Eine Möglichkeit allerdings fiel von vornherein für ihn aus, nämlich die, daß dieser Kent für die Kriminalpolizei kein unbeschriebenes Blatt mehr war, daß man also eventuell über seine Dienststelle Kents Anschrift oder sonstige wichtige Anhaltspunkte würde erfahren können. Doch der Kriminalrat hatte Hoffmeister den ernsten Rat gegeben, sich nun auch wirklich nur zu erholen, im dienstlichen wie im eigenen Interesse, und sich um Gotteswillen während seines Urlaubs nicht mit irgendwelchen Fachproblemen herumzuschlagen.
Aber Hoffmeister wußte, daß es zunächst die Scharte auf dem Schild seiner Berufsehre auszuwetzen galt. Immerhin konnte er über seine Dienststelle die Ermittlungen nicht vorantreiben, wenn er sich seine Vorgesetzten nicht vollends verärgern wollte.
So begann Hoffmeister nach einem bestimmten Schema einzelne Gegenden der Stadt, wo Abwegige sich mit Vorliebe herumtrieben, ganze Nächte hindurch zu durchstreifen und zu beobachten. Auch die geheimen Lokale mußten ihre Kunden erst finden, und dazu mußten sie sie mit Helfern suchen, die gezwungen waren, sich sichtbar zu machen.
Hoffmeister hatte einige glückliche Erfahrungen darin, weil sein sanftes, gepflegtes Aussehen, das auf die Provinz deutete, ihn dabei unterstützte. Doch wenn er den Kopf auch immer noch leicht geneigt trug, so war schon neue Willenskraft in die so zaghaft scheinende Haltung hineingeschossen.
Er verrichtete tagelang schwere, aber vergebliche Arbeit.
Eines Nachts jedoch stellte er sich in die Tür eines finsteren Hauses, um von dort aus unbemerkt eine Straße beobachten zu können, in der ihm eine sonderbare Tatsache aufgefallen war:
In dieser Straße befand sich nämlich eine Garage mit einer Benzinpumpe, die beide immer finster waren und an denen sich nie weder ein Mensch noch ein Wagen zeigte. Hoffmeister stand in der Haustür schräg gegenüber der Pumpe.
Alles an der Garage schien verlassen zu sein. Das Tor war verschlossen. Und doch sah es aus, als seien Pumpe und Tor in Pflege und Benutzung.
Es war eine lange, etwas dunkel beleuchtete Verbindungsstraße zwischen zwei hell strahlenden Verkehrsadern außerhalb der belebten Viertel.
Eintönige Ruhe herrschte, es fuhren keine Straßenbahnen durch und nur selten eine Kraftdroschke.
Hoffmeister überlegte sich: was führt denn diese Pumpe für ein Dasein? Wenn alles zu und niemand da ist, der Benzin verkauft, und wenn sie doch benutzt zu werden scheint?
Er sah auf seine Uhr und stellte fest, daß es auf Mitternacht zuging, daß es also die Zeit war, wo die beiden hellen Straßen, die an den Mündungen derjenigen, in der er stand, vorbeigingen, ihren Hochbetrieb begannen.
Seit einer Weile war kein Wagen mehr vorbeigekommen. Auch keine Menschen. Die Stille kreiste mit einem leisen Rauschen in seinen Ohren. Plötzlich war ihm, als ob sein Gehör einen leisen steten Lärm auffinge.
Er horchte schärfer.
Der Lärm wurde deutlicher. Ununterbrochen, mit einem fernen Brummen, stand er um ihn.
Hoffmeister legte das Ohr an die Haustür, an der er stand, und nun hörte er nicht nur den Lärm, er spürte an Ohr und Backe, die am Holz lagen, ein sachtes Schüttern.
Sein Herz machte einen heftigen Schlag.
In diesem Haus geht eine Maschine, sagte er sich. Er bückte sich zum Schlüsselloch nieder, bemühte sich, das Auge an die Öffnung zu bringen, und schaute in Finsternis.
Doch zugleich geschah es, daß der Lärm deutlicher wurde und näher kam.
Nur einige Sekunden lang. Plötzlich war er wieder fern und zart. Da erschien in der Finsternis, in die Hoffmeister durch das Schlüsselloch starrte, ein schwankendes, kleines Licht. Zugleich hörte er ein knirschendes Geräusch.
Hoffmeister schnellte zurück, drückte sich an der Wand des Hauses entlang, hastig und jedes Geräusch vermeidend, bis zur Tür des Nachbarhauses. Er klemmte sich tief in ihre dunkle Nische.
Kaum wagte er wieder zu atmen, als er sah, wie das Tor der finsteren Garage drüben aufging. Im selben Augenblick schob sich geräuschlos ein Wagen heraus, und vom Nachbarhaus trat eilig ein Mann auf die Straße und auf den Wagen zu.
Hoffmeister stand fast gegenüber.
Als der Mann das Licht am Schaltbrett für eine Sekunde andrehte, erkannte er – Kent.
Der Wagen entfernte sich. Das Tor der finsteren Garage war sofort wieder geschlossen worden. Hoffmeister stand in seine Ecke gepreßt. Er hatte heiße Schläfen.
Er hörte in der engen Türnische sein Herz mit verzögerten hölzernen Schlägen klopfen und mußte das Gefühl einer würgenden Angst bemeistern, bevor er sich der Bedeutung seiner Entdeckung mit einer tiefen Freude hingeben konnte.
Welche andere Kombination war möglich, als daß Kent einer der Agenten der Falschmünzer war und daß die falschen Scheine in dem Haus hergestellt wurden, an dessen Tür er die Maschine hatte gehen hören?!
Vorsichtig löste er sich aus der Tür und ging gleich auf die andere Straßenseite, um nicht von der Garage aus gesehen zu werden. Er überschaute das verdächtige Haus, prägte es sich gut ein, merkte sich Einzelheiten, die Nummer, und ging heim. Er mußte sich vergewissern, ob seine Vermutungen richtig waren.
Was er als nächstes zu tun hatte, war klar: er mußte, ohne gesehen zu werden, in das Haus hineinkommen, und zwar ehe die Insassen den geringsten Verdacht schöpfen konnten. Argwöhnten sie erst, daß jemand ihrem Treiben auf der Spur sei, so war es schon zu spät. Um das zu erreichen, mußte er, Hoffmeister, die Ein- und Ausgänge des Hauses und die Leute, die sie benutzten, genau kennenlernen.
Er besorgte sich Dietriche und andere Instrumente und versuchte gleich am nächsten Morgen an allen Schlössern, die ihm zugängig waren, ohne daß er gesehen werden konnte, ob er noch die alte Geschicklichkeit habe. Er machte jetzt täglich solche Übungen. Dann ging er zu der Gasse, durchschlenderte sie und sah nach, ob nicht ein Zimmer in der Nähe des Hauses zu mieten sei.
Bei Tage zeigte sich das Haus wie alle anderen. Ja, es schien sogar bewohnt zu sein, denn an den Fenstern hingen Vorhänge. Es war ein dreistöckiges, verrußtes altes Gebäude. Die Garage blieb den Tag über wieder geschlossen.
Hoffmeister fand etwa hundert Schritte weiter, an der Ecke einer Sackgasse, doch dem Haus zugekehrt, ein kleines Hotel. ›Hotel Kosmos‹ hieß es. Der Kommissar besah sich die Zimmer. Im zweiten Stock war das Eckzimmer frei. Er zog gleich am Nachmittag ein.
Nach einigen Tagen des Beobachtens, nachts mit Hilfe eines Feldstechers, hatte er folgende Feststellungen gemacht: Das Haus schien doch nicht richtig bewohnt zu sein. Er sah nie ein Kind oder eine Frau herauskommen. Erkundigungen im Hotel und bei Einwohnern der Straße ergaben keine weiter verwertbaren Anhaltspunkte.
Das Haus stände leer, behauptete man im Hotel. Es gehöre einem alten wunderlichen Kauz, der sich nur selten sehen lasse. Ein altes, den ganzen Tag zum Fenster herausschauendes Mütterchen glaubte, das Gebäude sei von einigen Junggesellen bewohnt, die aber nur selten hier seien. Jedenfalls wäre nur hin und wieder jemand zu sehen.
Da sich jedoch in fast allen Häusern dieser engen Straße kleinere handwerkliche und kaufmännische Betriebe eingerichtet hatten, gab es nur eine geringe Anzahl von Wohnungen und somit auch nur wenige Menschen, mit denen Hoffmeister sprechen konnte.
Die Fenster des Hauses wurden nie geöffnet. Hoffmeister bemerkte nie Licht dahinter. Aber aus dem Schornstein kam zu unregelmäßigen Zeiten Rauch. Stets gegen Mitternacht verließ jemand das Haus und fuhr mit einem Auto, das mit nicht angestelltem Motor aus der Garage geschoben wurde, davon. Es war nicht immer Kent. Es waren verschiedene Männer, die das Auto lenkten. Die Nummer des Wagens war jedesmal eine andere. Hoffmeister schrieb sie sich auf. Um drei Uhr morgens kamen zwei Männer die Straße herauf und gingen in das Haus. Um sechs Uhr verließen zwei andere Männer das Haus.
Während des Tages war nichts zu sehen. In den Abendstunden, einmal um acht, einmal um neun, kam jemand eilig aus der Garage und ging ins Haus. Die Garage mußte einen zweiten Ausgang haben, denn nie fuhr ein Wagen vor, während jede Nacht einer sie verließ.
Hoffmeister fuhr fort zu beobachten, und er stellte im Laufe von acht Tagen fest, daß sich alles regelmäßig wiederholte. Er kombinierte jetzt folgendermaßen:
Der Mann, der abends kam und mitternachts das Haus verließ, nahm die hergestellten Geldscheine mit. Die zwei Männer, die um drei kamen, lösten andere ab, die erst um sechs gingen, damit nicht durch ein unnötiges Zuviel des Nachts die Aufmerksamkeit von Nachbarn geweckt werde, die vielleicht aus Zufall nachts aus dem Fenster schauen. Die beste Zeit für Hoffmeister, in das Haus zu gelangen, lag kurz nach drei, wenn die zwei Angekommenen noch nicht recht darin und die, die sie ablösten, von der langen Arbeit müde waren oder wohl irgendwo im Hause schliefen.
*
Kent ging die Potsdamer Straße hinunter, am Nachmittag, kurz vor Eintritt der Dämmerung. Man hätte ihn heute vielleicht älter als Dreißig geschätzt, hätte ihm bei dem tiefen, ja düsteren Ernst, den sein Gesicht ausdrückte, kaum geglaubt, daß er noch jung und gesund war, daß er keine Not litt und weit mehr verdiente als die meisten Menschen. Am allerwenigsten hätte man vermutet, daß dieser großgewachsene, magere Mann bloß ziellos spazierenging, um vielleicht – einem bestimmten jungen Mädchen zu begegnen.
Kent kannte die junge Dame nicht, wenigstens wußte er ihren Namen nicht oder nur höchst ungenau. Er hatte sie ein einziges Mal gesehen, vor Monaten, und zwar im Städtischen Wohlfahrtsamt eines nördlichen Berliner Bezirks. Er erinnerte sich nicht gern an die sonderbare Anwandlung, die ihn an jenem Tage, ganz sinnlos übrigens, dorthin getrieben hatte.
Während er damals im Flur auf einen Referenten wartete, den ihm jemand genannt hatte, war sie aus einem der Zimmer getreten, ein Aktenstück in der Hand, und war in ein anderes gegangen. Mehr war nicht geschehen.
Oder höchstens, daß das junge Mädchen ihn einen Augenblick lang angeschaut hatte. Kent wußte das deshalb so deutlich, weil ihn dieser Blick gezwungen hatte, sie zu grüßen. Es war eigentlich töricht und, gesellschaftlich betrachtet, höchst überflüssig, aber er hatte es tun müssen, mit oder ohne Willen.
Dann waren ihm Bedenken gekommen. Kannte er sie – oder sie ihn – vielleicht vom Sehen? Aber woher? Nein, es war nicht anzunehmen, daß sie jemals dort verkehrte, wo er zu treffen war. So sah sie nicht aus.
Immerhin hatte er sich vorsichtshalber bei einer anderen Beamtin erkundigt, hatte ihr das Zimmer gezeigt, in das jene gegangen war, und hatte gehofft, wenigstens den Namen feststellen zu können. Ganz vergeblich. In dem Zimmer war sie nicht mehr, und die andere Dame hatte gemeint, es müsse eine von den neun Sozialhelferinnen sein.
Sie hatte ihm ein paar Namen zur Auswahl genannt, aber sämtliche Namen hatten Kent so fremd geklungen, daß es zuletzt ganz gleichgültig war, wie sie hieß. Er war dann nach Hause gegangen, fest entschlossen, das Mädchen zu vergessen.
Und dann hatte er plötzlich gemerkt, daß er sich da zuviel vorgenommen hatte. Sie ließ sich nicht vergessen. Sobald Kent einmal sich selbst überlassen war, nicht mehr bedrängt von Menschen und Dingen, erschien ihm das Bild dieses Mädchens und löste Träumereien oder Vorstellungen aus, die er bei dem Leben, das er zu führen gezwungen war, nur albern nennen konnte. Als ob solch ein Mädchen jemals …
Sie war noch sehr jung, einundzwanzig Jahre vielleicht, gut gewachsen und von stolzer Haltung, wahrscheinlich die Tochter reicher Eltern. Dem widersprach es nicht, daß sie in einem Wohlfahrtsamt als Sozialhelferin tätig war; es gab bei solchen jungen Damen soziale Launen oder Stimmungen, vielleicht war es in ihren Kreisen gerade die große Mode, Arbeiterfrauen vor der elften Geburt zu beraten oder in Hinterhofküchen Windeln zu waschen und dem Mann ins Gewissen zu reden, wenn er wieder mal den Lohn vertrunken hatte.
Bei längerem Nachdenken mußte Kent diese Möglichkeit allerdings stark einschränken. Das Mädchen hatte nicht im mindesten snobistisch auf ihn gewirkt, oder so, als habe ihr persönlicher Geltungstrieb sie ins Wohlfahrtsamt geführt. Es war eigentlich eine idiotische Vorstellung, die er da hatte.
Kent sah sie ganz genau vor sich: sie war brünett, mit glattgescheiteltem Haar und dunklen Augen, und sehr einfach gekleidet. Dabei war allerdings sein Eindruck gewesen, daß es sich um eine gewollte, geschmacksbedingte Einfachheit gehandelt hatte, die unter Umständen viel kostspieliger ist als das auffälligste Modellkleid.
Unvergeßlich war ihm der Blick aus ihren braunen, fast schwarzen Augen. Aus diesen Augen sprachen Reinheit und Sauberkeit und ein Maß von Arglosigkeit, das auch der hartgesottenste Verbrecher unfähig gewesen wäre zu mißbrauchen. Kent hatte etwas Ähnliches, wenn auch nicht so stark, bisher nur bei hellen, blauen Mädchenaugen erlebt. In Schwarzbraun war es, für ihn wenigstens, eine Sensation. Und es verleitete, wie schon gesagt, zu ganz unstatthaften Träumereien.
Solch eine Frau zu gewinnen, und dann das ganze bisherige ekle Dasein hinter sich zu werfen, mit solch einer Frau, deren Liebe so stark sein mußte wie die Reinheit ihres Charakters, mit solch einer Frau allem entfliehen.
Es war albern, so etwas zu träumen. Desgleichen gab es nicht. Kent brauchte bloß an sein gegenwärtiges Leben zu denken, an den Zwang, den gewisse Kräfte und jene Organisation auf ihn ausübten, an seine Tätigkeit im Spielklub in der Bendixstraße und in der verlassenen Fabrik. Es war kindisch, an solch eine Frau auch nur zu denken.
Und dennoch tat er es, immer wieder, und manchmal unternahm er sogar, wie heute, Spaziergänge in der ungewissen Hoffnung, dem Mädchen irgendwo zu begegnen und Näheres über ihr Leben zu erfahren.
Einmal, vor Wochen, glaubte er sie in einem kleinen Auto gesehen zu haben, das ein alter Herr – ihr Vater? – steuerte.
Natürlich wäre es für ihn das leichteste gewesen, sie dort zu treffen, wo er ihr zum erstenmal begegnet war. Aber einmal widerstrebte es ihm ernstlich, sich ihr abermals im Wohlfahrtsamt zu präsentieren, und dann, was viel schwerer wog, er hatte aus bestimmten Gründen Ursache, gerade jene Gegend von Berlin in den nächsten Wochen zu meiden. Es handelte sich da um gewisse Leute, die ihn kannten und die andererseits zur Kriminalpolizei in fragwürdiger Beziehung standen.
Jedenfalls hatte er, Kent, den Befehl empfangen, die betreffende Gegend bis auf weiteres nicht zu betreten. Und er wußte, wie solch ein Befehl zu bewerten war. Nur ein Narr konnte ihm zuwiderhandeln …
Ungefähr alle zweihundert Schritt trat Kent vor ein Schaufenster und musterte in der spiegelnden Scheibe alle, die ihn etwa überholten oder in seiner Nähe stehenblieben. Geschah das bei einer Person mehr als einmal, so war es ziemlich sicher, daß er beobachtet wurde.
Wenn ein Mensch nämlich zu den Lebenskreisen gehört, die gegenwärtig Kents Kreise waren, so erwirbt er, wie die Tiere des Waldes, unmerklich einen sechsten Sinn, ein neues Organ, womit er seine Feinde wittert. Kent hätte auf große Entfernung sagen können, welcher von den Vorübergehenden ein Kriminalbeamter – oder ein Beauftragter der Organisation – war, und welcher nicht.
Er hatte längst gelernt, daß Kriminalbeamte in Zivil durchaus nicht immer eine Melone tragen, große Schuhe und Plattfüße haben; die wenigsten sahen heute so aus. Es gab welche, die wirkten wie Professoren der Mathematik, andere wie Landpastoren oder kleinstädtische Metzgermeister oder wie Kunstschüler oder Soldaten auf Urlaub; er brauchte gar nicht hinzusehen, er wußte es sofort, noch wenn die Herren hinter seinem Rücken waren und er noch keinen Blick auf sie geworfen hatte.
Auch neulich im Klub, als die beiden Beamten sich gegenseitig verhaften wollten, hatte er es vorher gewußt. Es war seit langer Zeit das erstemal, daß er wieder herzhaft gelacht hatte …
Für den Augenblick brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Die Leute, die ihn überholten, waren harmlos, und Kent spürte durchaus nicht, wie in Augenblicken der Gefahr, jenes instinktive Warnungsgefühl.
Langsam wanderte er weiter. Einmal traf er Bekannte, Gäste aus dem Klub in der Bendixstraße, und starrte genau an ihnen vorbei, ohne zu zeigen, daß er sie kenne oder gar zu grüßen wünsche. Die Etikette des Klubs erforderte das, und niemand erwartete etwas anderes.
Gleich vor dem Potsdamer Platz überholte ihn ein kleiner dunkler Wagen. Mit einem freudigen Schreck erkannte Kent den Fahrer: es war derselbe alte Herr, neben dem damals das Mädchen gesessen hatte.
Er sah aus wie ein Prediger oder ein Gelehrter, allenfalls wie ein großer Dirigent; es war schwer, sich einen Beruf für ihn auszudenken.
Jetzt war er allein im Wagen, der vor dem roten Licht warten mußte, und zog ungeduldig seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche. An dieser Bewegung erkannte Kent, daß der alte Herr Arzt war. Vermutlich ein bedeutender Professor, obwohl der Wagen eigentlich zu bescheiden dafür wirkte.
Kent notierte sich in aller Ruhe die Nummer. Er brauchte sie nur seinem nächsten Verbindungsmann in der Organisation zu geben, in Minuten, wenn es sein mußte. (Als er am nächsten Tag den Bescheid bekam: »Nicht festzustellen, es muß ein Abschriftfehler vorliegen«, war er verblüfft wie selten in seinem Leben; aber natürlich konnte er sich geirrt haben.)
Es kam grünes Licht, und der kleine Wagen schoß davon. Zwei Minuten später sah Kent ihn am Leipziger Platz, geparkt vor einem der größten und vornehmsten Klubs. Kent wartete eine Stunde und erlebte tatsächlich, was er zu erleben gehofft hatte: das junge Mädchen kam aus dem U-Bahnschacht, ging in den Klub und kam gleich darauf mit dem alten Herrn, offensichtlich ihrem Vater, wieder heraus. Sie stiegen beide in den Wagen und fuhren in die Leipziger Straße hinein.
Kent ging sehr verwirrt und sehr bedrückt nach Hause in sein möbliertes Zimmer.
»Warum habe ich mir das eigentlich angetan?« fragte er sich. »So etwas gibt es gar nicht, daß solch ein Mädchen unsereiner …«
Abends war er wieder im Spielklub. Zu einer bestimmten Stunde brachte ihn der Wagen nach jener verlassenen Garage.
*
Hoffmeister hatte sich acht Tage lang fast ohne Unterbrechung beobachtend am Fenster des kleinen Hotels aufgehalten. Als er seinen Entschluß gefaßt hatte, legte er sich ins Bett und schlief vierundzwanzig Stunden. Er erwachte am anderen Morgen nach acht Uhr, ordnete seine Nachschlüssel und übte nochmals an allen Türen seines Zimmers, was er jeden Tag mehrmals getan hatte, um die notwendige Leichtigkeit der Hände und eine vollkommene Geräuschlosigkeit in der Handhabe an Schlössern zu bekommen.
Dann ging er aus, aß viel und stark und machte einen längeren Spaziergang vor der Stadt. Er aß nochmals üppig und kehrte in sein Hotel und sein Bett zurück.
Um zwölf Uhr nachts sah Hoffmeister einen Mann aus dem Haus gehen und mit dem Auto davonfahren. Er stellte seinen Taschenwecker auf halb drei und blieb wach im Bett.
Um halb drei zog er sich im Dunkeln an und schaute dabei durchs Fenster. Um drei Uhr sah er die zwei Männer herankommen und im Haus verschwinden. Er nahm seine Pistole aus dem Schrank, untersuchte Schloß und Magazin, probierte die elektrische Taschenlampe, und zehn Minuten nach drei verließ er das Haus.
Nachdem Hoffmeister ohne Schwierigkeit das Schloß der Haustür geöffnet hatte, war er rasch in einen dunklen Flur getreten. Er überlegte sich eine Sekunde, ob er das Schloß wieder schließen sollte. Er ließ einmal rasch den kleinen Leuchtstab aufblitzen und sah, daß rechts ein Abstieg in einen Keller ging, und zwar unmittelbar an der Haustür; etwa fünf Schritte von seinem Platz entfernt, war der Flur ein zweitesmal abgesperrt.
Hoffmeister ließ das Schloß ungesperrt und ging zu dieser Tür. Er griff sie nach dem Verschluß ab, rechts, links. Es war eine Eisentür. Hoffmeister durfte kein Licht machen, bevor er nicht das Schlüsselloch zugedeckt hatte. Denn ein Lichtschein, den es durchgelassen, hätte ihn verraten können.
Hoffmeister griff immer erregter, wurde immer beklommener. Er fand das Schloß an der zweiten Tür nicht. Rasch leuchtete er sie ab. Er sah eine glatte Stahlplatte.
Das war eine starke Enttäuschung. Er legte das Ohr daran und empfing das Brummen und Schütteln der Maschine stärker als damals an der Haustür. Aber jeder Versuch, jedes weitere Verharren an dieser Stahlplatte waren verlorene Mühe und Zeit. Es blieb ja noch der Keller.
Hoffmeister fand die Tür zur Stiege nur eingeklinkt. Er stieg sorgsam hinab und kam in einen Vorraum, auf den nur eine Tür zuging. Sie stand ein wenig offen. Der Raum, in den sie führte, war groß, finster und still. Hoffmeister ging rasch hinein und stellte die Tür genau, wie er sie gefunden hatte.
Dann suchte er mit seinem Licht den Kellerraum nach einem Versteck ab, worin er sich verbergen könnte. Denn die offene Tür verriete klar, daß jemand den Keller vielleicht gerade erst besucht hatte und daß er wiederkommen könnte. Vielleicht war deshalb die Tür vorläufig offen gelassen worden.
Eine große Eisenkiste, deren Deckel zurückgelehnt stand, zog Hoffmeisters Aufmerksamkeit an. Er leuchtete hinein.
Sein Herz stach ihn plötzlich so heftig, daß er zurückzuckte.
Vielleicht war alles ein Traum … dieses Haus … dieser Keller, die offenen Türen, die Kiste und was … er … da unten drin sah. – Er kniff die Augen fest zu, schüttelte sich. Öffnete wieder die Augen und schaute in die Kiste hinab, und es schwindelte ihm von neuem, als blicke er von einer scharfen Kante in die Bodenlosigkeit einer Schlucht.
Denn da unten lagen ordentlich gebündelt ganze Pakete von Fünfzigmarkscheinen, neu, strahlend neu …
Ein breites Lächeln ging nun über das Gesicht Hoffmeisters. Er hatte sich nicht getäuscht. Er hatte die Hersteller der falschen Scheine. Die Kriminalpolizei suchte seit Monaten vergeblich nach ihnen. Hoffmeister spürte eine tiefe Genugtuung darüber, daß seine unermüdlichen Anstrengungen so überraschend schnell zu einem entscheidenden Erfolg geführt hatten.
Glanz umstrahlte ihn, Glanz einer hervorragenden, äußerst wichtigen und nutzbringenden Entdeckung!
Diesen Triumph genoß er erst mal im voraus. Dann überlegte er weiter: er könnte sich jetzt, wie er hereingekommen, ziemlich gefahrlos wieder hinausschleichen und mit seiner Entdeckung gleich zu seinem Kommissar gehen.
Aber man würde dann die Scheine finden, die Hersteller und ihre Platten jedoch, auf die es mehr ankam als auf die Papierbündel, durch die Lappen gehen lassen. Denn um die Stahltür zu öffnen oder durch die Fenster eindringen zu können, mußte Lärm gemacht werden. Und es war gewiß, daß den Insassen des Hauses auch noch andere Möglichkeiten zum Entweichen zur Verfügung standen als die Haustür …
Doch auch wenn Hoffmeister nicht hätte aufs Ganze gehen und im Keller bleiben wollen, wurde er jetzt durch einen Lärm dazu gezwungen, der vom Flur herunterdrang. Zweifellos wurde oben die Stahltür geöffnet.
Das Licht seiner Taschenlampe suchte hastig einen Schlupfwinkel. Neben der Eisenkiste lag allerlei Gerumpel, anscheinend von Maschinenteilen, und hinter diesem Gerumpel war in einer Ecke Platz genug zum Hineinklemmen. Hoffmeister nahm seine Waffe in die Hand und bog sich in dem Winkel zusammen. Es war nicht viel Platz da, er mußte den Kopf tief auf die Brust drücken.
Er sah einen Lichtschein an der gegenüberliegenden Mauer entlangwandern: die Tür wurde ganz geöffnet.
Jemand kam herein.
Der Lichtschein wanderte von der Mauer fort und stieg über Hoffmeisters Kopf, wo er stehenblieb.
Hoffmeister hörte einen Mann hüsteln, doch mußten es nach den Geräuschen mehrere sein. Füße schlugen an irgend etwas an. Papier knisterte.
Dann kam eine leise Stimme.
»Die neuen Hunderter sind so gut gemacht wie die früheren Fünfziger. Es wird eine Weile gehen, bis sie wieder dahinterkommen. Wir sollen die Fünfziger, die noch da sind, nicht mehr ausgeben, hat er sagen lassen.«
»Schade um die schönen Scheine!« hörte Hoffmeister eine zweite Stimme antworten, während er über die Person nachdachte, die von der ersten nur »er« genannt wurde.
»Na, aber«, fuhr die Stimme fort, »es ist auch schon ein ordentlicher Haufen von den neuen Hundertern zusammen.«
»Ja, wir haben tüchtig geschuftet in den letzten Tagen. Er wird mit uns zufrieden sein!« sagte wieder die erste Stimme.
Er! Er! Er! hämmerte es in dem Hirn Hoffmeisters, der über seinem Kopf den Lichtschein spürte. Er! Er! Er!
Und plötzlich bekam er einen wilden und wüsten Schrecken, als er sagen hörte: »Verstehst du, weshalb der Doktor Mabuse selber nichts von den Geldscheinen haben will? Er läßt ja al…«
Die Stimme brach ab, mitten im Wort.
Es muß etwas geschehen sein, sagte sich Hoffmeister gequält. Aber was? Was? Weshalb spricht er nicht weiter? Mabuse?
Ich weiß jetzt, wer das Geld macht! Weshalb hat er so plötzlich aufgehört? Mitten in einem Wort? Den Lichtschein der Lampe fühlte Hoffmeister jetzt dicht über seinem Kopf.
Der eine der beiden Männer, der mitten im Wort abgebrochen hatte, zog einen Revolver hervor und hielt ihn gegen ein Haarbüschel, das über dem Gerumpel in der nahen Ecke herausragte. Er deutete hastig mit den Augen dorthin.
Aber als der andere auch die Haare entdeckte, schob er rasch und geräuschlos den Revolver seines Genossen weg, machte ihm mit den Augen ein Zeichen und sagte: »Bist du fertig? Dann komm!«
Hoffmeister hörte, wie der Deckel der Kiste zuschlug und wie die beiden den Keller verließen. Das Licht verschwand über seinem Kopf. Die Tür blieb wieder offen. Er sah es aus dem Lichtschein, der an der Mauer weiterwanderte. Dann wurde es finster. Die Tür schloß sich oben.
Vorsichtig kroch Hoffmeister aus seinem Versteck. Er blieb eine Weile reglos in der Finsternis stehen. Der Name, den er gehört hatte, beherrschte und verwirrte seine Vorstellungen. Mabuse, woher kam plötzlich wieder Mabuse? Hoffmeister hatte hier anscheinend mehr entdeckt als die Hersteller der falschen Geldscheine.
Er war einem Kriminalgeheimnis auf die Spur gekommen, von dem die Welt nicht die geringste Ahnung hatte:
Die Wiedererweckung des Dr. Mabuse.
Die Lichtscheibe seiner kleinen Lampe irrte suchend im Keller umher. Er wollte ein Versteck finden, aus dem er die beiden Männer, wenn sie wiederkämen, beobachten könnte. Daß sie nochmals kommen würden, verriet das Auflassen der Tür.
Aber weshalb hatte der eine sich so plötzlich im Sprechen unterbrochen? Die Kiste hatten sie diesmal geschlossen. Welch ein Haufen von Scheinen lag darin! Welch ein Reichtum! Sie sollten nicht mehr ausgegeben werden, ließ »er« sagen. »Er«, Mabuse!
War er denn wirklich wieder auferstanden? Die Öffentlichkeit, das wußte Hoffmeister genau, hielt Dr. Mabuse für tot. Er war seinerzeit mit zerschmettertem Hirnkasten in den Bodensee gefallen. Was aber die Öffentlichkeit nicht wußte, war, daß einer seiner Agenten, der getreue Spoerri, ihn gerettet hatte, als die Aufmerksamkeit der Polizeiboote sich auf die Gräfin Told und den gefesselten Staatsanwalt Wenk konzentrierte, deren Gestalten die Scheinwerfer in dem Boot festhielten.
Die Ärzte glaubten damals nicht, daß ein Mensch einen so komplizierten Schädelbruch überleben könne. Das Wunder geschah trotzdem, obwohl die Verletzung nicht nur gewisse Gehirnparzellen getötet, sondern auch ganze motorische Nervenstränge lahmgelegt hatte, so daß seine geistigen wie körperlichen Fähigkeiten stark mitgenommen waren.
Mabuse war also am Leben geblieben – und es wurde der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt. Warum? Nun, weil er eigentlich doch tot war. Praktisch konnte man ihn nicht zu den Lebenden rechnen. Denn einmal war er völlig unbeweglich und konnte auch nach Jahren noch nicht im Rollstuhl transportiert werden, – und dann, ein viel gewichtigerer Grund: der vielfache Schädelbruch hatte bewirkt, daß Dr. Mabuses Geist sich bis zur völligen Apathie und Vernunftlosigkeit verwirrt hatte.
Der Patient wurde von allen Psychiatern für »unheilbar geistesgestört« und »nicht lebensbewußt« erklärt. Er war ein lebendiger Leichnam, der auf ganz mechanische Weise und ohne Bewußtsein Nahrung aufnahm und sich dadurch zunächst vor dem Sterben schützte, aber ein völlig sinnloses Wrack, das nur noch dazu diente, ein paar medizinische Wissenschaftler zu verblüffen. Da er keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellte, hatte man sie auch nicht von seinem Weiterleben unterrichtet.
Und so galt Mabuse für tot – was er in jedem praktischen Sinne auch war, obwohl er seit Jahren atmete und gefüttert wurde.
Dies alles wußte Hoffmeister, es war Dienstgeheimnis. Er wußte sogar mehr, nämlich, daß Dr. Mabuse seit Jahren in der Privatklinik des Psychiaters Professor Dr. Born in Berlin lag und daß der »Patient M.«, den Born in seinen Vorlesungen und Vorträgen so oft erwähnte, kein anderer als Mabuse war.
Einmal sollte Professor Born von einem Testament dieses Patienten M. gesprochen haben, das jener trotz seiner absoluten Geistesgestörtheit in aller Klarheit gemacht haben sollte diktiert wohl, denn schreiben konnte er ja nicht. Es war für einen medizinischen Laien schwer, sich darunter etwas vorzustellen. Entweder war ein Mensch halbtot und geistesgestört – oder er konnte Testamente machen, dann war er gesund.
Wie sich beides vereinigen ließe, konnte Hoffmeister sich wirklich nicht vorstellen. Vielleicht so eine Art »lichter Moment« dachte er, obwohl es bekannt war, daß der Patient M. nie lichte Momente hatte …
Und nun sollte dieser Dr. Mabuse trotz allem … Hoffmeister war verzweifelt, er wußte nicht mehr, was er denken oder glauben sollte.
Stimmte denn alles nicht mehr, was er dienstlich über Mabuse erfahren hatte? War Mabuse gar nicht mehr in der Privatklinik von Professor Born? Oder war Mabuse überhaupt nicht mehr geistig umnachtet? Man konnte selbst verrückt werden.
Das eine aber stand fest: er, Hoffmeister, hatte mit eigenen Ohren gehört, daß ein Mitglied der Falschmünzerbande den Dr. Mabuse ausdrücklich als Chef und Leiter des ganzen verbrecherischen Unternehmens genannt hat. Und dieser Falschmünzer, der sich nicht belauscht fühlen konnte, hatte nicht den geringsten Grund zu lügen. Es gab wieder einen Mabuse, einen tätigen, verbrecherisch wirkenden Mabuse.
Derselbe? – Oder einer, der bloß Namen und Titel des großen »Vorbilds« angenommen hatte?
Nun, das würde man bald heraushaben.
Trotzdem überlief den Kriminalinspektor Hoffmeister ein Grauen bei dem Bewußtsein, daß er sich mit größter Wahrscheinlichkeit im Machtbereich des Mannes befand, der über Irrsinn und körperliche Zerstörung hinaus weiterwirkte.
Wenn die da oben im Haus an der Maschine, auf der sie das Falschgeld druckten, merkten, daß jemand hier unten in ihrem Keller war und gesehen und gehört hatte …
Plötzlich stellte Hoffmeister fest, daß die Maschine nicht mehr lief. Das Brummen und Schütteln war verstummt. Finsternis und Stille beherrschte bis in die Mauerritzen den Raum. Hoffmeister wurde, je länger er in die Dunkelheit hineinlauschte, immer unheimlicher zumute, er war unruhig. Mehrere Male wollte er sein Versteck verlassen, aber immer wieder bezwang er seine Unruhe. Vielleicht kamen die beiden Männer wieder, und er, Hoffmeister konnte noch mehr über den Mabuse erfahren?
Es verging eine Stunde. Die Männer kamen nicht wieder. Als es Hoffmeister zur Gewißheit wurde, daß sein Warten auf sie vergeblich war, beschloß er auszuharren, bis es sechs Uhr war.
Da hörte er oben das Geräusch von Schritten. Eine Tür fiel ins Schloß … die Stahlplatte?
Jäh erschrak Hoffmeister. Jetzt kamen die Männer nach oben an die Haustür, die er nicht wieder abgeschlossen hatte. Das mußte auffallen. Es wird Verdacht erregen. Man wird nachschauen, zuerst in den Keller kommen …
Er nahm seine Waffe auf.
Er hörte, wie oben jemand hin und her ging, dann blieb es still. Es geschah nichts.
Nun zögerte Hoffmeister nicht länger. Er löste sich aus seinem Versteck und zwängte sich vorsichtig durch die Tür. Die obere Tür in dem Flur war nicht eingeklinkt. Hoffmeister vermied jedes Geräusch. Auf die Benutzung der Stablampe verzichtete er, denn alles war ihm bereits vertraut genug.
Langsam tastete er sich voran. Schließlich erreichte er den dunklen Flur. Rechts mußte die Stahlplatte sein. Also wandte er sich nach links. Ein winziger Lichtpunkt in Gürtelhöhe bestätigte ihm die Richtigkeit seiner Überlegung. Durch das Schlüsselloch der Haustür fiel das erste schwache Morgenlicht.
Vorsichtig tastete sich Hoffmeister an der Wand entlang. Die vollkommene Stille legte sich wie ein Reifen um seinen Kopf und zwang ihn, selbst so lautlos wie nur irgend möglich zu sein, damit er das geringste Geräusch wahrnehmen konnte.
Jetzt faßte seine Hand plötzlich Stoff. Der Stoff kam in Bewegung. Der grelle Schein einer aufblitzenden Taschenlampe fuhr Hoffmeister in die Augen und blendete ihn.
Er fühlte sich herumgerissen, gegen die Stahltür geschleudert. Ein zweites Paar Fäuste packte zu.
Hoffmeister, der in der ersten Schrecksekunde seine Waffe nur krampfhaft umfaßt gehalten hatte, schoß. Aber der erhoffte Aufschrei blieb aus. Nur die fremde Taschenlampe polterte zu Boden und erlosch.
Hoffmeister versuchte sich zu befreien, wurde wieder gepackt, trat, wurde getreten. Zum Schuß kam er nicht mehr. Bei dem Durcheinander und der Schnelligkeit der Bewegungen hätte er nur auf gut Glück abdrücken können.
Auch jetzt noch lastete eine fast unheimliche Stille über allem, nur durch den Schuß für einen Augenblick zerrissen. Die Männer kämpften lautlos, sie schienen wie Hoffmeister Gummisohlen zu tragen. Nur das Keuchen der angestrengten Lungen war zu hören.
Hoffmeister hatte den ersten Schreck überwunden und seine Fassung wiedergefunden. Ein Ziel nur gab es für ihn: hinaus! Er mußte sich retten, wenn das Geheimnis dieses Hauses geklärt, wenn die Falschmünzer gefaßt werden sollten. Ein Umstand kam seinem Ziel zu Hilfe, die Dunkelheit! Jeder kämpfte gegen jeden. Nur ab und zu verständigten sich seine Gegner durch Zurufe. Es gelang Hoffmeister, sich aus dem Knäuel zu lösen und die Haustür zu erreichen.
Da befiel ihn erneut ein heißer Schreck. Wenn er jetzt erst nach seinen Schlüsseln suchen mußte. Er drückte bereits den Griff der Haustür nieder. Dabei stellte er fest, daß sie ein Schnappschloß hatte, das von innen ohne weiteres zu öffnen war.
Er riß die Tür auf und rannte auf die noch menschenleere Straße, im Lauf hastig seine Waffe in die Jackentasche steckend. In zwei Minuten war er in seinem Hotel, in einer weiteren in seinem Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und rief mit fliegendem Atem und flatternden Nerven die Kriminalpolizei an.
Als er jetzt in diese schwarze Kapsel hineinsagen sollte, was er gesehen, gehört und erlebt hatte, kam es ihm mit einemmal so unglaubwürdig vor, daß er den Namen, diesen Namen nennen sollte, daß dieser Name, der einst ganze Länder terrorisiert hatte, dann lange begraben war, nun von ihm wieder in das Leben der Öffentlichkeit gestellt werden sollte! Er fand, es sei eine übermäßig starke Belastungsprobe für die eigene Glaubwürdigkeit, und als der Kriminalkommissar Lohmann sich meldete, begann er zunächst fassungslos durcheinander zu stammeln. Plötzlich zuckte er herum. Er hörte, daß die Tür, die er in der Hast vergessen hatte zuzusperren und der er den Rücken kehrte, aufging …
Kriminalkommissar Lohmann vernahm eine vor Aufregung zitternde, schreiende Stimme im Telefon: »Hier Hoffmeister. Bitte, Herr Kommissar, glauben Sie mir … ich habe die … ich weiß, daß es eine starke Zumutung ist … Aber Sie müssen mir glauben … glauben …«
Ungeduldig rief Lohmann zurück: »Nun sagen Sie endlich schon, was ich Ihnen glauben soll!«
»Ich habe … habe die Hersteller der falschen Geldscheine entdeckt, und ihr Auftraggeber ist der …«
Lohmann bekam einen roten Kopf vor Aufregung.
»Ist wer? Wer?« schrie er zurück.
Aber er erhielt keine Antwort. Es kam ein Geräusch, als sei der Hörer des anderen Apparates herab auf einen Tisch gefallen. Dann folgte ein leiser Aufschrei. Er hörte Schritte im Raum, aus dem telefoniert wurde. Daraufkam das wimmernde Stöhnen eines Menschen, das rasch in ein delirierendes Heulen überging. Doch dieses Heulen erstickte in einem Durcheinander von dumpfen Geräuschen.
»Hoffmeister, hören Sie? Sind Sie noch da?« schrie Lohmann ins Telefon. Vergeblich. Dabei bestand die Verbindung noch, der Hörer war nicht aufgelegt worden. Schließlich, es mochten vier, fünf Minuten vergangen sein, meldete sich jemand.
»Hier Hotel Kosmos. Wird noch gesprochen?«
»Wohnt bei Ihnen ein Herr Hoffmeister?«
»Nein.«
»Wurde gerade von Ihnen mit Nummer 11 11 telefoniert?«
»Ja, ein Gast hat die Nummer angerufen.«
»Wie hieß er? Hier Kriminalpolizei. Rasch, bitte.«
Währenddessen gab Lohmann schon Befehl, zwei Beamte und einen Kraftwagen bereitzuhalten. Er hörte dann einen Namen, den er nicht kannte.
»Zimmernummer?« rief er zurück.
»Zweiundzwanzig.«
Er warf den Hörer auf die Gabel. In zehn Minuten war er im Hotel Kosmos.
»Führen Sie mich rasch auf Zimmer zweiundzwanzig«, sagte Lohmann dem Angestellten, nachdem er sich ausgewiesen hatte. Der Angestellte brachte ihn in den Fahrstuhl, und während sie hinauffuhren, sagte er zu ihm: »Ja, auf Zweiundzwanzig ist etwas geschehen. Der Gast ist verrückt geworden. Muß plötzlich verrückt geworden sein. Man hörte ihn schreien.
Das Zimmermädchen hatte aber nicht den Mut, hineinzugehen. Sie kam herunter und meldete es, als wir hinaufkamen, war das Zimmer leer.«
»Wo ist der Gast denn hingekommen?«
»Während wir mit dem Lift hinauffuhren, muß er über die Treppe das Haus verlassen haben.«
»Hat ihn denn niemand fortgehen sehen?«
»Der Portier und ich waren im Lift. Der Junge, der sonst die Tür bedient, ebenfalls, weil der Liftboy gerade verhindert war. Es war wahrscheinlich niemand unten, als der Gast fortging.«
Als sie in das Zimmer kamen, fragte Lohmann: »Ist jemand von Ihnen drin gewesen?«
»Ja, ich.«
»Haben Sie etwas angerührt?«
»Nur den Hörer vom Telefon habe ich auf den Apparat gelegt. Er lag auf dem Tisch.«
Bevor er den Raum betrat, fragte Lohmann den Angestellten, der die Empfänge zu erledigen hatte: »Sind heute morgen schon Gäste oder Besucher gekommen?«
»Ja. Zwei Herren, ganz in der Frühe. Sie wollten zu dem Herrn, der gerade vor ihnen hereingekommen war. Es war der Herr von Zweiundzwanzig.«
»Kannten Sie den Herrn von Zweiundzwanzig?«
»Er wohnte schon acht Tage bei uns, gewiß. Herr Bandler war ein sehr ruhiger und angenehmer Gast.«
»Hieß er Bandler?« fragte Lohmann.
»Ja. Wenigstens hatte er sich so eingeschrieben.«
»Wie sah er aus?«
»Gepflegt. Blond. Er trug den Kopf immer etwas geneigt.«
Hoffmeister, sagte sich Lohmann. Es stimmt.
»Haben Sie seine Papiere gesehen?« fragte er.
»Nein. Es ist nicht mehr Vorschrift.«
»Lassen Sie mich bitte allein und schicken Sie einen meiner Beamten herauf. Er möge vor der Tür warten.«
Diese Tür öffnete sich an der linken Ecke in das Zimmer, das ziemlich geräumig war und der Tür gegenüber ein breites dreiteiliges Fenster hatte. Das Bett stand an der Seite, wo sich die Tür öffnete. Lohmann sah auf dem Nachttisch den Fernsprechapparat, an dem Hoffmeister mit ihm gesprochen hatte. Ein großer dicker Plüschteppich reichte mit einer Spitze bis an die Vertäfelung unter dem Fenster. Diese Spitze war zurückgeschlagen, der Teppich dort verschoben.
Es war also wahrscheinlich, daß Hoffmeister vom Apparat zum Fenster gegangen war; auf der Flucht vor jemandem, der die Ursache war, daß Hoffmeister sein Gespräch mit ihm, Lohmann, so plötzlich abgebrochen hatte. Dieser Jemand, wer immer es war, hatte Hoffmeister die Tür versperrt.
Deshalb hatte Hoffmeister zum Fenster gewollt; vermutlich, um es zu öffnen und etwas hinauszurufen. Der andere hatte ihn, das durfte man annehmen, daran gehindert. Der umgeschlagene und verrutschte Teppich bewies, daß Hoffmeister sich gewehrt hatte, während ihn sein Gegner durch eine stumme Drohung erschreckt oder eingeschüchtert hatte denn Lohmann hatte ihn ja im Fernsprecher wimmern oder schreien hören.
Wahrscheinlich war Hoffmeister dann betäubt worden, damit er ohne Widerstand fortgeschafft werden konnte. Ein einzelner kann aber auch einen Betäubten nicht ohne weiteres fortschaffen, also mußte Hoffmeister mehrere Gegner gehabt haben.
Das war es, was Kriminalkommissar Lohmann durch Beobachtung und logisches Folgern als Tatbestand im Hotel Kosmos ermittelte, indem er von der Tür aus das Zimmer überprüfte.
Dann begab sich Lohmann an die Untersuchung des Zimmers. Er ging zum Telefon, besah sich den Apparat, die Platte des Nachttischs. Daran war nichts Außergewöhnliches festzustellen. Er kniete nieder und suchte nach Spuren der Sohleneindrücke im Teppich. Wenn er seinem Kopf eine bestimmte schräge Haltung gab, konnte er im Spiel des Lichtes, das vom Fenster auf den Teppich fiel, genau die Bahn der Schritte erkennen, die von hier zum Fenster ging. Der Bettläufer war ein wenig zusammengeknüllt. Vorsichtig legte Lohmann ihn glatt, und dabei fiel etwas aus einer Falte, das Lohmanns Erstaunen erregte.
Es war ein Pfeil. Er war nicht wesentlich dicker als eine Stricknadel und hatte die Länge eines Fingers. Lohmann schob ihn auf ein Blatt, das er aus seinem Notizbuch riß, und betrachtete ihn. Der Pfeil schien aus Horn geschnitten zu sein und war dunkel. Aber es war nichts Besonderes daran zu sehen. Er wickelte ihn sorgsam in das Papier und ging dann beobachtend zum Fenster, neben der Bahn der Spuren, die er im Teppich gefunden hatte. Die Fußleiste unter dem Fenster war weiß gestrichen. Es zeigten sich Spuren von Reibungen, Kratzern und schwarzer Farbe in dem Holz.
Ja, hier hatte Hoffmeister gestanden und die Angriffe der anderen abgewehrt. Dabei hatte er mit den Schuhen an diese Fußleiste geschlagen.
Lohmann untersuchte das Holzgetäfel über der Leiste, das Fensterbrett … Nichts … Die Scheiben … Das Fenster hatte zwei Reihen Scheiben … Er nahm die Lupe, suchte nochmals von der Fußleiste bis zu den Scheiben alles ab und gewahrte plötzlich einen Kratzer, einen Schnörkel … schwach und anscheinend willkürlich eingeritzt. Lohmann ging zum Bett zurück, trat dann rückwärts vom Waschtisch zum Fenster, denn er wollte sich vergegenwärtigen, wie Hoffmeister mit dem Rücken zum Fenster gestanden hatte, und dachte nach.
Er erinnerte sich, daß Hoffmeister am Ringfinger der rechten Hand in einem Goldreifen einen kleinen Brillanten trug. Lohmann legte die Hand auf den Rücken und sah, daß der Kratzer, den er vorhin im Glas entdeckt hatte, auf der Höhe der Hände war.
Der Kratzer erschien ihm nun doch wichtig und einer genauen Untersuchung wert. Er öffnete das Fenster und betrachtete ihn durch das Glas von der anderen Seite her. Aber auch hier erschien er nur als ein verworrener, willkürlicher Schnörkel, den ein Gast, der am Fenster stand, einmal aus Langeweile mit seinem Ring hineingeritzt haben mochte.
Doch Lohmann ließ nicht locker.
Er schloß das Fenster wieder, stellte sich nochmals mit dem Rücken gegen die Scheibe und versuchte sich vorzustellen, ob und wie man mit der Hand auf dem Rücken auf eine Scheibe schreiben kann.
So kam er auf die Tatsache, daß das, was so geschrieben wurde, ja auf dem Kopf stehen müßte. Lohmann hatte stets einen Glasschneider bei sich und schnitt die Scheibe heraus. Als er sie umdrehte, erkannte er, daß der Schnörkel doch aus Buchstaben bestand.
Er entzifferte: M … a … b … u …, sprach das Wort nochmals vor sich hin: Mabu … Mabu …? Plötzlich schlug er sich vor die Stirn: Mabuse! dachte er. Hoffmeister wollte Mabuse schreiben! Den Namen, den er am Telefon noch nicht ausgesprochen hatte, weil er ihm zu unglaubwürdig vorkam? … Mabuse?
Aber war es möglich, daß Hoffmeister diesen Namen meinen konnte, daß Mabuse der Auftraggeber der Falschmünzer sei? Daß in der Not der letzten Minute Hoffmeister diesen Namen ins Glas ritzen wollte, weil er verhindert wurde, ihn in den Fernsprecher zu sagen?
Lohmann grübelte, dann überlegte er kurz, verließ das Zimmer, versperrte und versiegelte es und sagte zu dem Angestellten: »Das Zimmer darf nicht betreten werden!«
Er fuhr gleich zur Privatklinik von Professor Born.
*
Lohmann wurde, als er angekommen war, gleich in das Direktionszimmer geführt, das im ersten Stockwerk des Hauptgebäudes der Anstalt lag. Er wartete einige Minuten, bis Professor Born, den er von früheren Anlässen her kannte, hereintrat.
Der berühmte Psychiater war ein sympathischer, alter oder wenigstens älterer Herr. Schon an der Art, wie er in den Kittel griff und seine goldene Uhr herauszog, hätte jedermann den Mediziner erkannt, fand Kriminalkommissar Lohmann.
»Ah, die hohe Polizei!« sagte der Arzt. »Selbstverständlich zu Ihrer Verfügung! Bitte!«
»Gibt es ein Gift, das aufs Gehirn wirkt?« fragte Lohmann überraschend.
»Gewiß, mehrere.«
»Ich meine, das rasch eintretende, sichtbare Störungen des Gemüts hervorruft?«
»O ja, zum Beispiel Belladonna oder Stechapfel und vor allem das synthetische Atropin.«
»Möchten Sie mir sagen, wie sich die Folgen einer solchen Vergiftung äußern?«
»Außer den gewöhnlichen Erscheinungen, die in Konvulsionen, Zuckungen und so weiter bestehen, kann es vorkommen, daß sich schwere Folgen im Gehirn bemerkbar machen, Halluzinationen zum Beispiel. Es können daraus Delirien und Tobsuchtsanfälle werden.«
»Und wie gehen diese Anfälle aus?«
»Mit dem Tode, wenn die Dosis stark genug ist. Oft folgt sonst auf die akuten Äußerungen eine tiefe Schlafsucht. Später können sich Gedächtnisstörungen zeigen.«
»Bedarf es einer großen Menge von Atropin, um diese Störungen zu bewirken?«
»Nein. Die letale Dosis ist ein Zehntel Gramm.«
»Halten Sie es für möglich, daß …« Lohmann entnahm seiner Brieftasche den Pfeil, den er im Hotelzimmer gefunden hatte, »… daß mit diesem Pfeil genügend von dem Giftstoff in einen Körper gebracht werden kann, um die erwähnten Wirkungen zu erzielen?«
»Oh!« pfiff jetzt der Professor, als habe er eine Neuigkeit gehört, die ihn erstaunen machte und zugleich eine Lösung bedeutete, nach der er gesucht hatte. »So! Jetzt verstehe ich. Ich komme gerade von einem Patienten, den man vor einer halben Stunde eingeliefert hat. Schon eine erste flüchtige Untersuchung ließ mich an eine Atropinvergiftung denken. Die Extremitäten hatten klonische Krämpfe, das Gesicht ging in wilden Zuckungen, partielle Lähmungen waren sichtbar. Schlingbeschwerden. Ich fand am Hals eine kleine Wunde, die mir aber für den Zustand ohne Bedeutung zu sein schien. Sie meinen anscheinend denselben Mann. Ich nehme an, daß ihm das Gift mit diesem Instrument zugeführt wurde. Es ist übrigens eine Borste des Stachelschweins.«
»Das ist sonderbarerweise nicht mitgeteilt worden. Die Begleiter sind gleich, ohne Namen und Adresse anzugeben, verschwunden. Sie, Herr Kommissar, kennen den Namen des Kranken auch nicht?«
»Es ist ein Beamter von uns, wenn nicht alles täuscht. Er heißt Hoffmeister. Kann ich ihn sehen, Herr Professor?«
»Natürlich. Bloß wird es Ihnen zunächst wenig nützen, er ist bewußtlos.«
»Nur um in seiner Identität sicherzugehen.«
»Bitte«, antwortete der Professor und schritt voran. Er führte den Kommissar eine Treppe hinauf, dann durch eine Tür, die Born mit einem eigenen Schlüssel aufschloß, in einen Nebenflügel und zu einer kleinen Kammer.
Lohmann sah auf einem Bett den wie leblos ausgestreckten Hoffmeister.
»Ja, es ist Hoffmeister«, sagte Lohmann.
»Ich werde ihn hierbehalten und mich selbst um ihn kümmern«, sagte Professor Born.
Lohmann zögerte nicht, zuzustimmen. Er hatte das sichere Gefühl, daß der Kranke hinter ein Geheimnis gekommen war, das vielleicht den Schlüssel zu vielen der beunruhigenden Zusammenhänge gab, unter deren Auswirkungen das öffentliche Leben des Landes seit einiger Zeit litt. Er brauchte Hoffmeisters Wissen. Nirgends hätte dieser in besseren Händen sein können als bei dem großen Professor Born.
Der Name Born stand bei seinen Fachkollegen wie in der Öffentlichkeit in der höchsten Achtung. Des Professors Tätigkeit war über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, und der starke Besuch der wöchentlichen Publica, die er als Professor der Universität las, war ein sichtbarer Ausdruck der hohen Werteinschätzung seiner Leistung. Dabei war Borns Weg als Psychiater nicht leicht gewesen, denn er hatte sich von Anschauungen freigemacht, denen die herrschende Schule seit mehreren Jahren sklavisch ergeben war.
Zudem hatte Born besondere Beziehungen zur Polizei. In schwierigen Fällen wurde er von ihr herangezogen, indem sie ihm Material zugänglich machte, das sonst in staatlichen Anstalten hätte untergebracht werden müssen.
So hatte, als Professor Born seinerzeit äußerte, welch bedeutungsvolles Studienmaterial der Dr. Mabuse für ihn böte, die Polizei nichts dagegen gehabt, Borns Wunsch zu erfüllen und den großen Verbrecher seiner Anstalt zu überweisen.
»Nachdem unser Mann, Gott sei Dank, in Ihren Händen gelandet ist«, begann Lohmann, als der Arzt ihn in sein Arbeitszimmer zurückgeführt hatte, »halte ich es für nötig, Sie mit den näheren Umständen bekanntzumachen. Wahrscheinlich werden Sie in die Lage kommen, uns und dem Land einen großen Dienst zu erweisen … es sei denn, die ganze Geschichte Hoffmeisters wäre der Ausfluß einer kranken Phantasie.
Vorher aber erlauben Sie mir die Frage, Herr Professor, ob eine, wenn auch noch so entfernte Möglichkeit besteht, daß der Dr. Mabuse vorübergehend die Anstalt verläßt … ohne Ihr Wissen natürlich?«
»Das ist ganz unmöglich!« erwiderte Born lächelnd über Lohmanns Naivität, aber sehr bestimmt. »Selbst wenn er oder irgendein anderer wollte, wäre Mabuse völlig unfähig dazu. Mabuse ist nicht einmal imstande, sich ohne Hilfe im Bett zu bewegen. Außerdem sind die Sicherungsmaßnahmen derart scharf, daß schon sie allein ein Verlassen der Anstalt ganz unmöglich machen. Mabuse ist in einer Abteilung untergebracht, die von einer sechs Meter hohen Mauer umgeben ist. Der Flur, auf den seine Zelle geht, ist außerdem mit einem Eisengitter gesichert. In dem Haus und vor ihm sind ständig Wachen.«
»Kann er durch eine Mittelsperson auf eine andere Weise mit der Außenwelt verkehren?«
Professor Born dachte nach, dann schüttelte er den Kopf und entgegnete: »Nur zwei Menschen bekommen ihn überhaupt zu Gesicht: ich und der Wärter. Dieser ist eine Vertrauensperson, die schon dreißig Jahre in der Anstalt tätig ist. Aber vor allem ist der geistige Zustand des Kranken derart, daß schon von ihm aus der Wille oder die Absicht oder gar der Versuch eines Verkehrs mit der Außenwelt völlig ausgeschlossen ist.«
»Ich erzähle Ihnen, was sich heute begeben hat«, sagte Lohmann und berichtete mit allen Einzelheiten das Erlebte.
Als er geendet, schaute er Professor Born fragend an. Einen Augenblick lang war ihm, als säße ihm gegenüber ein völlig veränderter Mann. Borns Augen hatten einen Blick angenommen, der ins Abwesende schweifte. Etwas Grübelndes stand darin, ja etwas erschrocken Grübelndes …
Als Lohmann kurz darauf über die Straße der nächsten Taxihaltestelle zuschritt, sagte er plötzlich halblaut zu sich, als die Erinnerung an jenen Wechsel in den Zügen Professor Borns kam: »Und wenn vielleicht doch!?« Er fühlte sich in seinem Innern seltsam beunruhigt.
Auch auf Born übten der Besuch des Polizeikommissars und sein Bericht eine Wirkung aus, die nicht abebben wollte und seine Einbildungskraft nicht mehr freiließ. Von einer großen Unruhe getrieben, verließ er bald sein Zimmer und ging zu dem kranken Hoffmeister zurück. Er sah zu, wie die klonischen Krämpfe im Schlaf die eingepreßten Fingerspitzen beben machten. Born hatte den Willen, dem Kranken zu helfen, aber auf einmal fehlte ihm die Kraft, seine Absicht auszuführen. Er konnte sich selbst nicht mehr verstehen.
Warum will ich nicht? fragte er sich. Und antwortete: aber ich will ja. Ich sollte mich fragen: warum darf ich nicht? … Er stellte sich selber die Diagnose »Überarbeitung«. Er ging zu seinem Arbeitszimmer zurück.
Dort trat Professor Born zu dem großen Eisenschrank, fingerte an dem Geheimschloß herum und entnahm dem Schrank eine Mappe. Mit dieser Mappe verließ er das Zimmer und die Anstalt, begab sich aber nicht in seine Villa, die im Garten der Anstalt stand, sondern durchschritt einen Hof, aus dem eine sonst verschlossene Tür in einen großen Gemüsegarten führte.