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Mabuse trug die ohnmächtige Frau mit hastigen Schritten vom Ufer des Rheinkanals fort in das nächste Haus. Es wohnte ein Rietbauer drin.
»Wir sind verunglückt!« sagte Mabuse. Dann stellte er sich ans Fenster und überwachte den Weg draußen, der vom Kanal kam.
Als eine Stunde so vergangen war und die Frau die Augen wieder öffnete, sah Mabuse, wie sie aufzuckte, als sie ihn erkannte, und sich, von einem Schrecken gefaßt, fortwandte. Er ging rasch zu ihr und flüsterte, über sie gebeugt, ihr zu: »Wir sind gerettet! Wir sind aneinander geschmiedet!«
Seine Worte legten sich eindringlich und im Flüsterton mit einer heißen Heimlichkeit auf ihr Gemüt. Sie widerstand dem Mann nicht mehr und begann sich zu erheben. Die Bäuerin versprach ihr beizustehen. Mabuse schaute auf einer Karte das nächste Dorf nach. Dann ging er, sicher, nun nicht mehr unmittelbar verfolgt zu sein. Georg war als Opfer geblieben und hatte ihn gerettet. Schuld daran war die kleine Dummheit der Polizistenuniform.
Das Dorf war nicht ferner als zwanzig Minuten. Es hatte einen Fernsprecher in einem Gasthaus. Mabuse bestellte Kaffee und rief Zürich an. Es kam nach einer halben Stunde. »Wer spricht?« fragte er.
»Rechtsanwalt Ebenhügel, Zürich!« wurde geantwortet
»Ist Spoerri angekommen?«
»Spoerri ist gerade angekommen. Er ist noch hier.«
Spoerri stürzte ans Telephon.
»Spoerri, ich bin verunglückt. Georg ist liegengeblieben. Wir beide gerettet. Kommen Sie gleich mit dem Auto. Bringen Sie ein Reisekleid und einen Reisemantel für meine Frau mit. Ich erwarte Sie um zwei Uhr am Bahnhof von Au im Rheintal.«
»In Ordnung!« rief Spoerri zurück.
Meine Frau, sagte ich, wohl mit Berechnung und aus Vorsicht … meditierte Mabuse dann. Aber er lehnte sich gegen die Bezeichnung auf. Sie klang wie eine Fessel. Dann schüttelte er aber diese Vorstellung ab: Sie ist meine Frau, ein Besitz von mir … Mein! So ist es wahr!
Spoerri kam pünktlich. … »Ich fahre Sie durchs Engadin gleich an die italienische Grenze,« sagte er, nachdem Mabuse erzählt hatte, was vorgefallen war.
Aber Mabuse sagte nur ein Wort dagegen: »Nein!«
»Herr Doktor,« flehte Spoerri, »in der Schweiz können Sie nicht bleiben. Die Münchener Polizei hat Sie jetzt schon hier angekündigt. Wir kämen nicht bis nach Toggenburg. Eher noch nach Deutschland zurück!«
»Etwas anderes will ich auch nicht! Spoerri, das Leben des Staatsanwalts Wenk steht von heut ab unter meiner Garantie. Sie ziehen sofort meine früheren Befehle an die Beseitigungskommission zurück.«
»Merkwürdige Freundschaften schließt der Herr Doktor, hihihi!« lachte Spoerri.
»Ruhig! Unter meiner Garantie!« befahl Mabuse, und sie fuhren durch die flache Ebene zu dem Bauernhaus.
Die Gräfin stieg gleich ein, und das Auto eilte der österreichischen Grenze zu. »Was für Passierscheine haben Sie für uns?« fragte Mabuse.
»Schweizerische! Nehmen Sie bitte!«
Er reichte die beiden Heftchen, in denen eine Anzahl nachgemachter Stempel ein Vertrauen erweckte, das stets getäuscht, aber nie klüger wurde.
Um drei Uhr fuhr das Auto über die Landstraße Bregenz-Kempten nach Bayern hinein. Fuhr an einem Haus vorbei, in dem in der Nacht nach München gemeldet worden war, daß es vorbeigerast sei, und fuhr aufs Württembergische zu.
Die Reisenden übernachteten in einem Städtchen südlich von Stuttgart.
Abends kam Mabuse nochmals zu Spoerri in dessen Zimmer und sagte: »Für mich gibt es jetzt nur noch ein Ding in Deutschland, in Europa … den Staatsanwalt Wenk lebendig in die Hand zu bekommen. Lebendig wie eine Fliege in einem Glas. Merken Sie sich das! Die Gräfin und ich bleiben morgen hier. Sie fahren nach Stuttgart und kaufen um jeden Preis einen Flugapparat mit zwei Sitzen. Wir sind hier sicher. Der Wirt hat nicht einmal unsere Namen einschreiben lassen. Wenn also die Polizei kontrolliert, muß er uns verschweigen, sonst bekommt er eine Buße zu zahlen. Haben Sie Kognak da?«
Spoerri erschrak. Seine Marter kam wieder. Aber er hatte trotzdem drei Flaschen mit aus der Schweiz geschmuggelt. »Natürlich haben Sie Kognak da!« sagte Mabuse, bevor noch Spoerri antworten konnte.
Mabuse trank aus dem Reiseglas, das er stets in der Tasche hatte. Spoerri mußte sich das Wasserglas vom Waschtisch vollgießen.
Mabuse sehnte sich nach einem Rausch, nach einem bleischweren Rausch, der ihn am Hals faßte und unter das Wasser drückte … als gäbe man ihm einen Mühlstein als Schwimmgürtel.
Er sah, als er die zweite Flasche geleert hatte, dass es nicht ging.
»Haben Sie nicht mehr?«
»Es ist alles. Ich wagte nicht mehr mit über die Grenze zu nehmen!«
Da lachte Mabuse.
»Glänzend. Spoerri hat drei Eisenbahnwagen voll Salvarsan, zwei Wagen Kokain, drei Freudenhäuser voll Mädchen über die Grenze gebracht, aber beim Kognak reicht sein Mut nicht über drei Flaschen hinaus. Leeren Sie Ihr Glas in das meine. Verdient er nicht genug am Kognak?«
Als die dritte Flasche leer war, begab sich Mabuse, klar im Kopf wie zuvor, aber feuriger im Blut, zum Zimmer zurück, das die Gräfin neben dem seinigen hatte. Er war verstimmt. Es war ihm wie einem heißgelaufenen Motor. Alles verdampfte auf den in Glut geratenen Zylindern, und sie waren nicht in Gang zu bringen. Er trat zur Gräfin ans Bett. »Wir haben einen Vertrag zusammen. Du hast ihn gebrochen. Du warst bereit, mich zu verraten!«
»Ja!« sagte sie kleinlaut.
Da überfiel den Mann eine mörderische Raserei. Er erfaßte sie aus dem Bett, hob sie, wo er sie zu packen bekam, mit einem Ruck hoch in die Luft über sich, als wollte er sie wie eine morsche Kiste an der Wand zerschellen. Er haßte sie. Sie war die Fleischwerdung aller Schwächen in ihm. Sein Willen war an ihr gebrochen zehn Minuten lang, als das Wachtboot ihnen auf den Fersen war. Und jetzt konnte er sie zerstören und den Kopf, der ihn verraten hatte, an der Wand einschlagen.
Die Frau, mit einem leisen Schrei, sah sich in der Luft hängen und erkannte die Kraft der Arme und die Unbezwinglichkeit des Willens, dem sie anheimgegeben war – – – unentrinnbar! Sie wünschte den Tod. Leise betete sie einen Satz aus dem Ave Maria, den sie behalten hatte aus der Kinderzeit, und wußte, stürbe sie jetzt, so zöge sie den Mann mit in den Tod.
Aber in Mabuse, da er so seine Macht über den Leib der Frau spürte, den er hochgestemmt hielt, kühlte sich unvermittelt der rasende Anlauf. Er hatte wieder den Anschluß an sein Leben, an seine Rettung und ihr Glück. Er ließ sie nieder, fast sanft, und begrub sich in sie mit Taumeln, die seine Adern durchklangen, wie die tausendjährige Eiche im Sturz den Wald.
Die Gräfin blieb mit einer irren Enttäuschung im Leben zurück. Jeden Flecken ihrer Haut fühlte sie erniedrigt, entweiht, verpestet. Und ihr Gemüt floß aus wie ein Bach von Blut … stundenlang … die ganze Nacht hindurch … tränenlos, wo sie nur den einen Wunsch hatte, mit ihren Tränen sich in das Nichts zu erlösen.
*
Am Morgen des nächsten Tages flog Mabuse mit ihr von Stuttgart nach Berlin. Dort lebte er, eingedeckt in die unentwirrbaren Schlüsse, die die Millionenstadt und seine Bande, deren Instinkte er ausbildete und benutzte, um ihn legten, nur dem einen Ziel entgegen. Eine Vorstellung wuchs wie ein einsamer, machtvoller Baum aus seinem Blut und überragte ihn. Ein Gedanke ließ ihn ununterbrochen in seinem eigenen Gehirn herumkreiseln in taumeliger, alles verzehrender Schnelligkeit.
Dieser Gedanke, die Vorstellung, das Ziel bekamen ihr Blut von dem bösesten und stärksten Trieb, der mit diesem Mann geboren worden war: von der Herrschsucht! Es gab einen Menschen in der Welt, der es unternommen hatte, seinen Wegen zu folgen, der ihn in seinem Land aufgefunden und aus seiner Burg aufgestöbert hatte. Es gab einen Menschen nur, der es gewagt hatte, sein Ziel zu stören, ihn zu einer Flucht zu nötigen, die sein Leben in Gefahr gebracht hatte. Es war die Schuld dieses Menschen, daß sich ganze Organisationen in seine Rechtsprechung gegen die Menschen mischten, deren Entfernung sein Willen verlangte.
Er hatte der ersten Frau, die ihn bis auf den Grund seines Wesens in Flammen gesetzt, ihren Willen abgerungen gegen alle Macht, die ihre Persönlichkeit gegen ihn aufgeworfen hatte. Das war sein Stolz. Er hatte ihr Dasein, ihre Schönheit, ihre Selbständigkeit, ihre Ausschließlichkeit in die Hand gerissen und an sich befestigt. Das war wie der höchste geistige Ausdruck des Bildes seiner Fähigkeiten. Aber zwischen ihm und ihr gab es zehn Minuten, in denen sie seinem Zwang entfallen war, in denen er auf den Besitz dieses Symbols aller menschlichen und aller männlichen Kraft hatte verzichten müssen. An diesen leeren zehn Minuten, die wie ein Loch unauffüllbar in seinem Leben lagen, war dieser Mensch schuld …
Seine Flucht mit der Frau aus Deutschland und über den Atlantik bereitete er von Berlin aus so vor, daß nur das Schicksal Tod sie stören konnte. Sein Fürstentum Citepomar wartete mit Urwäldern, schwarzen Tigern, Klapperschlangen, in denen der Tod in einer Sekunde verabreichbar war, mit Gebirgen und Wasserfällen, mit wilden Stämmen auf ihn, um ihn von Europa zu befreien … zu erlösen. Jeder Tag konnte ihn zum Kaiser krönen.
Aber er wäre wie abgestandenes Wasser für den Rest seines Lebens verdorben gewesen, wenn er nicht mit aller Grausamkeit der Herrschsucht und des Hasses diesen Mann an sich gerissen und zerstört hätte. Sein eigenes Leben und das dieses Mannes liefen um die Wette nach Sein oder Nichtsein.
Dieser Mann war der Staatsanwalt Wenk.
Einmal, wie Mabuses Adern schwollen von seinen Plänen gegen ihn, konnte er die Flut nicht mehr von seinem Mund zurückdämmen, und er sagte der Gräfin, die ihn fragte, wann sie Deutschland denn nun verlassen würden: »Ich fange ihn lebend. Ich fange ihn wie eine Meise auf der Rute. Er wird in meinem Leim zappeln. Eher nicht!«
Die Frau wandte sich scheu ab. Sie vermutete nur, wen er meinte. Sie war seit jener Auflehnung und den Hoffnungsaugenblicken auf Freiheit sklavischer ihm verfallen, traumhaft grausamer, dämonischer aufgerührt als zuvor. Sie wagte nicht, etwas zu entgegnen noch zu fragen.
Mabuses Unternehmen gegen Wenk wuchs langsam. Aber Ring um Ring, unaufhaltsam …
Wenk saß in München.
Georg hatte man dorthin ins Gefängnis geliefert. Er spielte den Taubstummen. Seit seiner Verhaftung hatte kein Mensch ein Wort von ihm gehört. Man stellte ihn zusammen mit den Beamten, mit den Kaufleuten aus Schachen, die ihn wochenlang gesehen hatten, mit den Burschen, die er in die Fremdenlegion hatte ausliefern wollen.
Keiner zögerte einen Augenblick, ihn zu erkennen.
Er blieb stumm.
Eines Tages fand man ihn an seinen Hosenträgern erhängt. Er hatte ein Wort an die Wand der Zelle geschrieben, das ein General Napoleons nach der verlorenen Schlacht von Waterloo berühmt gemacht hatte.
Die Durchsuchung der Villa Elise brachte wenig zutage. Man fand nur einige Beweise, dass Mabuse die Gelder, die er durch Spiel und Raub gewann, sofort in einer Schmuggelorganisation in mächtigem Stil weiter vervielfältigte. Man arbeitete zusammen mit den Schweizer Behörden, da man annahm, Mabuse halte sich in der Schweiz auf oder habe sie wenigstens durchreist. Wenk fuhr alle vierzehn Tage nach Zürich. Dann und wann packte man einen Nebenmann von Mabuses Garde. Aber alle waren so streng geschult, dass keiner ein Wort des Verrats über die Lippen brachte.
Von Frankfurt kamen Nachrichten an Wenk, dass dort ein Spieler arbeitete, dessen Ähnlichkeit mit Mabuse so groß war, dass er sofort hinreiste. Aber als Wenk ankam, war nichts mehr von dem Mann in Frankfurt zu spüren. Drei Tage später wurde Wenk aus Köln, dann aus Düsseldorf, darauf aus Essen und schließlich aus Hannover alarmiert.
Wenk war immer unterwegs. Es bestand für ihn kein Zweifel, dass es Mabuse war, der so vor ihm davonwich. Er mußte Aufpasser in München haben, die Wenk beobachteten und ihm folgten. Wenk ließ keine Vorsicht außer acht. Er wandte alle Listen an, die er erfinden konnte. Er benutzte Züge, Autos, Flugzeuge für jede Reise durcheinander. Er kontrollierte, als der Verdacht sich nicht mehr abweisen ließ, dass Mabuse unter Wenks eigenen Leuten Helfershelfer hatte, diese aufs hinterlistigste. Er wechselte seinen Chauffeur, seine Haushälterin, änderte Fernsprechnummer und Wohnung, logierte im Hotel, bei Freunden, auswärts.
Sobald er aber in die Stadt kam, aus der der Spieler gemeldet wurde, war dieser spurlos verschwunden und tauchte einige Tage später in der Nachbarschaft auf. Das ganze Reich dehnte das Dasein und Wirken des Räubers schon zu einer Sage aus.
Dr. Mabuse, der Spieler! zog wie eine Ballade, aus der alle Dämonie des tiefsten Widerstandes der Menschen gegen Gesetz und Ordnung in die Fantasien verschwelte, von Ort zu Ort.
Die Polizei schritt in allen Städten gleich zu Massenverhaftungen. Aber sonderte man die Eingefangenen aus dem Netz, so war nie dieser Einzige dabei, um den man alle Verbrecher sämtlicher Gefängnisse hätte laufen lassen wollen. Aber eines fiel Wenk bald auf – die Geographie! Unverkennbar zog Mabuse im Kreis durch das Reich auf Berlin zu.
Wenk erbat von seiner vorgesetzten Behörde Urlaub aus Bayern und setzte sich mit den preußischen Gerichten ins Einvernehmen, die ihn als Spezialisten nach Berlin holten.
Er reiste sofort hin und mietete sich im Zentrum ein. Mabuse sah ihn aus dem Bahnhof gehen und kannte eine Stunde später seine Wohnung.
Nun hatte er ihn hier, wohin er ihn zur Vollendung seiner Rache gewünscht und gelockt hatte. Mabuse hatte in Wirklichkeit Berlin nie verlassen. In allen den Städten, in denen Wenk seiner Spur nachging, waren falsche Mabuses aufgetreten, Leute seiner Truppe, von ihm unterrichtet und abgesandt. München war zu klein für das, was Mabuse vorhatte. Die Abgründe Berlins waren das sichere Jagdgebiet.
Die Jagd begann schon am zweiten Tag.
Wenk hatte diesen Tag über mit einem jüngeren Kollegen von der Berliner Polizei seine Akten über den Fall Mabuse durchgesprochen. Sie hatten sich über einen Wirkungsplan unterhalten, waren aber in ihren Gesprächen zu keinem Ergebnis gekommen als zu dem Entschluß, in der ersten Zeit den Spieler selber handeln zu lassen. Ins Blinde hinein nach ihm zu zielen, war höchstens angetan, den Stand des Jägers vorzeitig zu verraten.
Abends, nachdem Wenk in der »Traube« zu Nacht gegessen hatte, ging er in ein Café und dann, ermüdet von den langen Gesprächen, durch die Taubenstraße seiner Wohnung zu. Da hielt ihn ein Mann an, in einer Haustür, entfernt von der Laterne. »Bitte!« sagte der Mann.
»Was wollen Sie?« fragte Wenk unwillig zurück.
»Ist dem Herrn vielleicht Äther gefällig?«
Wenk ging weiter, ohne zu antworten. Er sah, der Mann folgte. Er kam dann aber in das Leben der Friedrichstraße und verlor ihn.
Wenk machte sich bald Vorwürfe, so davongegangen zu sein. Er hätte mit diesem Hausierer der Lasterhaftigkeit sprechen sollen. Denn der kam aus dem Land, in dem Mabuse daheim war. Er wollte wieder zurück, ließ sich aber von seiner Müdigkeit abhalten und ging nach Hause.
Am nächsten Abend kam er denselben Weg von der »Traube« durch die Taubenstraße. Aber der Mann war nicht da. Wenk verweilte noch hin und her. Wie er dann in die Nähe seiner Wohnung am Gendarmenmarkt kam, trat ihm ein Mann aus einer Haustür entgegen und flüsterte:«Wünschen Sie Nackttänze zu sehen?«
Wenk blieb stehen. Er sagte: »Sie kommen mir gerade recht. Ich bin kein Berliner. Ja, so ein echtes Berliner Nachtleben möchte ich einmal mitmachen. Wo sind Ihre Tänzerinnen? Los!«
»Foljen Sie mir. Ick jeh voran! Und wo ick rin mach, da man fix hinterher vonwejen die Polizei!«
Wenk versprach es zu tun.
Der Mann ging um die Ecke, horchte stehenbleibend, ob er folgte, und ging dann weiter. Auf einmal war der Mann verschwunden. Wenk ging noch einige Schritte geradeaus. Der Mann mußte doch in eine der nächsten Haustüren eingetreten sein. Wenk verlangsamte seine Schritte, als er ihn nicht fand. Er schaute dann spähend rundum.
Plötzlich sagte in seinem Rücken die Stimme des Mannes leis und vorwurfsvoll: »Det nenn ick nu jar nich fix. Sie wollen sich wohl von die Polypen rankriejen lassen. Also man rasch herin!«
Der Mann schob ihn in ein Haus weit zurück, zog ihn in eine Tür. Die Tür öffnete sich in einen finstern Flur. Unversehens und geräuschlos schloß sie sich sofort hinter ihm, und im selben Augenblick war der Flur beleuchtet. Vom Flur ging es in ein Wohnzimmer, von dort in einen kleinen Saal, der gedrängt voll Menschen saß.
Zwei Herren, nahe der Tür, machten Wenk liebenswürdig Platz.
Der Mann war verschwunden.
Was Wenk sah, war eindeutig und hatte nur Interesse in der Heimlichkeit, in der es geschah.
Er horchte den Gesprächen seiner Tischnachbarn zu. Der eine sagte: »Also mich interessiert daran nur, wie dieser Unternehmer hundert und mehr Personen so jahraus, jahrein in das Haus locken läßt, ohne dass die Polizei es merkt. Nu, sag' du mir das mal als Mann vom Fach!«
Der andere antwortete in einem fremden Deutsch: »Das weißt du ja nicht, ob das Lokal der Polizei bekannt ist oder nicht. Es gibt solche Anstalten, die die Polizei duldet, weil sie für sie Verbrecherfallen sind, ja geradezu Verbrecherfallen! Bei uns in Budapest …«
Wenk horchte gespannt zu.
Die Herren zogen ihn in ungezwungener Weise bald selber ins Gespräch. Man nannte sich Beruf, dann Namen.
Der eine der Herren war, wie Wenk aus dem Gespräch gleich vermutet hatte, ein höherer Polizeibeamter. Man traf sich öfter.
Der Ungar erzählte interessante und verwickelte Fälle aus seiner Praxis. Er erzählte von den Lasterhöhlen von Budapest, streifte auch die heimlichen Spielhäuser, die seit Kriegsausgang überall so überhand genommen hätten, und ereiferte sich gegen die immer unverschämter werdende Kühnheit, mit der Verbrecher und Gesindel hervorträten.
Wenk, in einem letzten uneingestandenen Mißtrauen, verhielt sich vorsichtig und behauptete, er sei nur auf Urlaub in Berlin. Seine Tätigkeit liege in München. Aber Berlin, als das größte Sumpfnest, sei gerade für ihn als Münchener Staatsanwalt eine gute Schule.
Wenk streifte das Dasein Mabuses, ohne seinen Namen zu nennen und nur einige seiner grauenhaften und frechen Taten erzählend.
»Wir haben,« nahm ihm der Budapester das Wort ab, »bei uns jüngst einen ähnlichen Abenteurer festgemacht, und zwar auf eine etwas extravagante und nicht gerade gesetzmäßige Weise. Aber wir kamen anders nicht mehr weiter. Wie bei Ihnen ist auch in Ungarn die Zuhilfenahme der Hypnose als rechtliches Zwangsmittel verboten. Wir hatten den Mann, von dem wir ziemlich genau wußten … aber Herr Staatsanwalt, Sie verraten mich nicht, doch mich rechtfertigt das Interesse, das Sie solchen abseitigen Existenzen entgegenbringen, beruflich entgegenbringen müssen … also ziemlich genau wußten, daß er derjenige sei, der eine Bande leitete, auf deren Lasten schon mehrere Morde lagen. Wir hatten ihn, wie gesagt, im Gefängnis. Er stellte sich taubstumm. Wir konnten seine Papiere nicht nachkontrollieren. Niemand kannte ihn. Aber wir waren fast sicher. Das ist eine ganz scheußliche Lage für einen Fachmann, wie? Denn wenn er vor die Geschworenen gekommen wäre, wäre die Gefahr eines Freispruchs aus Mangel an Beweisen Sicherheit geworden. Das wollte mir nun gar nicht schmecken. Ich hatte über ein halbes Jahr drangesetzt, ihn hochzukriegen. Sein Unschädlichmachen war meine Leistung. Da hab' ich ganz etwas Verwegenes unternommen. Einer meiner Freunde hatte hypnotische Gaben. Er war Rechtsanwalt und hatte manchmal einiges von seinen Fähigkeiten in Privatgesellschaften vorgeführt. Ich überredete ihn, mit ins Gefängnis zu kommen. Er sagte aber: Ich mach's von draußen! Und wirklich: eine Viertelstunde später wußte ich, daß wir wirklich den Bandenchef hatten, und es wurden mir Dinge verraten, die mir erlaubten, ihn in kurzem an den Strick zu liefern.«
Der Ungar wurde Wenk bei dieser Erzählung unangenehm. Er empfand einen starken seelischen Widerwillen gegen ihn. Aber er konnte sich nicht erklären, was einen solchen Umschwung in seinem Gefühl verursacht hatte. »Interessieren Sie dergleichen mit suggestiver Kraft ausgestattete Persönlichkeiten?« fragte der Polizeidirektor.
»Ungemein!« antwortete Wenk.
»Möchten Sie einmal mit meinem Freund zusammenkommen und etwas von seinen Gaben sehen?«
»Ist er denn in Berlin? Gewiß, das wünsche ich aufs lebhafteste!«
»Ja, er ist hier. Er hat seine Praxis aufgegeben und zeigt seine Fähigkeiten öffentlich. Er ist rasch berühmt geworden. Den Namen Weltmann haben Sie gewiß schon gehört!«
Wenk genierte sich Nein zu sagen. Er antwortete mit einem halb unterdrückten: »Gewiß!«
»Nun, dieser berühmte Weltmann ist es. Sie wissen, er ist bekannt, weil er nur eine Hand hat. Die andere liegt in den Karpathen – 1915! Also abgemacht! Ich werde ihn morgen benachrichtigen. Haben Sie Telephon?«
Wenk nannte seine Nummer.
Die beiden Herren gingen dann in ein Haus, in dem Äther, Kokain und Opium zu bekommen waren, im Durchschnitt aber viel handgreiflichere Laster gepflogen wurden.
Am nächsten Tag schon wurde Wenk gerufen. »Hier Polizeidirektor Vörös! Es trifft sich wie bestellt für Sie, Herr Staatsanwalt. In einem Privathaus bei einem Landsmann von uns, über den ich Ihnen lieber entre nous etwas Persönliches sage, gibt Weltmann heut abend eine Soiree. Es genügt, daß Sie den Wunsch äußern, und Sie können sich als eingeladen betrachten. Ohne weitere Formalität. Es ist ein sehr gastliches Haus. Sie werden sich nicht im geringsten als Fremder fühlen. Es sind mindestens sechzig bis siebzig Leute geladen. Ich übernehme alles Weitere, und wenn es Ihnen recht ist, hole ich Sie per Auto um neun Uhr ab. Die Villa liegt etwas weit draußen. Hinter Nikolassee.«
»Ich danke Ihnen vielmals. Sie überhäufen mich mit Liebenswürdigkeiten,« antwortete Wenk zurück. »Und ich kann es Ihnen gar nicht entgelten.«
»Wir Ungarn halten es immer so. Es macht uns Freude,« lachte die andere Stimme zurück. »Also es ist abgemacht!«
»Abgemacht!«
Wirklich, wie liebenswürdig die Ungarn sind! sagte sich Wenk. Er fand sich undankbar, daß er auf einmal seine Sympathie für den Kommissar aufgegeben hatte. Es war ihm peinlich vor sich selber.
Den Nachmittag verbrachte Wenk im Archiv der Kriminalpolizei, wo er zusammen mit dem Herrn, der mit ihm den Fall Mabuse behandelte, die Lichtbildersammlung des Erkennungsdienstes durchschaute. Gesicht an Gesicht zog an seinen Augen vorbei. Er wollte nicht aufhören, bis er die ganze Sammlung durchgesehen hatte, und als er nach Hause kam, ganz ermattet von der langwierigen Arbeit, hatte er gerade nur noch Zeit, den Gesellschaftsanzug anzulegen.