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[XI]

Aus dem schimpfenden Durcheinander, aus dem Chaos von verächtlichen Blicken und Selbstunsicherheit löste sich Graf Told wie von einem Traum und schlich ins Vestibül. Er dachte an seine Frau. Aber er hatte nicht den Mut, sich nach ihr umzuschauen, noch nach ihr zu fragen. Vor dem Haustor stand sein Auto. Der Chauffeur fuhr mit der Hand an den Schlag. Aber Told winkte ab: »Warten Sie auf die Frau Gräfin!«

Er ging in die Stadt und mietete das erste Auto, das kam, um nach Hause zu fahren. Weiß ich denn, was geschah? fragte er sich ununterbrochen. Es ist über mich hergefallen … Es hat meine Hand auf den Tisch geschlagen … Weiß ich denn, was geschah? … Wenn es nur ein schlimmer Traum wäre!

Aber es war kein Traum. Er kam vor seiner Villa an. Er mußte aussteigen. Er ging den Garten entlang und hinein. Der Diener nahm seinen Mantel. Der Graf begab sich in das Zimmer, in dem er mit seiner Frau, wenn sie zusammen irgendwo gewesen waren, noch etwas vor dem Zubettgehen zu verweilen pflegte und aus den Erlebnissen des Abends einer dem andern das nachmalte, was ihm etwas gegeben hatte. Er hing mit einer verliebten Pedanterie stark an diesem Zusammensein.

Heute war er allein da. Wo ist meine Frau? fragte er sich, unbewußt und erstaunt. So stark floß um ihn die Stimmung der vielen zarten Erinnerungen des Raumes. Er fühlte sich enttäuscht, daß sie ihm in dieser grausamen Stunde nicht an der Seite war. Es war das erste schwere Erlebnis seines Daseins.

Aber zugleich dünkte es ihn selbstverständlich, daß sie sich von ihm getrennt hatte. Er kam sich vor, als habe das unnennbare Ereignis am Spieltisch in der Wendelschen Villa ihn in Schmutz gewalkt. Es roch schlecht aus ihm. Nein, Dusy soll fort von ihm sein! Es kam eine Prüfungszeit. Sie soll fort sein, bis er sich gereinigt habe.

Aber wovon sollte er sich reinigen?

Und auf einmal überfiel ihn, lastend und kalt, was er getan hatte, wie eine einbrechende Eisdecke. Er hatte es getan! Ja, er hatte es getan! Er hatte Karten unten hingemischt und hatte Karten unten herausgezogen. Er hatte damit Geld gewonnen. Aber er hatte ja kein Geld gewinnen wollen! Was war geschehen? Kann keiner mir helfen? Ich habe etwas getan, was ich nicht tun wollte. Ich habe mich aus der Gesellschaft ausgestoßen! Ich werde bis ans Ende meines Lebens ein Falschspieler sein. Kann niemand mir helfen?

Ich weiß, daß ich es getan habe. Aber ich weiß nicht, wie ich es getan habe! Und nicht weshalb und nicht wozu. Ich werde verrückt. Ich verliere mein Vertrauen in mich. Ich kann keinen Augenblick in meinem Leben für das, was ich tue, sicher sein. Entsetzlich! Grauenhaft! Es graust mir vor mir selber. Wie kam ich dahin? Das da ist ein Bild von Kokoschka! Das ist eine Plastik von Archipenko! Das werde ich immer wissen. Aber was da allein aus diesem Kopf, aus diesem meinem Kopf herausschleicht, das kann ich nun nie mehr in meinem Leben sicher wissen. Ich behalte meine Augen, mein Gehör, mein Gefühl … Aber mein Hirn verfault. Irrenanstalt! Mein Körper geht im Licht des Tages. Und mein Gehirn ist in Zwischendunkelheit eingehüllt. Kann denn keiner mir helfen?

Er kämpfte mit den Tränen. Aber er wagte nicht einmal, zu weinen. Er wußte nicht: Täuscht mich nicht vielleicht mein Bewußtsein über das, was ich tue? Und wenn ich weine, geschieht es dann vielleicht nicht in Wirklichkeit, daß ich ein Bild zerschneide, das ich bisher geliebt und angebetet habe, oder meinen Diener einen Mörder nenne oder der Kammerzofe Dusys Unzüchtigkeiten sage? …

Und dann war es ihm, als bräche er zusammen über den einen Namen: Dusy! Kannst du mir nicht helfen, Dusy, du? Wirst du nicht kommen? Glaubst du mir nicht? Hilfst du mir nicht!

Er klingelte und lief dem Diener entgegen. »Die Frau Gräfin?« rief er.

»Die Frau Gräfin ist noch nicht zurück!«

»Nicht telephoniert? Hat sie nicht …«

»Nein, Herr Graf. Aber Herr Doktor von Wenk hat vor einer Stunde angerufen. Die Frau Gräfin läßt er um die Ehre bitten, ihn morgen vormittag zu empfangen. Seine Rufnummer ist am Fernsprecher aufgeschrieben.«

»Gehen Sie!« sagte der Graf.

Ich gehe zu Dr. Wenk … ja, ich gehe zu Dr. Wenk … Und dann rief er laut ins Zimmer hinein, gepeitscht von tausend Unsichtbarkeiten, gestäupt von zehntausend Ängsten:

»Sonst muß ich mich aufhängen! Ich muß es einem Menschen sagen, einem Menschen! …«

Er stürzte zum Fernsprecher. Er rief die aufgeschriebene Nummer an. »Hier Staatsanwalt Wenk!« rief eine fremde, ferne Stimme, so daß Told zu erzittern begann.

Aber er raffte alle Energie und Selbstverleugnung zusammen und antwortete: »Kann ich jetzt gleich mit Ihnen sprechen?«

Ihm war in furchtbarer Not, als schmölzen vor dem Fieber seines Verlangens die übermittelnden Drähte und es könne keine Antwort durch sie kommen. Er atmete auf, als er dann hörte: »Mit Vergnügen! Ich erwarte Sie!«

»Fritz!« schrie er hinaus. »Richten Sie mir das kleine Auto!«

Und er fuhr zurück nach München.

Wenk glaubte, er käme im Namen der Gräfin und es sei im Gefängnis etwas geschehen, was seine Beziehungen zu ihr durchschnitte.

»Herr Graf … ich vermute, es war ein gefährliches Experiment! Die Frau Gräfin …«

»Nein, nein,« rief Told dagegen, »ich, ich … Meinetwegen komme ich. Mir ist etwas geschehen!«

Er erzählte. Er erzählte auch, wie er den Abend über diese unnatürliche Bestrahlung seines Hinterkopfes empfunden hätte. Das sei wohl ein Vorbote des kommenden Unglücks gewesen.

»Seien Sie mir nicht böse, Herr Doktor Wenk. Ich bin ein Fremder. Ich überfalle Sie. Aber ich hätte mich aufhängen müssen, wenn ich es nicht gleich in der Nacht einem Menschen gesagt hätte. Darf ich fortfahren? Und diese starren Strahlen, wie eine glühende Eisenstange am Hinterkopf, flossen dann so weich und so wohlig lau in meinem Innern aus. Es war, als sei es auf einmal ein warmes Bad. Ich hatte die Empfindung, ich sei vor irgend etwas, was vor mir gelegen, gerettet, und in diesem Augenblick, der mir so wohl tat – da geschah es! In der ersten halben Stunde habe ich es geleugnet vor mir selber. Als ich nach Hause ging. Aber es ist geschehen. Es ist wahr! Es ist nicht rückgängig zu machen, nicht vor Menschen, nicht vor mir selber.«

Wenk war sofort sein Erlebnis mit dem alten Professor gegenwärtig. Um Gottes willen, schrak er auf, sollte der auch hier … ? Die Gräfin und die Carozza! Er fragte Told:

»Haben Sie einen Verdacht?«

Der Graf verstand die Frage nicht. »Einen Verdacht? Wie meinen  … daß ich früher schon so gewesen bin? Krank? Nein, niemals!«

»Nein, einen Verdacht gegen eine bestimmte Person, die zugegen war?«

»Der Gedanke ist mir nicht gekommen. Ich verstehe nicht, wie ein anderer … Nein … Gegen niemanden!«

»Ist niemand in der Gesellschaft gewesen, der nicht hinzupassen schien … der Ihnen verdächtig vorkam? Der sich anders benahm als die andern Geladenen?«

»Es war ein kleiner Kreis persönlicher Bekannter des Geheimrats. Nein, niemand!«

Wenk ließ den Verdacht fallen. Wie hätte er auch selbst die Anwesenheit des gesuchten Verbrechers mit dem Falschspiel des Grafen zusammenbringen können! Es lag so scheinbar ein seelisches Entgleiten der Macht über den Willen vor. Ein Vorgang, der sich im Unterbewußtsein einer ans Krankhafte streifenden, subtilen Persönlichkeit abspielte, den das Hirn nur über seine Wirkung auf die Mitspielenden registriert hatte. Der Graf mußte zu einem Psychiater gehen. Es war auffallend, daß er zu ihm, dem Kriminalisten, kam. Aber er wollte nicht fragen.

Told versank in Schweigen. Der Staatsanwalt überließ ihn sich selber. Dann erhob sich der Graf unvermittelt und sagte: »Es kommt mir zum Bewußtsein, daß ich, ohne jedes Recht an Sie zu haben, Ihre Nachtruhe gestört habe. Ich bitte Sie aufs Herzlichste, mir das nicht übelzunehmen. Im Unglück ist es, als fiele die Seele in eine Schlucht. Und da greift das Bewußtsein nach dem ersten Halt. Sie hatten angeläutet. Es war eine Verbindung zwischen Ihnen und … meinem Haus. Und da …«

Er schlug um: »Aber sagen Sie, spreche ich jetzt wirklich aus, was ich sagen will, oder verrichte ich irgend etwas Unsinniges? Sehen Sie, das ist das Furchtbare des Erlebnisses. Mir steht nun als Lebensbegleiter der Psychiater bevor.«

»Nein, Herr Graf, Sie sprechen durchaus klar und sagen gewiß, was Sie sagen wollen. Ich bitte Sie, über mich zu verfügen. Irgendwo rührt mein Beruf an die Sphäre des Psychiaters; er ist vielleicht tiefer noch und jedenfalls an das Unheimlichere und Geisterhaftere des Menschen gebunden. Ich bedaure, daß der Anlaß Ihres Besuchs ein so unglücklicher ist, sonst hätte ich mich freuen können.«

Indem Wenk das sagte und damit ausdrücken wollte, daß das Abseitige, geistig oder seelisch Ungewöhnliche, Verfeinerte ihm nahe ging, bekam er den Einfall, den Grafen in den Kreis seiner Absichten einzuweihen. Told war ein Mann von Welt. Er gehörte der Sphäre an, von der aus Wenk wieder das Leben des Volkes mit edleren Eigenschaften durchsetzen zu können glaubte. Er hatte in den praktischen Erfordernissen der letzten Monate sich um diese ideelle Seite seiner Aufgabe wenig kümmern können. Die Nacht war angebrochen, hatte in einer unerwarteten Wendung einen Menschen zu ihm gestellt. Diesem Menschen war damit gedient, nicht allein gelassen zu werden. Das alles sagte Wenk dem Grafen.

»Man spricht von unserer Klasse als von einem ›besseren‹ Stand. Diese Bezeichnung, jedenfalls aus einer Wahrheit entstanden, müßte wieder lebendig gemacht werden. Unsere Klasse, frei von dem Kampf um die Sorgen sozialer Verbesserungen, ist mehr als vorher auf die Pflege geistiger Entwickelung und geistigen Besitzes angewiesen. Sie sollte die edeln Eigenschaften in sich wieder pflegen und sie nach außen wenden. Geistespolitik sollen wir treiben. Seelenpolitik!«

Der Graf Told hatte sein Leben vornehm geführt, vornehm in den Formen und vornehm in der Gesinnung. Aber er hatte sich Liebhabereien hingegeben aus Mangel an ernsthaften, seine Persönlichkeit bindenden Verpflichtungen. Er hatte sogenannte expressionistische Kunstwerke gesammelt; das waren Kunstwerke, deren Wert noch kein Maßstab gegeben war. Er hatte die jungen Dichter gepflegt, die anders waren, weil sie aus sich heraus nichts waren als Durchschnitt. Sie wurden von Leuten ins Licht gesetzt, die Geschäfte auf Entdeckungen machten. Der Kampf um das Wachsen, um das Neuwerden in der Kunst war nicht weniger zu einer Schieber-Angelegenheit gemacht worden als irgendwelche Waren … Nicht die schlechtesten reichen Leute wurden hineingelegt, sondern die, die für ihren Reichtum einen Kanal suchten, der das Geld zu Schönem und Geistigem umgemünzt ihnen zurückbrachte. Aber sie wurden ein Opfer der Zeit. Die ganze Zeit löste hysterisch wie eine schreiende Frau ihr ganzes Bewußtsein in der einen Vorstellung auf. Das Geld verkam; um so unbegrenzter wurde seine Macht über die Menschen. Wie kranke Frauengier den Schoß verkommen ließ und ihn immer unstillbarer machte. Alles war krank.

Da lag die Berührung der Liebhabereien des Grafen und seinesgleichen mit der Zeit. Die Zeit benützte, was edel an ihnen war. Die Propagierer der neuen Bilder waren Börsenjobber. Sie warfen die Spekulation um Geld zusammen mit geistigen Bestrebungen. Die »Blauen Pferde« hat man einmal für zweihundert Mark haben können. X. kaufte sie für achthundert. Heute sind sie für zweihunderttausend nicht mehr käuflich. Das waren die Anekdoten, die sie vermünzten.

Wenk und der Graf sprachen stundenlang so. Der Graf widerstand. Er hatte etwas von der Dialektik der Künstler gelernt, deren Bilder er kaufte.

»Man wird das Wort prägen,« sagte ihm einmal Wenk, »er spricht so gut wie ein Expressionist! Und übrigens beginnt diese Kunstgattung sich mit einer andern geistigen Gesellschaft unserer Zeit zu verschwägern, die auf ähnlichen Voraussetzungen steht: mit den sogenannten Theosophen. Sie werden es erleben, daß der Expressionist eo ipso auch Theosoph sein wird oder Anthroposoph. Nicht weil sich diese Gebilde innerlich nahestünden, sondern man wirft die Geschäfte zusammen. Sie werden heute stets finden, daß diejenigen, die am meisten über den Materialismus unserer Zeit wehjammern, ihm in ihrem Privatleben durchaus ergeben sind. Im übrigen braucht es bei den einen wie bei den andern ja durchaus nicht immer um Geld zu gehen. Herrschsucht über Geist und Seele ist auch ein Element dieser Zeit, die die Herrschsucht der einen gegen die der andern tauschte. Man fischt halt jetzt überall im Trüben der Verhältnisse … Und uns Menschlichen bleibt immer nur der Krieg. Gegen die neben uns, gegen die mit uns und gegen uns selber. Unserer Klasse gehört jetzt der Krieg gegen uns selber!«

Einmal sagte Wenk dann dem Grafen, er möge doch bei ihm übernachten, da es so spät geworden sei.

Told antwortete unwillkürlich: »Ja, aber meine Frau  …«

Aber dann schaute er Wenk an. Er schwieg. Sein Gesicht war durchzuckt vom Widerschein der Qual. Erst nach einer Weile vermochte er zu sprechen: »Sie hatten es mich vergessen machen, Herr Doktor Wenk! Ich werde für diese Nacht, die ich Ihnen raubte und die Sie mir so menschenvoll schenkten, so lang ich lebe, in Ihrer Schuld sein. Ich weiß nicht, wie ich sie überdauert hätte – allein! Jetzt ist sie hinter mir wie ein Geschenk. Ich nehme Ihr Gastbett an.«

»Wäre es Ihnen,« fragte am nächsten Morgen Wenk den Grafen, »unangenehm, wenn ich mit dem Geheimrat Wendel Ihr Erlebnis bespreche?«

»Nein,« antwortete Told. »Ich bitte Sie, es zu tun!«

Der Graf zögerte, weiterzusprechen. Wenk sah es und wartete. Er sagte dann, den andern erratend: »Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung. Wenn Sie noch einen Wunsch hätten …«

Da antwortete Told rasch und errötend: »Ja … auch mit meiner Frau zu sprechen, vor der ich mich so … schäme!«

»Sie brauchen sich nicht zu schämen.«

»Meine Frau hat einen so starken Lebenswillen. Unser Leben war ihr, glaube ich, immer ein wenig zu schwach, zu blaß … Es fragt sich, ob ihr zugemutet werden kann, es weiter mit einem Mann zu führen, der nun doch nur ein Kranker ist!«

»Ich werde mit ihr sprechen!«

Der Geheimrat empfing Wenk sofort. So liebenswürdig er konnte und mit der gütigen Ironie, mit der er alle Erscheinungen des Lebens abkantete, erklärte er Wenk, seine Auffassung sei, der Graf habe spielen wollen, abenteuern wollen. Er habe das wohl seiner Gattin abgeschaut. Die Kraft der Persönlichkeit seiner Frau habe er erreichen wollen, indem er von dem Weg des Anstands ab auf diesen abenteuerlichen Einfall fiel, falsch zu mischen und Geld zu gewinnen. Es sei nicht wegen des Geldes gewesen, gewiß nicht! Er habe eben nur ein Abenteuer der Phantasie erleben wollen, so wie er es an seiner Frau sah. Diese aber vermochte durch ihre persönlichen Kräfte sich stets aus der Schlinge zu ziehen. Dem schwachen Grafen aber sei schon der erste Versuch ins Unglück ausgeschlagen. Seine Phantasie sei wohl erfüllt gewesen mit den Räubergeschichten von Falschspielern, die jetzt in Kurs sind. Die ganze Sache falle schließlich auf seinen Spielnachbar, den seine Geldgier trieb, aus dem Erlebnis der Phantasie eines schwächlichen Mannes einen gesellschaftlichen Skandal zu machen.

»Darf ich erfahren, wer dieser Nachbar war, Herr Geheimrat?«

»Ja, jetzt,« lachte Wendel, »wo ich so unfreundlich über ihn sprach, kann ich ihn nicht verraten. Er ist übrigens ein harmloser Familienvater, ein Professor an der Anatomie.«

»Es ist nämlich alles viel ernster, als Herr Geheimrat wissen können. Der Graf hat die Nacht bei mir zugebracht, wohin er vor sich selber geflohen war. Er hat mir den Fall bis in die geringsten Einzelheiten erzählt, und ich habe gar keinen Grund, an die geringsten entstellenden Tendenzen bei ihm zu glauben. Er war durch und durch zermürbt und zerstört von dem Ereignis. Es scheint sich um ein geistiges Versagen zu handeln, um ein plötzliches Ausschalten der Gehirnkontrolle. Könnte nicht unter Ihren Gästen ein Mensch gewesen sein, der vielleicht einen besonderen Eindruck auf den Grafen machte?«

»Nein, es war weder ein expressionistischer Dichter, noch ein solcher Maler bei mir,« lächelte der Rat.

»Bitte, verübeln Sie mir meine Fragen nicht als zudringlich, Herr Geheimrat. Sie glauben nicht, daß ein solcher Mensch anwesend war?«

»Nein, das glaube ich nicht. Alle Gäste sind mir seit langem persönlich bekannt. Sie wissen ja, um welchen Anlaß es sich handelte. Diese Somnambule, nicht wahr! Es waren Fachleute, Professoren, einige Künstler von Namen und persönliche Freunde. Dann ein Doktor Mabuse, den ich noch nicht sehr lange kenne, dessen außergewöhnliche praktische Fähigkeiten ich aber sehr schätze. Er ist psychopathologischer Arzt. Was mich drauf bringt, daß man den Grafen Told vielleicht ihm zuschicken soll, wenn die Sache so liegt, wie Sie eben erzählten. Der Graf ist der Sohn meines Jugendfreundes. Ich nehme sehr Anteil an ihm. Raten Sie ihm in meinem Namen, er solle zu Doktor Mabuse gehen. Ich gebe ihm einen Brief an ihn. Allerdings kenne ich nur seine Fernsprechnummer.«

Wenk ging.

Vom Geheimrat fuhr er nach Tutzing in die Toldsche Villa. Er hoffte dort die Gräfin zu treffen. Aber der Diener sagte ihm, weder die Gräfin noch der Herr hätten die Nacht in der Villa zugebracht.

Darauf begab sich Wenk in seine eigene Wohnung zurück, in der Told blaß, verhärmt und mit zerrissenen Gesichtszügen auf ihn wartete. »Ich habe es gewußt,« sagte er, als Wenk ihm mitteilte, die Gräfin sei nicht nach Hause gekommen. »Aber man hofft immer auf das Unwahrscheinliche. Und der Geheimrat?«

»Ich habe ihm wiederholt, was Sie mir erzählt haben. Er hatte das Erlebnis anders, aber als nicht sehr böse eingeschätzt. Er rät Ihnen, sich von einem Psychopathologen behandeln zu lassen, den er kennt. Er gab mir einen Brief mit an ihn, sehen Sie!«

»Doktor Mabuse … der war gestern ja auch in der Gesellschaft!« sagte der Graf, als er die Aufschrift las.

»Soll ich zu ihm gehen?« bot Wenk an.

»Nein, Herr Doktor, einmal muß Ihre Liebenswürdigkeit aufhören. Ich muß mich ja auch entschließen, meinen Fall als etwas nun wirklich in meinem Leben Vorhandenes in meine täglichen Verrichtungen aufzunehmen. Ich werde, da seine Fernsprechnummer gerade dasteht, den Doktor Mabuse anrufen. Wenn Sie erlauben, gleich von hier aus.«

»Herr Doktor Mabuse,« sagte ihm Told im Fernsprecher, »Sie waren gestern zugegen, wie mir der Unfall beim Geheimrat Wendel zustieß …«

»Ja!«

»Ich bedarf Ihrer ärztlichen Hilfe. Geheimrat Wendel gab mir einen Brief an Sie. Darf ich ihn Ihnen bringen?« Die andere Stimme antwortete schroff: »Nein. Ich behandle nur im Haus des Patienten selber. Wie ist Ihre Adresse? Erwarten Sie mich morgen vormittag elf Uhr. Wiederholen Sie: um wieviel Uhr?«

»Um elf Uhr!« wiederholte Told erschrocken bis ins Herz hinein.

Dann verließ er den Staatsanwalt.


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