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An diesem Morgen war Mabuse bei Told gewesen. »Es geht Ihnen schlecht, sehe ich,« stürzte er über ihn. »Die Pupillen Ihrer Augen haben sich unnatürlich erweitert!«
»Ist das ein Zeichen …?« wollte Told eingeschüchtert fragen.
»Ja. Reden Sie nicht über Ihren Zustand. Schließen Sie ihn aus Ihren Gedanken aus. Wo ist Ihre Frau?«
Told, aufschreckend, vermochte nicht zu antworten.
»Ihre Frau wollte wohl nicht mehr mit Ihnen leben … leben!« wiederholte der Arzt grausam. »Was? Sie haben Ihre ganze Vergangenheit zu zerstören. Alle Verbindungen aufzugeben. Rufen Sie Ihren Diener!«
Told klingelte. Der Diener kam. Der Graf verwies ihn mit einer Handbewegung an den Arzt.
»Hat jemand telephoniert?«
»Nein, Herr Doktor!«
»Hat jemand aus dem Haus telephoniert?«
Told sagte: »Ich!«
»Wem?«
»Herrn Doktor von Wenk!«
»Weshalb?«
»Ich wollte mit ihm sprechen!«
»Was?«
Der Graf verwirrte sich: » … Nur … so sprechen! Mit einem Menschen sprechen!«
»Ist Ihr Diener … bin ich ein Auerochs?« fragte Mabuse grob. »Sie können mit mir sprechen! Was haben Sie auf der Leber?«
Der Graf starrte weg. Er hatte nicht einmal mehr den Mut, seinen Arzt anzuschauen … Wird er mich heilen? fragte er sich. Dann begehrte er schwach und zaghaft gegen ihn auf.
Du bist kein Mensch! Du bist ein Teufel! schrie sein Inneres heimlich. Aber seine heftigen Gedanken glitten hastig davon. Er war so schläfrig. »Ich bin immer müde!« sagte er.
»Befehlen Sie in meiner Gegenwart Ihrem Diener alles, was Sie besuchen will oder Sie anruft, kurz abzuweisen. Er hat zu sagen: Der Herr Graf ist verreist. Ohne Adresse, Schluß!«
Mechanisch wiederholte Told dem Diener den Befehl. Der verbeugte sich und ging.
»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie weiter behandeln werde!« sagte Mabuse.
Aber Told verstand ihn nur mehr halb. Es war ihm, als sickere ein träges Gift durch seine Adern.
»Sie haben Durst!« befahl Mabuse.
»Ja!« flüsterte der Graf.
»Trinken Sie Kognak und Tokaier gemischt. Soviel Sie wollen. Nur schwere Sachen! Der Alkohol wird es Ihnen leicht machen. Sie müssen alles in sich zerstören, was war. Ihre Frau auch. Wenn Sie die Überzeugung haben, daß das Ihnen gelingt, sind Sie heilbar. Alles zerschlagen. Sie verstehen mich! Der Alkohol hilft dazu!«
»Alles …,« stammelte der Graf, als läge er in einem Sumpf, der ihm schon die Mundwinkel näßte … »Alles …«
»Nach zwei Jahren können Sie dann daran denken, ihr Leben wieder aufzunehmen. Nach welcher Zeit?« warf brutal der Arzt dazwischen … »Nach welcher Zeit?« hämmerte er ihm nochmals ins Hirn.
Told erwachte aus dem Hinbrüten. An der Zahl erschauernd, antwortete er leise: »Zwei Jahre!«
»Wissen Sie, daß Ihre Frau Sie in eine Irrenanstalt stecken will? Sie benutzt dazu den Staatsanwalt Wenk. Ist das der, der angerufen hat? Ich komme morgen wieder!«
Der Graf blieb zurück, allein, verstoßen. Ihm schien sein Gehirn von Elefanten ausgestampft, sein Gemüt von Nilpferden zerschmatzt, vermengt mit Kot und Schlamm.
Mich verläßt die Welt, murmelte er. Die Bilder, die er um sich gesammelt hatte, feierten Orgien an den Wänden. Er verstand nicht mehr, was ihm an ihnen so gefallen hatte, daß er sie jahrelang um sich geduldet hatte. Er nahm ein Jagdmesser und schnitt ein jedes von oben bis unten durch und schlug mit dem Messer in irrem Grimm in den Rahmen herum.
Als er das getan hatte, sprang er entsetzt zurück. Er faßte sich an seine Stirn und sagte laut: »Ja, du mein Gott, ich bin verrückt!«
Er begann Kognak zu trinken. Er trank aus einem Rotweinglas. Als er drei Gläser getrunken hatte, war er berauscht. Da schien ihm, als habe der Arzt etwas zurückgelassen. Es lag vor ihm. Er wußte nicht, was es war. Er griff danach. Da war es ihm auf einmal mitten in den Kopf hineingesprungen. Wie ein Keil saß es drin eingeklemmt. Er fühlte es genau zwischen den beiden Gehirnhälften.
Eine Angst zerriß ihm das Herz wie Papier in Fetzen. »Doktor, Doktor!« schrie er. Er hörte seine Stimme grausig in der Leere verschallen. So weit die Welt war, er war allein!
Da sank er ohnmächtig hin.
Karstens starb. Die Phantasie griff an dem Tod des zweiten Opfers wieder verhängnisvoll in die Öffentlichkeit. Wenk sah sich bedrängt und entschloß sich eines Tages, das Letzte mit der Carozza zu versuchen. Er ging zu ihr ins Gefängnis. »Ich spreche nicht mit Ihnen!« sagte die Carozza, sobald sie ihn sah.
Wenk kehrte sich nicht daran und bemerkte mit bekümmertem Ton und verschwommenen Hoffnungen: »Wissen Sie, daß auch die schöne Dame, die stets bei Schramms saß und nicht mitspielte, verschwunden ist?«
»Nein,« rief die Carozza im Augenblick, »die Sie zu mir ins Gefängnis geschickt hatten?«
»Ja!« sagte Wenk; aber erst, nachdem er dies gedankenlose Ja gesagt hatte, erschien ihm die Bedeutung dieser Mitteilung. Das war nun rätselhaft. Hatte die Gräfin der Carozza von ihrer Sendung erzählt? War sie mit den Spielern im Bund? Das war doch unglaubhaft. Aber wie auffallend: die Carozza, die nicht mit ihm sprechen wollte, gab ihre Absicht auf, sobald die Rede auf diese Frau kam. Wenk wollte der Carozza nicht die Gewißheit geben, daß er erstaunt über diese Mitteilung war. Er redete deshalb, indem er zugleich einem Weg nachdachte, auf dem dem Geheimnis beizukommen sei, ohne viel zu überlegen, was ihm gerade einfiel. Im Verlauf dieses Hinsprechens äußerte er auch schließlich eine Vermutung, die bei dem vielen Überdenken des Zusammenhangs der Carozza mit dem Verbrecher ihm gekommen war, die er aber mitzuteilen noch nicht reif genug gehalten hatte. Er sagte:
»Sie sind ja nur das Opfer des Verbrechers. Weil Sie sich nicht von ihm zu trennen vermochten.«
Da sprang die Carozza vom Sitz auf und starrte Wenk an wie in einem Krampfe. Er schaute ihr in die Augen. Der Ausdruck eines maßlosen Schreckens stand in diesen Augen und in der Verzerrung der Gesichtszüge. »Nun?« fragte er aufmunternd und hoffnungsvoll.
Aber die Carozza verharrte in ihrer Erstarrung. Da wagte er es weiter: »Ich könnte Ihnen, wenn wir einig werden, für Sie günstige Vorschläge machen.«
Langsam erwachte die Carozza aus ihrem Entsetzen zurück. Seit drei Jahren, da Mabuse sie von sich gestoßen, war ihr Leben nichts anderes gewesen als eine Kette von märtyrerhafter Selbstverleugnung und von ergebener Opferwilligkeit gegen diesen Mann, der sie unglücklich machte und sie zum Verbrechen trieb. Niemals hatte sie einen Gedanken an sich herangelassen, ihn zu verraten, ihm diese Opferwilligkeit zu verweigern. Sie trug wie einen Sklavenstempel durch ihr ganzes Blut das unumstößliche Angehörigkeitsgefühl an seine Stärke.
Da auf einmal, in der Bemerkung des Staatsanwalts, sah sie den geliebten Mann bedroht. Was wußte der Staatsanwalt? Woher wußte er es? Hatte die Gräfin sie dennoch verraten? Langsam nährte sie in sich den Plan, zu erfahren, wie weit der Staatsanwalt unterrichtet wäre. Sie konnte vielleicht warnen … vielleicht – und dabei durchzuckten sie wie Blitze wollüstige Gefühle, Doktor Mabuse zu retten und ihn vielleicht wiederzugewinnen. Nein, das nicht! Das wagte sie nicht auszudenken. Aber ihn zu retten, wäre ihr schon genug gewesen, wäre Seligkeit. Sie sagte schließlich: »Da Sie besser unterrichtet zu sein scheinen, als ich dachte, so will ich reden. Lassen Sie mir zwei Tage Zeit.«
Die Carozza hatte durch den Wärter erfahren, daß jemand sich um sie kümmerte. Der Beschreibung des Wärters nach war es Spoerri. Sie fand also Gelegenheit, von ihrem Gespräch mit dem Staatsanwalt Mitteilung zu machen und ihre Warnungen anzubringen.
»Gut!« sagte Wenk jubelnd. Dann wollte er ein übriges tun, und da er mit seiner Vermutung das Richtige getroffen zu haben schien, dachte er, es sei günstig, auch noch verhetzend dieser Seele zuzusetzen. Und er sagte: »Ich bin übrigens in bezug auf die Gräfin einer Spur nachgegangen. Die Gräfin scheint sich bei Ihrem Freund verborgen zu halten.«
Aber er schämte sich über diese Worte so, daß er errötete und mit einer schmerzlichen Inbrunst die paar Begegnungen wiedererlebte, die ihm die Verschwundene so nahegebracht hatten. Doch seine Worte hatten eine ungeahnte Folge. Die Carozza fiel über ihr Lager nieder, schluchzte auf, versuchte zu sprechen, aber die Worte versagten ihr, und sie erhob nur drohend und verzweiflungsvoll ihre Fäuste über den Kopf.
Da ging Wenk ganz plötzlich, in der Meinung, es sei gut, sie in dieser Stimmung nicht zu stören, sondern sie sich weiter in sie hineinhüllen zu lassen. Als er die Tür aufriß, fiel ein Mann gegen ihn, doch war es nur der Wärter. »Ich wollte gerade nach der Gefangenen schauen,« sagte er.
»Verzeihen Sie!« entgegnete Wenk und ging davon.
Kurz darauf geschah folgendes:
Bei Hengnau an der württembergischen Grenze war ein Mann angehalten und verhaftet worden, der Kühe nach Württemberg treiben wollte. Der Mann stellte sich in den ersten Tagen stumm, dann tobte er. Der Untersuchungsrichter, um ihn einzuschüchtern, sagte ihm eines Tages: »Gestehen Sie nur bald, bevor das neue Gesetz kommt. Wenn Sie vorher abgeurteilt werden, kann es Ihnen mild gehen. Nachher kann es Ihnen den Kopf kosten.«
»Was ist das für ein neues Gesetz?« fragte er.
»Auf die Vergehen, die die Ernährung des Volkes gefährden, kann Todesstrafe gestellt werden.«
»Wie wird man getötet?«
»Mit dem Beil wahrscheinlich!«
»Und wenn ich vorher abgeurteilt werde?«
»Bekommen Sie höchstens ein Jahr Gefängnis.«
Da gestand er auf einmal. Er öffnete alle Schleusen. Er gestand alles, was er seit Jahren getrieben hatte, und nannte alle Namen von Schmugglern, die er kannte.
Es wurden mehrere Verhaftungen vorgenommen. Die Angelegenheit wuchs sich immer breiter aus, und es wurde schließlich eines Tages auch der Name jenes Mannes genannt, den Mabuse nachts auf der Lindauer Landstraße aus seinem Dienst entlassen hatte – Pesch!
Pesch wurde verhaftet.
Er verbrachte die erste Nacht im Gefängnis von Wangen, aus welcher Gegend er war. Als der Wärter aber am nächsten Morgen seine Zelle öffnete, war der Verhaftete verschwunden. Wenige Stunden später wurde der Gendarmerie nach Wangen telephoniert: im Wald an der Lindauer Straße liege ein Mann. Es sei zweifellos ein Mord vorgekommen.
Das Gericht begab sich an die Stelle. Der Tote war Pesch. Er war erdolcht worden. Als man seine Leiche forthob, sah man, daß auf dem großen hellen Stein, auf dem sie gelegen, Zeichen mit Blut gemalt worden waren. Sachverständige entzifferten am selben Tage die Zeichen.
Sie hießen: Villa Elise …
Die Bürgermeister sämtlicher Ortschaften in der Nähe wurden angefragt nach einer Villa dieses Namens. So hatte man bald herausgefunden, daß in Schachen es eine Villa Elise gab, die von der Polizei bewacht wurde.
Es wurde sofort Wenk gemeldet. Er fuhr nach Lindau. Die beiden Beamten, die die Straßenwalze führten, hatten festgestellt, daß Poldringer am Tage, an dem Pesch ins Gefängnis gebracht worden war, Schachen mit einem Rad verlassen hatte. Er war erst nach drei Uhr in der Frühe zurückgekommen.
Da setzte es Wenk durch, daß zwei Motorboote auf den See gelegt wurden. Man gab ihnen den Schein, als gehörten sie zu den Zollüberwachungsbooten. Sie wurden mit Scheinwerfern ausgestattet.
Es war wieder ein Menschenleben draufgegangen. Aber der neue Mord hatte Weiteres verraten … viel Gefährlicheres, als man bisher wußte. Es war zweifellos, daß die Bande sich auch mit Schmuggel befaßte; man sah auch, daß unsichtbar zwischen dem Leben und Treiben der Mitmenschen diese Kraft des Bösen einen Staat für sich gebildet hatte, der von ihm und der für ihn lebte und seinem Willen Tat angedeihen ließ.
Pesch hinterließ eine Frau mit fünf Kindern. Da das Vermögen eingezogen wurde, waren sie dem Elend preisgegeben.
Wenk ging zum alten Hull, um dessen Hilfe für diese zu erbitten, und sagte ihm in einem raschen Einfall: »Ein Erziehungsheim für Kinder von Verbrechern gründen … unter einem verbergenden Namen … das wäre vielleicht eine gute Anlage für Ihr Geld. Man kann die Kinder, auf die sich ja öfter die Eigenschaften der Väter weiter vererben, von klein an beobachten, ihre Neigungen erkennen, bessern, wenn es geht, oder wenn es nicht geht, der menschlichen Gesellschaft diese Elemente fernhalten … noch bevor sie die Gesellschaft geschädigt haben. So würde von vornherein ein großer Teil der Verbrecher unschädlich gemacht und viele Menschen gerettet …«
»Ich will das tun,« sagte Hull. »Ich danke Ihnen.«
Am selben Abend ging Wenk durch die Marstall- auf die Maximilianstraße. Als er am Vier-Jahreszeiten-Saal vorbeikam, war ihm, als sähe er in der Menge von Menschen, die in den Eingang sich drängten, einen Bekannten. Aber er kam nicht drauf, wer es war, und ging gleich weiter. Er durchforschte sein Gedächtnis im Gehen, wem dieser so auffallende bekannte Rücken wohl angehören möchte. Er fand aber die Person nicht zurück.
Gleich nachher kam er an einem Schaufenster vorbei, in dem ein Plan der Klassenlotterie hing. Eine fette Schrift war im dunkeln Fenster zu erkennen. Das Wort »Spielerglück!« stach aus ihr hervor.
Dies Wort warf die Erinnerungen Wenks mit einem Schlag auf den Weg. Es war der Rücken des blondbärtigen Spielers gewesen.
Wenk erschrak vor dieser Entdeckung. Er suchte diesen Mann durch Tage und Nächte und durch ganz Deutschland, und da war er so nahe an ihm vorbeigegangen, daß er ihn hätte an der Schulter festhalten können. Er kehrte gleich um, ging zum Saal zurück und las an der Eingangstür ein kleines Plakat:
Experimenteller Abend des
Dr. Mabuse. |
Er beorderte einen der anwesenden Polizisten, sofort sechs Zivilbeamten herbeizuholen, ließ sie in unauffälliger Weise alle Ausgänge schließen, und als die Beamten aufgestellt waren, ging er in den Saal. Der Saal war leicht zu überwachen. Er ging von Reihe zu Reihe. Der Experimentierer war gerade mit Vorbereitungen beschäftigt.
Wenk setzte sich hin und her und überblickte Gesicht um Gesicht, Menschen um Menschen. Aber er fand niemanden, der diesen Rücken hatte, dessen Bild sich ihm so stark eingeprägt.
Er sah Bekannte. Der Geheimrat Wendel saß da, gleich in der vordersten Reihe. Ein Kollege vom Gericht mit seiner Frau und seiner erwachsenen Tochter. Er tat, als kenne er niemanden, und suchte fieberhaft. Aber es war alles vergeblich.
Da stürzte er sich hitzig kopfüber in das Unternehmen, ging zu den Beamten hinaus und erteilte ihnen folgende Weisungen:
Alle Türen werden verschlossen, bis auf diese eine. Zwei Beamte gehen in den Saal. Einer von ihnen sofort auf die Bühne und bittet das Publikum, in Ruhe einer nach dem andern den Saal zu verlassen. Beide passen auf, daß niemand zurückbleibt. Die vier andern stellen sich an der Tür auf und lassen die Leute durch, Person für Person. Von der Tür wird nur ein Flügel geöffnet.
Wenk selber wollte an der Tür stehenbleiben, und wenn er den Verhaftungsbefehl gegen einen Mann ausspräche, sollte der Betroffene von zwei Beamten sofort beiseite gezogen und gefesselt werden. Die beiden andern Beamten hatten dann nichts anders zu tun, als aufzupassen, daß keine Person sich den verhaftenden Beamten nähere. Die Dienstrevolver seien schußbereit zu halten.
Im Saal entstand bei der Verkündung des Beamten zunächst ein heiteres Erstaunen. Dann hörte man einige unwillige Rufe. Der Beamte versuchte zu beruhigen.
Das erste, was sich in Mabuses Vorstellungen zeigte, als er die Botschaft des Geheimpolizisten hörte, war, ob es nötig gewesen, sich der Gefahr des öffentlichen Auftretens auszusetzen. Aber er schob diese Vorstellung gleich als etwas Lästiges weg.
Es war nötig, denn es war für seine Seele die Kugel, in der sich Ernährungsstoff in konzentriertester Form zusammenpreßte. So mußte er mit seinen suggestiven Fähigkeiten immer in Berührung mit einer namenlosen Allgemeinheit bleiben. Dann spürte er seine Macht über die Grenze des Kreises hinaus, der ihm verpflichtet war, und von dem er jeden kannte, schier ins Ungemessene wachsen. Und sein Geist übte sich vieles zu umfassen, viele Menschen auf einmal in die Hand zu nehmen und in den irren Dingen, die seine geheime Gabe ihnen auferlegte, ihre Wenigkeit und seinen Haß und seine Gewalt über sie auszukosten …
Hier auf dieser Bühne war er neu geboren worden. Hier hatte er sein Leben der Macht begonnen, als der Krieg ihn von seinen Pflanzungen in der Südsee als einen ruinierten Mann nach seiner Heimat zurückgetrieben hatte. Dieses gab er nicht auf.
Noch während mit traumhafter Schnelle diese Überlegungen ihn durchzogen, ging er zum Beamten hin und fragte, was geschehen sei. »Sie müssen sich an Herrn Staatsanwalt Wenk wenden,« sagte der. »Er ist draußen!«
Da erblaßte Mabuse, wandte sich weg und stieg raschen Schritts zum Geheimrat Wendel hinab, den er in der ersten Reihe noch immer sitzen sah. Im Gehen entsicherte er mit der Hand in der Tasche seinen Browning und zielte, von einer Blutwelle überlaufen, die Haß und Kampf durch seine Muskeln warf wie einen Brand, mit seiner Phantasie Wenk mitten in die Stirn.
Du zuerst und dann! sagte er bei sich.
Aber schon lächelte er den Geheimrat an.
»Ihre suggestiven Kräfte,« sagte der Geheimrat, »scheinen den Staatsanwalt Wenk zu beunruhigen!«
»Wenk?« fragte Mabuse erstaunt tuend zurück.
»Ich sah ihn nämlich mit Luchsaugen vorhin von Stuhl zu Stuhl schleichen und jeden Besucher durch Jacke, Weste, Hemd und Unterkleid hindurch auf sein kriminalistisches Gewissen prüfen. Er scheint seinen Mann aber nicht gefunden zu haben.«
Mabuses Brust dehnte sich von einem schnaufenden Gefühl des Glücks. Er war wie ein Pferd, das nach langem Hungern und Ziehen den Kopf in die Krippe senkt.
Trotzdem er sofort klar verstand, fragte er den Geheimrat: »Weshalb meinen Sie das?«
»Einfach! Wenn er ihn gesehen hätte, hätte er sich ihn von seinen Beamten herausholen lassen, ohne Ihre Sitzung zu stören!«
»Das ist wahr,« sagte Mabuse. »Gehen wir!«
Mabuse drängte zur Tür, den Geheimrat mit sich ziehend. Mit allen Sinnen paßte er um sich auf, in seinen Rücken, wo er den Anschluß an Wendel nicht verlieren durfte, nach vorn, wo die Gefahr drohte, der er entweichen wollte.
Bewegungen ließ er, wenn sie ihn von dem alten Professor zu trennen drohten, mit allerlei Listen und einem Einsetzen seines ganzen Muskel- und Gliederapparats anders verlaufen, als er sie begonnen hatte.
Es kam ihm nur auf eines an: nicht als ein Besonderer durch die Tür vor den Staatsanwalt zu treten. Der berühmte alte Geheimrat mußte von ihm die Aufmerksamkeit des Spürhundes draußen wegsaugen.
Wendel war ein alter Herr. Auf Eile kam es ihm nicht an. Aber Mabuse durfte nur nicht als der letzte draußen vorbeigehen, bestrahlt von Auffälligkeit, doppelt beäugt von der Enttäuschung, daß jener den Gesuchten nicht gefunden hatte. Es kamen noch welche hinter ihm, unter denen er sein konnte, wenn er nicht als der letzte den Saal verließ.
Eines war sicher: Er war es, den der Staatsanwalt suchte, und kein anderer! Wenk wußte nicht, daß es Mabuse sei, den er haben wollte, sonst hätte er ihn von der Bühne herunter verhaftet. Wie war er ihm auf die Spur gekommen? Ein Rätsel, das ihn reizte! Verrat? Er wurde nicht verraten! Hatte Wenk irgend etwas an ihm erkannt von den Abenden in den Spielsälen her? Nein! Er wußte, seine Masken machten ihn unkenntlich. Also …
Da berührte eine Hand die seinige. Mabuse sah in das fragende Auge Spoerris, erblickte neben ihm einen andern Mann seiner Sicherheitsgarde und lenkte seine Augen sofort unbeteiligt weg.
Spoerri und der Genosse drängten sich vor ihm durch die Tür.
Mabuse rechnete weiter: Also ja, es konnte nur sein, daß irgendein Zufall Wenk auf seine Spur gehetzt hatte. Vielleicht die Erinnerung einer Ähnlichkeit … Bewegung oder Erscheinung … Wenk durfte also möglichst wenig von ihm sehen. Und da sein Rücken Wenks Augen am längsten ausgesetzt war, zog er den Mantel zwischen den Ellbogen durch und verbarg damit diesen Rücken.
Da war er mit dem Geheimrat an der Tür. Rasch schob er Wendel vor und klebte sich an ihn.
In dem Augenblick, wo der Geheimrat in die Tür trat, befahl Wenk einem Beamten, zwei Männer, die in der Treppe verweilten, zum Gehen zu nötigen. Mabuse hörte den Beamten sagen: »Soll ich sie verhaften?«
Da gewann er den Blick hinaus. Er sah, daß die Drohung Spoerri und seinem Genossen galt. Mabuse versuchte seinen Blick heraufzulenken. Er schlug sein Taschentuch mit einer großen Bewegung durch die Luft und schneuzte sich laut. Spoerri sah, verstand und zog den andern mit.
Wenk hatte den Geheimrat an der Hand. Das sah Mabuse.
Da sollte er hinaustreten.
Der Geheimrat stellte vor: »Herr Doktor Mabuse!«
Wenk, ohne das Auge von der Tür zu lassen, hinter der er den Saal schon stark gelichtet sah, nahm Mabuses Hand und entschuldigte sich: »Sie verübeln mir die Erfüllung einer Pflicht nicht, Herr Doktor?«
Mabuse antwortete mit einer verbissenen Freundlichkeit, bereit, die Hand in der Tasche an die Waffe zu werfen: »Nicht im geringsten. Ich trete selbstverständlich zurück, wenn es sich wie hier zweifellos um das Wohl der Allgemeinheit handelt, die Sie von einem Verbrecher zu befreien haben.«
Schon war er weitergeschoben. Wenk winkte ihm noch zu, schaute aber nicht mehr um, da er die Tür nicht freigeben durfte.
Der Geheimrat nahm Mabuses Arm für die Treppe. Mabuse geleitete ihn rasch zur Garderobe und verabschiedete sich. Eines seiner Autos hielt in der Maximilianstraße. Rechts und links von der Ausgangstür des Foyers standen die Leute, die zu allem bereit waren, ihn stets begleiteten … Spoerri hatte sich mitten in den Ausgang gestellt, um die Treppe zu überwachen.
Er ging dann hinter Mabuse her. Die andern in gelösten Gruppen, aber immer bereit, znsammenzuspringen, folgten. Erst als Mabuse im Auto davonfuhr, gingen sie auseinander und ein jeder seinen Weg.
Im Auto heimrasend, sagte Mabuse sich auf einmal: Ich habe eine Dummheit gemacht. Ich hätte wenigstens fragen sollen, ob ich den Abend fortsetzen dürfte.
Das machte ihn niedergedrückt. Es hatte etwas an ihm versagt. Früher wäre ihm ein solcher Fehler nie unterlaufen, sann er weiter und quälte sich: Bin ich am Niedergang? Ist es Zeit für Citopomar?
Aber auf einmal schrie er dumpf und tierisch auf: »Nein. Es ist das Weib! Wenk wird mich hängen. Das Weib macht mich alt und liefert mich seinem Strick aus.« Weshalb machte die Frau ihn alt, die so jung und schön war und sich ihm mit einem wehmütigen Fatalismus ergeben hatte! Er trank diese Ergebenheit wie einen Wein, sagte ein anderer Zug von Vorstellungen.
Er wurde uneins mit sich. Er fand keinen Genuß mehr darin, daß er der großen Gefahr entronnen war. Und in seine kreuz und quer pflügenden Gedanken schlug unselig und den Atem raubend wie eine Katastrophe die Vorstellung:
Weil ich sie liebe!
Da haßte er sich. Da führte er die Ballen von Haß, mit denen er den Menschen zusetzte, gegen sich und lud sie über sich aus. So stark litt er, daß er unter dem Druck, den dieses Chaos an Gefühl auf seine Adern trieb, röchelte.
Er war vor seinem Haus.
Sein breites Gesicht hatte alle Furchen vertieft. Aber das Schreckliche waren seine Augen. Die Gräfin erschrak vor ihnen, als er in ihr Zimmer kam. Sie waren nicht mehr von dem großen steinernen Grau eines Achats. Sie waren wie mit kupfern grellen Runen bezogen. »Was ist geschehen?« fragte sie.
Da erzählte er nicht, was er eigentlich erzählen gewollt. »Weißt du, wer ich bin?« fragte er. Seine Stimme klang in einer tobenden Wildheit. »Ich bin ein Werwolf. Ich sauge Menschenblut in mich! Jeden Tag brennt der Haß alles Blut aus, das mir in den Adern läuft, und jede Nacht sauge ich sie mit einem neuen Menschenblut voll. Wenn mich die Menschen fangen, zerreißen sie mich in vierundsechzig Stücke. Ich beiße dir die Kehle durch, du weißes Tier, das mich zerstören will!«
Die Gräfin, aufgepeitscht, irr vor Schmerz und Zerrissenheit, stöhnte: »Töte mich! Was gäbe es Besseres?«
»Ich liebe dich!« schrie die Stimme des besessenen Mannes über ihr.
Die Frau barg den Kopf in ihre Hände. Sie hörte dieses eingestehende Wort zum erstenmal aus dem gewaltsamen Mund. Ertränkend wogte unter ihm der Rausch des Blutes durch ihr Gemüt, das sich von der Welt fort in die Schlucht eines Gefängnisses verloren hatte, aus dem es kein Hinaus mehr gab.
Ihr Leben war tot. Ihr Blut aber lebte in einer starren Grellheit, in einer künstlichen, furchtbaren und geisterhaften Entzündung an der Gewalt dieses Mannes und brannte durch ihre tote Seele wie eine Flamme durch verschlossene Türen. Sie brannte, und es gab nichts mehr zu verbrennen. Wovon lebte die Flamme?
Mabuse verließ die Frau, ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben. Ich habe ihr genug gesagt! sprach er bei sich.
Er legte sich zu Bett, fand keinen Schlaf. Es war, als sei etwas Neues in sein Leben gekommen, das so unveränderlich geschienen hatte. Es war, als habe die Gefahr, die er schon mit der Hand anfassen gekonnt, in dem dunkeln, kalten Loch aufgewühlt, von dessen Grund er sein Leben und seine Taten wie aus einem Brunnenschacht heraufzog. Stundenlang quälte er sich, dies Neue zu fassen, in sich einzuordnen. Es entwich ihm.
Da ging er zu der Frau zurück, die schlaflos und in Kleidern auf dem Bett lag.
Er sagte ihr: »Wir müssen uns ausspreche»! Unsere Schicksale sind ineinandergelaufen, und wir müssen sie durch unser Leben weitertragen. Ich habe aus irgendeinem Brunnen meiner Abstammung einen Schuß ins Blut bekommen, der mir ein Leben in der staatlichen Ordnung einer Gemeinschaft unmöglich macht, in der Kräfte über meinen Kräften stehen. Ich bin deshalb so etwas wie ein Räuberhauptmann geworden. Ich kenne nur zwei Dinge: Herrschenwollen und Hassenmüssen! Seit diesem Tag kommst du dazu. Ich dachte anfangs: die verbrennt mit in den zwei Flammen meines Gemüts. Es ist aber nicht wahr. Hundert sind drin verbrannt. Du nährst dich davon. Dir ist es Speise. Wenn ich betrunken bin und den Haß nicht vergessen, aber etwas beiseitestellen kann, weil es dann schönere Dinge gibt, nenn' ich dir oft den Namen: Eitopomar.
Eitopomar ist kein Weindunst. Es ist ein Urwald in Brasilien. Er ist hoch im Land drinnen. Er wird für mich gerodet. Alles Geld, was ich hier dieser nichtigen Gesellschaft von Jammerkerlen abnehme, lege ich dort an. Dort entsteht mein Land. Dort will ich mein Leben beschließen. Erst dachte ich: mit meinem Harem! Jetzt weiß ich aber: mit dir! Vierzig Tage muß man reiten, bis man zur nächsten Wohnung von Menschen kommt. Und auch das sind welche, die es hier nicht aushielten. Man kommt aber nie hin, weil die Botokuden einen nicht durchlassen. Es ist möglich, daß meine Agenten, die das Geschäft geordnet haben, mich betrügen, und daß, wenn wir hinkommen, es kein Fürstentum Eitopomar gibt. Aber um dich betrügt mich niemand!
Meine Lebensart hier hat inzwischen zu ausgedehnte Kreise gezogen, als daß ich noch viel länger neben und unter der Ordnung und Macht des Staates und der Gesellschaft mich erhalten könnte. Ich habe heut den Beweis bekommen, daß man mir auf der Spur ist. Es gilt von nun an also Vorsicht.
In Genua wird für mich ein Schiff gebaut. Ich fahre nicht auf fremden Schiffen. Ich bin mein Fürst. Das Schiff ist am ersten Juni abzuliefern. In der Nacht vom ersten auf den zweiten Juni schiffen wir uns ein. Aber bis dahin sind es fast noch zwei Monate. Ich kann nicht ruhen. Ich werde bis zu der Nacht unserer Abreise Räuberhauptmann sein.
Wir wollen klug sein. Du beziehst eine andere Wohnung. Sie ist so sicher wie diese hier. Aber wenn sie mir diese hier ausspionieren, fangen sie dich. Ich bin in der Lage, mit aller Wahrscheinlichkeit zu entkommen. Morgen um Mitternacht siedelst du um. Spoerri führt dich hin.«
Ohne Widerstand, ohne Beteiligung ihrer Sinne, verzehrt von der Flamme dieses über sie hereingebrochenen männlichen Willens nahm die Gräfin Worte und Befehl hin … Schicksal.
*
Um neun Uhr war Dr. Mabuse beim Grafen Told.
Mabuse, wo er zur Flucht sich jede Stunde bereithalten mußte, wollte jetzt mit dem Gräflein abschließen.
Er nötigte ihn zum Trinken. Das tat Told seit einigen Tagen mit einer düsteren Leidenschaft. Schweigend sah Mabuse zu. Als Told betrunken war, sagte ihm der Arzt: »Sie sind ein durchaus widerstandsloses Individuum. Wo haben Sie Ihr Rasiermesser?«
Told zeigte lallend auf den Waschtisch.
»Ist es geschärft?« fragte Mabuse mit einem lastenden Nachdruck. »Scharf genug!« fragte er nochmals mit einer Betonung, so scharf, als wollte er dem Grafen die Frage durch die Kopfhaut einschneiden.
Mabuse nahm es in die Hand, ergriff einen Papierbogen und schnitt einen scharfen Riß hinein. Drohend sagte er dann: »Es ist scharf genug. Ja!«
Darauf legte er das Messer zurück, schob es aber nicht mehr ins Etui. Er rief den Diener herein und sagte ihm: »Der Zustand des Herrn Grafen hat sich verschlechtert. Der Herr Graf trinkt Kognak und Tokaier. Gegen einen leichten Mosel hätte ich nichts einzuwenden. Aber diese schweren Spirituosen sind nicht erlaubt. Entfernen Sie, was der Graf übriggelassen hat. Der Herr Graf will … sich … zur Ruhe … begeben!«
Das sprach er mit einem auseinandergezogenen, befehlshaberischen Ton. Er ging dann vor dem Diener aus dem Zimmer und verließ das Haus.
Eine halbe Stunde später durchschnitt sich der Graf Told den Hals. Er wußte nicht, was er tat. Er hatte die Empfindung, als hindere etwas in seinem Hals ihn an einem unerhörten Glück. Er wollte nur dieses lästige Hindernis entfernen.
Um zwei Uhr kam ein Bote Mabuses, um sich nach dem Befinden des Grafen zu erkundigen. Der Diener sagte, er schlafe. Aber er wollte lieber noch einmal nachschauen. So fand er ihn blutbesudelt, vom Sessel auf den Boden gerutscht, kalt schon und tot. Der Bote des Arztes kam ins Zimmer, sah die Leiche und ging.
Der Diener wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte die Meinung, da keine Verwandten des Grafen in der Nähe waren und die Adresse der Gräfin ihm unbekannt war, er müsse den Selbstmord zuerst der Polizei anzeigen. Dann wußte er aber wiederum nicht recht, an welches Amt man solche Meldungen zu geben hätte, und es fiel ihm ein, daß der Staatsanwalt von Wenk ja ein Bekannter des Grafen gewesen sei und als letzter ihm nachgefragt hatte. Er fuhr nach München, suchte den Staatsanwalt auf und erzählte.
»Ist der Herr Graf denn immer zu Hause gewesen?« fragte Wenk.
»Ja, immer!«
»Weshalb sagten Sie mir denn damals, der Herr Graf sei ohne Adresse verreist?«
»Der Arzt hatte mir befohlen, im Interesse des Zustandes des Herrn Grafen niemanden zu ihm zu lassen und alle Anfrager mit dieser Antwort abzuweisen. Der Herr Graf empfing niemanden als den Arzt.«
»Wie hieß der Arzt?«
»Sein Name wurde nie genannt. Ich weiß es nicht!«
Da erinnerte sich Wenk, daß der Geheimrat Wendel ihm doch den Brief an den Dr. Mabuse gegeben hatte, und daß der Graf an seinem eigenen Fernsprecher jenem telephoniert und mit ihm eine Zusammenkunft abgemacht hatte.
Wenk zitterte, als er, von den Schauern eines unerhörten Verdachtes gestreift, dem Diener das Bild des Dr. Mabuse, wie er es von dem Vier-Jahreszeiten-Saal her in der Erinnerung hatte, verzeichnete: ein großer Mann, etwas vorgebeugt, glatt rasiert und geschoren, ein breites Gesicht mit einer großen Nase und grauen großen Augen.
Wie der Diener sagte: »Ja, genau so sah er aus,« wurde Wenk aschfahl. Mit einem Schlag sammelten sich auseinanderliegende Eindrücke … nur angeflogene Vorstellungen, halb angedachte Gedanken, Bilder, die sich verschleiert, aber nicht verloren hatten …
Weshalb hatte der Dr. Mabuse, als Wenk den Saal räumen ließ, nicht gefragt, zu welchem Zweck das geschehe? Nicht gefragt, ob er nicht nach der vollbrachten Durchsuchung die Experimente wieder aufnehmen könnte? Weshalb hatte Wenk, der doch den bekannten Rücken hatte in den Saal gehen sehen, ihn drinnen nicht wieder zurückgefunden? Weshalb hatten die zwei Männer, die der Anordnung, davonzugehen, nicht folgen wollten, mit dem Augenblick, wo Mabuse aus dem Saal trat, dem Beamten plötzlich gehorcht? Weshalb hatte das Auge dieses Mabuse, so kurz er hineingeschaut, so eindringlich in ihm nachgewirkt, als suche es etwas, was verschollen oder nicht aufgefunden tief in seinem Innersten lag?
Er entließ den Diener.
Er suchte die Adresse des Dr. Mabuse im Telephonbuch nach. Sie stand nicht darin. Aber Mabuse hatte ein Telephon; denn der Graf hatte ihn ja von hier aus angerufen. Der Geheimrat Wendel wußte die Nummer.
Als jedoch Wenk, nachdem er sich bei Wendel erkundigt, die Nummer anrief, meldete sich niemand. Er fragte auf dem Auskunftsamt des Fernsprechers nach und hörte, die Nummer sei aufgehoben.
Wer denn die Nummer bis vor drei Wochen gehabt habe?
Das ließ sich so schnell nicht feststellen.
Wenk fragte nochmals Wendel an. Dr. Mabuse habe seine Rufnummer geändert. Ob er seine Adresse kenne? Nein, die kannte Wendel nicht. Er habe von Mabuse nur die Rufnummer gehabt und stets telephonisch mit ihm verkehrt.
Auf dem Meldeamt der Polizei fragte Wenk nach der Adresse des Dr. Mabuse.
Man fand diesen Namen nicht unter den in München angemeldeten Personen.
Auf dem Fahndungsamt ließ Wenk alle alten Telephonbücher nach dem Namen Mabuse durchsuchen. Nirgends wurde dieser Name gefunden.
Da ging Wenk zum Direktor des Fernsprechamts, um die Nachforschungen dort zu beschleunigen. Der Direktor führte ihn ins Auskunftsbureau. Dort waren zwei Fräulein. Die bat er nachzusuchen, worum er schon telephonisch gebeten hatte.
»Was wollten Sie wissen?« fragte die eine ältere der Damen.
Die Adresse des Dr. Mabuse, der vor drei Wochen unter einer Nummer, die nicht im Telephonbuch stand, in München angeschlossen gewesen sei.
Das Mädchen sagte, es lasse sich nichts finden.
Mit diesem Bescheid ging Wenk zum Direktor zurück. Der Direktor sagte, das sei ganz ausgeschlossen, und begleitete Wenk selber zu dem Bureau mit den beiden Damen. Er schaute zusammen mit ihnen nach und fand nichts.
Aber während der Direktor sich so vergeblich über die Listen beugte, kam Wenk ein Einfall.
Als der Direktor ihm meldete, ein Dr. Mabuse sei im Laufe dieses Jahres überhaupt nicht in München angeschlossen gewesen, bat Wenk, dann nachzuschauen, unter welcher Nummer und Adresse ein Mann namens Poldringer eingetragen sei. Da sah er, wie die ältere der Frauen aufzuckte und sich gleich wieder beherrschte. Doch einen Augenblick später sagte sie ihm grob, Poldringer gebe es viele in München, und ohne Vornamen und genaue Adresse könne sie nichts sagen.
Wenk wandte sich an den Direktor: »Herr Direktor, es tut mir leid, Ihnen die Unannehmlichkeit bereiten zu müssen: ich verhafte diese beiden Damen!«
Er trat gleich zwischen die Frauen und die Weckapparate. »Bitte nehmen Sie Platz auf diesen beiden Stühlen, bis die Beamten kommen. Sie hier, Fräulein, Sie dort!«
Das eine der Mädchen wurde kreideweiß. Das andere errötete zuerst und begann dann zu weinen.
Wenk sagte, mehr zu ihm gewandt: »Es ist nur eine Formalität. Sie werden mir durch Ihr Benehmen ermöglichen, die Angelegenheit ohne Aufsehen sich entwickeln zu lassen, und es ist wahrscheinlich, daß Sie nicht lange ohne Aufklärung bleiben!« Dann rief er die Kriminalpolizei an und erbat sich drei Beamte.
Der Direktor sah die Listen nach Poldringer durch. Unter diesem Namen waren mehrere Eintragungen. Die meisten waren Geschäftsleute. Ein anderer ohne nähere Bezeichnung wohnte Xenienstraße und ein zweiter ohne Berufsangabe Ludwigstraße.
Die Mädchen wurden fortgeführt. Wenk ging zur Ludwigstraße. Er kam in ein Mietshaus, sah sich die Umgebung und das innere Haus an und ging weiter zur Xenienstraße.
Ihm blieb das Herz stehen, als er in der Xenienstraße an dem Haus, dessen Nummer unter dem Namen Poldringer im Telephonamt angegeben worden war, das Marmorschild sah:
Dr. Mabuse
Psychopathologische Behandlung. |
Er eilte davon, den Kopf zwischen den Schultern. Er merkte sich nur rasch die Nummern der gegenüberliegenden Häuser. Die Straße bestand nur aus freistehenden Villen.
Das Blut trommelte in seine Augen. Das Herz blies Posaunen, in seinen Ohren war Geschützbrausen. Er hatte den Verbrecher. Nein, er hatte ihn noch nicht. Er kannte ihn nur!
Bevor er Weiteres tat, fuhr er zum Gefängnis. Denn die Frist, die die Carozza erbeten hatte, war um, und was sie ihm nun mitteilen sollte, konnte ihm die letzten Sicherungen auf das Glücken des Werks geben.
Am frühen Morgen dieses Tages, als der Wärter im Frauengefängnis die erste Runde zu machen hatte, wurde die Tür zur Zelle der Carozza geöffnet. Die Carozza schlief noch. Sie wurde geschüttelt, und als sie rasch erwachte, sah sie den Wärter über sich gebeugt. Aber es war nicht der Wärter, es war Spoerri. Doch nein, sie träumte. Sie war doch im Gefängnis. Wie kam Spoerri an ihr Bett? Sie wollte die Erscheinung wegwischen. Doch ihre Hand blieb am Gesicht hängen. Da erhob sie sich entsetzt. Sie erwachte sofort ganz. Ja, es war Spoerri. Er sagte: »Du weißt, ich stehe mit dem Wärter im Bund!«
Die Carozza nickte.
»Damit wirst du auch wissen, daß er mir gesagt hat, was gestern hier zwischen dir und dem Staatsanwalt vor sich ging.«
Die Frau fragte fahrig: »Was war das denn?«
»Daß du den Doktor verraten willst!«
Die Carozza sprang aus dem Bett. »Wer sagt das!« schrie sie.
»Bitte nicht schreien. Der Wärter sagte es.«
»Es ist nicht wahr!«
»Der Wärter hat kein Interesse zu lügen!«
»Hat er dem Doktor es gesagt?« fragte angstvoll die Carozza.
Da log Spoerri: »Ja, der Doktor schickt mich zu dir, natürlich!«
»Es ist nicht wahr!« rief, dem Weinen nahe, die Carozza. »Ich wollte ihn retten!«
»Kannst du das beweisen?«
»Ich wollte ihn retten. Spoerri, er ist bedroht!«
»Er ist immer bedroht. Das ist Unsinn. Kannst du beweisen, was du sagst?«
Die Carozza erzählte heftig, was zwischen ihr und dem Staatsanwalt vorgegangen war. Spoerri entgegnete gleichgültig: »Ich meine, so beweisen, daß nichts mehr daran zu tüfteln ist? Rasch, bitte. Ich muß in fünf Minuten aus dem Flur heraus sein.«
»Was soll ich tun, daß der Doktor mir glaubt?« fragte entsetzensvoll die Carozza.
»Der Doktor ist sehr in Sorge, muß ich dir sagen. Er hatte so was nicht von dir erwartet.«
»Nein, nein,« stammelte fassungslos die Carozza. »Wie soll ich beweisen … wie soll ich … Du weißt doch, Spoerri …«
Da zog Spoerri mit einem feinen Lächeln ein Fläschchen aus der Tasche. »Da drin«, sagte er, »liegt der Beweis.«
»Wo?« fragte Carozza aufgelöst.
»Hier drin, meine Liebste, nicht wahr?«
»Ich verstehe dich nicht,« sagte die Carozza.
»Ho, das brauchst du auch nicht. Nur zu trinken, weißt du, bloß ein Schlückchen. Dann glaubt dir der Doktor aufs Wort.«
Da sah die Carozza das Fläschchen entsetzt an. »Was ist es?« stotterte sie.
»Ein Himmelstränkli, meine Liebe. Tut nicht im mindesten weh. Vom Doktor selber gebraut. Aber wirf es noch rasch zum Fenster hinaus! Ich mache dir das Fenster schon auf. Vergiß das nicht! Aber ganz rasch, nicht wahr? Sofort werfen! Denn ohne die Flasche merkt kein Mensch, was dir geschah. Ja, das erwartet der Doktor. Das ist dann ein Beweis, an dem nichts mehr zu tüfteln ist. Im übrigen, du kennst uns ja. Selbst ist der Mann …«
Dabei hob er ein Messer aus der Tasche und spielte leichthin mit ihm. Er warf es an die Tür, und es blieb mit der Spitze wagerecht darin stecken. Er riß es zurück und sackte es wieder ein.
»Siehst du,« sagte er. »Aber nun muß ich. Also auf Wiedersehen!«
Er wollte gehen. Die Carozza sprang ihm nach und krallte sich an sein Bein an. Sie sank in die Knie. Sie schluchzte: »Ich bin doch jung. Ich lieb' doch das Leben. Ich habe ihm doch genützt. Ich hoffte befreit zu werden. Von ihm. Wenigstens befreit, wenn er mich schon nicht lieben kann.«
»Na ja,« sagte Spoerri, »aber wie gesagt, er fühlt sich seitdem beunruhigt. Du kannst es ja halten, wie du willst.«
Die Carozza: »So befrei' du mich von hier. Ich werde es ihm tausendmal beweisen, daß er meiner sicher sein kann. Ich gebe mein Leben für ihn …«
»Bitte!« warf Spoerri roh hinein.
Aber die Frau, losgelassen: »Was bin ich denn? Ein Schatten, der hinter ihm hergeht und sich vor ihm verbirgt, ohne sich von ihm trennen zu können. Tausendmal … tausendmal … Befrei' mich …«
»Und wenn wir dabei erwischt werden, hängen wir beide, hat er gesagt. Und wer weiß, ob sie dann nicht auch an ihn kommen.«
Da war die Carozza auf einmal gefaßt und sagte: »Gut, es ist wahr! Geh! Und sage ihm … Nein, du brauchst nichts zu sagen. Ich will dann ja nichts mehr von ihm …«
Spoerri ging rasch. Das Fläschchen blieb in der Hand der Carozza. Es war an ihren fiebrigen Fingern warm geworden. … Er glaubt mir nicht, sagte sie zaghaft. Der Doktor glaubt mir nicht mehr. Sonderbar – gibt es für irgend etwas auf der Welt mehr Beweise als dafür, daß meine Gedanken ihm treu waren? O, dies Leben, dies schmutzige, unverständliche, zerstörende Leben! Dies furchtbare Leben! …
»Komm!« sagte sie zur Flasche. »Nein, daran brauchst du nicht mehr zu tüfteln, du … Mann! Du süßer Mörder! Du Erwürger … Scheusäligkeit, Seligkeit, du …« Das schrie sie.
Dann erschrak sie vor ihrem Schreien, als ob sie damit das geliebte Leben in Gefahr bringen könnte. Sie riß den Stöpsel vom Fläschchen, und mitten in der Zelle stehend, trank sie, warf einen Augenblick darauf die Flasche in das feurige Fensterloch, in das der Morgen der freien Welt draußen wie die Mündung einer losgehenden Kanone hereinschoß …
*
Wenk stand vor dem Verwalter des Gefängnisses. »Ja, Herr Staatsanwalt, wir haben Sie leider nicht verständigen können. Sie waren nicht zu erreichen. Ein Herzschlag scheinbar, sagt der Arzt. Sie lag heute früh tot in der Zelle.«
Wenk ging zwischen Enttäuschung und Grauen in die Zelle. Sie war leer. Die Pritsche noch unaufgeräumt. Die Kleider der Carozza lagen auf einem Schemel. Wenk sah sich um und wollte wieder gehen. Da war ihm, als habe auf dem Fenstergesims etwas aufgeleuchtet. Er trat zurück, untersuchte das Fenster und fand einen kleinen Glasscherben, der gerundet war und einen starken Geruch ausströmen ließ. Wenk stieg auf einen Stuhl. Draußen fand er noch einen Splitter. Er ging in den Hof hinab, und bald hatte er die Überreste des Fläschchens zusammen. Es hatte sich an einem Eisenstab des Gitters zerschlagen. Wenk ließ die Glasreste untersuchen. Es waren Spuren von Giften daran.
Er ging zu Fuß nach seiner Wohnung zurück. Ein neues Opfer, sagte er ununterbrochen. Ein neues Opfer … Dann, auf dem Wort Opfer weiterspielend: Ein wirkliches Opfer. Denn diese hat sich selbst geopfert! Das fühlte er. Diese Dirne war als ein Opfer ihrer Liebe gestorben. Sie hätte mir doch nichts gesagt, ahnte er nun. Sie wollte mich bloß irreführen, um Zeit zu haben, jenen zu warnen. Ich habe kein Glück bei Frauen.
Er war tief ergriffen. Weshalb, fragte er sich, sind diese starken Seelen immer nur auf der andern Seite zu finden? Immer beim Bösen? Und als am nächsten Tag die Carozza begraben wurde, stand er als einziger Leidtragender am Grab. Langsam nur fand er sich zur Arbeit zurück.
Aber dann war er Hals über Kopf in sie hineingesunken. Er stellte Pläne auf, den Dr. Mabuse in seinem Hause zu fangen. Das erste, was zu geschehen hatte, war, daß man auskundschaften mußte, wann ganz sicher jener sich in seinem Hause befand. Dann wußte man wenigstens sich die beiden Hauptleute sichern, parallel in der Xenienstraße und in Schachen vorgehen, keine Zeit lassen, daß einer den andern benachrichtigen konnte.
Die Vorbereitungen mußten bis aufs äußerste ausgearbeitet werden. Und dann mit einer Überrumpelung, die nicht länger als drei Minuten dauern durfte, losgeschlagen werden. Denn ein Mann, der mit einer solchen Kühnheit mitten in der Stadt bis in die Domäne der staatlichen Justiz hinein solche Verbrechen durchführen ließ, hatte sich in seinem Hause gegen Überfälle aufs beste gesichert. Das war unumstößlich.
Über diesen Vorbereitungen verging Zeit.
Zuerst mußte sich Wenk eine der beiden gegenüberliegenden Villen als Beobachtungsposten sichern. Er nahm dazu die Hilfe des alten Hull in Anspruch. Er fuhr gleich zu ihm.
»Können Sie mir einen großen Dienst leisten?« fragte er. »Lassen Sie durch einen Vertrauensmann in einer der Villen Nr. 26 oder 28 in der Xenienstraße ein Stockwerk oder besser die ganze Villa mieten. So wie sie ist. Es muß übermorgen beziehbar sein. Kosten spielen keine Rolle. Ich brauche das Haus für zwei oder drei Wochen. Das Frühjahr ist da. Vielleicht wünscht eine Partei eine kleine Reise zu finanzieren.« Hull begab sich gleich ans Werk.
Von Lindau erbat Wenk den sofortigen Besuch des Kommissars von der Straßenwalze. Der Kommissar kam mit dem Schnellzug um elf Uhr nachts.
»Herr Kommissar, die Sache ist reif!« sagte ihm Wenk. »Sie müssen sich bereithalten, in jedem Augenblick loszuschlagen. Ich überlasse Ihnen den Plan. Sie haben ja reichlich Zeit gehabt, die Geographie und die Gelegenheiten kennen zu lernen. Nur müssen Sie mit dem Augenblick des Eintreffens meines Befehls: Villa Elise verhaften! was gehst du, was hast du, vom Leder ziehen. Tot oder lebendig. Man wird ein zweites Boot auf den See legen. Für die Landseite verdoppeln Sie die Zahl Ihrer Leute. Die Straßenwalze führen Sie fort. In Schachen beginnt jetzt die Frühjahrssaison. Halten Sie sich mit sechs bis acht Mann als Strandgäste dort auf!«
Um sieben Uhr am andern Morgen reiste der Kommissar zurück.
Um elf Uhr kam der alte Hull mit einem Mietsvertrag für die Villa 26 in der Xenienstraße. »Es wohnt ein junges Paar da,« sagte er, »dem mein Vorschlag, wie es scheint, sehr zu recht kam. Sie wollten nach der Schweiz, wo die Eltern wohnen, und hatten nur vor der Valuta zurückgeschreckt. Ich bot ihnen fünftausend Mark für den Monat. Diese werden sie in Franken umwechseln. Ich schädige unsere Valuta …«
»Aber Sie nützen der Heimat, Herr Hull! Sie werden sich bald davon überzeugen,« sagte Wenk.
»Sie können von heute abend sechs Uhr an die Villa beziehen!« Um sechs Uhr hielt Wenk in der Kleidung eines grünen Radlers seinen Einzug in die leere Villa. Er ließ das Rad draußen stehen und suchte sich gleich ein Fenster aus, das ihm paßte. Er war ganz allein im Haus. Er verdeckte sich hinter einem Spitzenvorhang und schaute auf die Straße.
Das erste, was er sah, war, nachdem er so eine Viertelstunde Posten gestanden hatte, daß jemand das Rad draußen stahl und damit fortsauste. Er hatte niemals einen Verbrecher bei der Tat gesehen. Dies Letzte seines Berufs war ihm erst heute vergönnt. Er leitete es als eine gute Vorbedeutung in sein Gemüt und lachte über die komische Hast, mit der der Dieb Umschau hielt, aber schon auch das Rad zwischen den Schenkeln hatte.
Er überblickte zwei Stunden lang in einem Stück die Haustür und die Gartentür, die Fenster, das Dach der Villa Mabuses. Kein Mensch kam noch ging. Wenk blieb bis Mitternacht. Nichts! Er schlief am Fenster ein, wachte wieder auf, schaute und schlummerte wieder ein bißchen und erwachte dann erst, gerädert, im hellen Morgenlicht.
Wenks Diener als Ausläufer von Oberpollinger brachte ihm das Frühstück.
Es wurde ein langer Tag. Wenk zog sich den Fernsprechapparat ans Fenster und rief mehrere Bekannte und Ämter an.
Endlich, abends sechs Uhr, hielt gegenüber ein Auto. Kaum hielt es, so fuhr es wieder an und davon. Ein Herr schritt auf die Haustür zu. War es aber Mabuse? Nein – denn es war ein alter Herr, der die unverkennbaren Schritte eines Tabetikers machte. Vielleicht ein Patient.
Dann sah Wenk bald darauf einen Kaminfeger das Haus verlassen. Der Kaminfeger ging rasch und lustig, eine Zigarette hoch in die Luft dampfend. Wenk hatte den Kaminfeger nicht ins Haus hineingehen sehen. Das war ein Zufall gewesen. Der alte tabetische Herr blieb lange. Wartete er so lange auf den Arzt? Oder war es ein Helfer Mabuses? Das war zweifelhaft. Aber es durfte nichts überstürzt werden.
Die Dämmerung waltete bereits stark, als ein Mann mit einem Paket drüben an der Haustür klingelte, die mit einer überraschenden Schnelligkeit sich öffnete. Nach einer halben Stunde kam dieser Mann wieder heraus.
So ging es noch einmal. Auch in der Nacht kamen und gingen ab und zu Menschen. Dasselbe wiederholte sich am nächsten Tag.
Am dritten Tag wurde Wenk in der Frühe angerufen. Es war sein Diener. Die Kriminalpolizei habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Es sei in der Nacht etwas in einem Spielsaal vorgefallen. Ob er einen Beamten zum Berichte wünsche?
Ja, er solle nur in irgendeiner Lieferanten-Uniform kommen.
Der Beamte kam eine halbe Stunde später, als Telephonarbeiter gekleidet, und berichtete: Gestern nacht kam ein junger Mann auf die Wache und erzählte, in dem geheimen Spiellokal von Schmitz hätten sie Bakkarat gespielt. Ein alter Herr, der zweifellos Tabetiker sei, habe mitgespielt und immer verloren. Als es drei Uhr morgens war, habe der alte Herr einen Wutanfall bekommen, habe etwas gerufen, und da seien auf einmal drei Männer, die mitgespielt hatten, auf den Tisch gesprungen. Mit vorgehaltenen Revolvern hätten sie »Hände hoch!« gerufen. Ein vierter sei dann von Mann zu Mann gegangen, habe das Geld vom Tisch und alles Geld aus den Taschen der Mitspieler genommen. Ihm hätten sie zwölftausend Mark geraubt. Den alten Herrn aber hätten sie ruhig gelassen. Der sei dann aufgestanden und sei fortgegangen und war auf einmal ganz gesund. Zwei von den Räubern haben ihn hinausbegleitet. Die andern haben den Rückzug gedeckt. Draußen hatten die Räuber zwei Automobile.
Diese Meldung erregte Wenk.
Seinen Plan störte das Ereignis nicht. Im Gegenteil zeigte seine Verwegenheit, daß Mabuse sich sicher fühlte. Aber Wenk hing hier in dem fremden Haus an der Gardine wie eine schlafende Fledermaus, und der Verbrecher ging in der Stadt seine Wege mit einer Kühnheit, als habe er niemanden und nichts zu fürchten.
Er nahm sich sein Recht. Wie konnte es anders sein, wenn er, der Staatsanwalt, der damit betraut war, ihn zu fangen, sich hier an die Fenstervorhänge klebte!
Wenk verließ kurz entschlossen seinen Posten und kam erst abends zurück. Er hatte den Befehl gegeben, die Laterne vor Mabuses Haus zu löschen, indem man die Scheibe einwarf und den Glühkörper zerstörte.
Es war eine dunkle Nacht. Wenk schlich sich in den Garten der Mabuse benachbarten Villa, sobald sich deren Fenster verdunkelt hatten. Er hatte einen Behälter mit geschwärztem Mehl bei sich. Er kletterte über den Zaun in Mabuses Grundstück, schlich vorsichtig zum Gartenweg und verteilte das Mehl in einer dünnen Schicht über ein Stück des kurzen Dammes zwischen Gartentür und Haus. Darauf eilte er über den Zaun in den Nachbargarten zurück und von dort in seine Nummer 26.
Eine halbe Stunde später verließ jemand das Haus Mabuses. Wenk erkannte nichts von der Person.
Anderthalb Stunden nachher kamen Schritte in der Straße unter seinem Fenster vorbei. Er sah einen Mann, der Soldatenuniform trug. Der Mann ging plötzlich zum Haus Mabuses hinüber. Er verschwand in dessen Tür.
Wenk stieg wieder hinab und klemmte sich wieder in einen Busch der Mabuse benachbarten Villa. Nach einer langen Weile hörte er Mabuses Tür gehen. Er sah im Sternenschein, daß eine ältere, beleibte Dame das Haus verließ. Sie ging auf die Straße. Fast im selben Augenblick tauchte dort ein Auto auf. Die Dame stieg rasch hinein, und das Auto jagte davon.
Wenk überkletterte wieder vorsichtig den Hag, der zwischen ihm und Mabuses Garten war, kroch auf allen vieren über den Rasen zum Weg, den er mit dem Mehl bestreut hatte, und beleuchtete eilig mit einer kleinen elektrischen Taschenlaterne den Boden. Da sah er, daß die Sohlenabdrücke von allen drei Personen von genau denselben Schuhen herrührten.
Also, der zuerst herausgekommen war, der Soldat und die Dame waren ein und derselbe Mensch. Und gestern und vorgestern, ging es Wenk auf, der Kaminfeger, der Tabetiker, der Mann mit dem Paket … alle dieselbe Person und alle – Mabuse!
Wenk blies vorsichtig den Mehlstaub fort.
Diese Nacht mußte die Entscheidung bringen. Sturmtrupps der Polizei lagen auf den beiden nächsten Wachen bereit. Sie waren gerüstet, in jeder Sekunde aufzubrechen. Wenn Wenk Mabuse sicher im Hause wußte, eilte er in seine Nr. 26 hinüber, rief an, und drei Minuten später konnten die Polizisten das Haus Mabuses umstellt haben. Das Sprengen der Tür kostete eine halbe Minute. Sechs Mann blieben draußen und umstellten in drei Minuten das Haus. Sechs stürmten mit ihm hinein. War Mabuse in seiner Hand, flog der Befehl nach Schachen.
Wenk schlich rasch in den Nachbargarten zurück. Er legte sich flach auf die Erde und wartete. Die Erde atmete die Wärme, mit der sie sich aus dem Spätfrühjahrstag vollgesogen hatte, um seinen Leib. Er spürte die Kraft des Bodens. Und in einem Gefühl der höchsten Spannung, jetzt, zwei Stunden, eine Stunde, vielleicht nur Minuten vor dem Gelingen seines Werkes, war ihm, als durchbrauste eine Musik, in der alle Geheimnisse des Menschenblutes tobten, sein Herz. Tränen füllten seine Augen. Mit Liebkosungen suchten seine nackten Finger den dunstenden Erdboden. Es war ihm, als fühlte er das entblößte Herz der Menschheit, für die er sein Leben aufs Spiel setzte.
Sein Entschluß war, hier zu liegen und zu warten, bis Mabuse in irgendeiner Verkleidung zurückkam. Er konnte nicht mehr fehlgehen. War jener drinnen … wie in einer Mausefalle drinnen im Hause … so eilte Wenk hinüber und rief seinen Befehl in den Fernsprecher.
Aber bevor es soweit war, sollte er noch eine Erfahrung machen, die ihm das Herz still stehen und einen Schrei in seinen Mund treiben ließ, durch den er sich beinahe verraten hätte. Ein Auto kam die Straße herauf. Es hielt mit einem schreienden Ruck vor Mabuses Gartentür. Aber niemand stieg aus. Nein, die Tür Mabuses öffnete sich, und es kam jemand die Stiegen herunter, und als dieser Mensch ins Licht der Scheinwerfer trat, sah Wenk, daß es die Gräfin Told war.
Wenn er nicht im selben Augenblick seinen Mund in den Erdboden gepreßt hätte, wäre sein Schrei gehört worden.
Das Auto raste den Weg zurück, den es gekommen war. Frauenräuber! Gattenmörder! tobte Wenks Blut auf.
Das also war das Geheimnis vom Tode des Grafen Told! Ein Teufel und ein Werwolf! rief es durch ihn.
Wenk fühlte auf einmal die Kühle der Nacht unter seinen Kleidern. Er zitterte. Bekam er Fieber vor der letzten Minute? Er kämpfte alles in sich nieder. Er hörte in der Stille der Nacht sein Blut wie einen Wasserfall am Trommelfell rauschen; so war er mit aller Energie auf der Lauer und lauschte dem, was kommen sollte.
Es schlug zwölf Uhr. Ihm war, als bebte die Stadt vom Schlag der Glocken. Als müßte dieser Glockenschlag in das unbekannte Haus eindringen, in dem irgendwo gerade das Scheusal war, und jede Tonwelle werde ein wogendes Messer, das ihn zerfleischte.
Der Glockenschlag der Mitternacht ging vorüber. Ein Schritt hallte nah oder fern. Wenk konnte es nicht unterscheiden. Von der Stille und der erwartenden Gespanntheit trommelten seine Ohren laut.
Auf einmal kreischte die Gartentür. Im Sternenlicht war eine breite weiße Hemdenbrust zu sehen. Sie leuchtete. Ein Mann kam rasch auf die Haustür Mabuses zu … und in dem einen Augenblick, wo vor dem Öffnen der Tür die Gestalt des Mannes da oben stand, erkannte Wenk trotz der Dunkelheit ganz genau, daß diese Gestalt der Dr. Mabuse war.
So schloß sich das Netz.
Wenk wartete drei, vier Minuten. Stürzte die Stadt nicht ein diesen etlichen Minuten? Quoll das Pflaster nicht auf? Tobte der Jüngste Tag nicht vom Himmel herunter?
Dann raffte er sich auf und, steif wie ein Blech, überkletterte er den Zaun auf die Straße und eilte hinüber zu Nr. 26. Er stürzte in der Finsternis hinauf, fiel an den Fernsprecher, rief die Nummer und dann an die Wache die Befehle, die er vorbereitet hatte. Er hatte nur die Straße und die Hausnummer zu nennen, die er bisher der Sicherheit wegen geheimgehalten hatte.
Ein Motorfahrer sollte gleich beim Eintreffen der telephonischen Meldung zur zweiten Wache. Unmittelbar nach ihm sollte das Auto mit der ersten Mannschaft ihm folgen, an der zweiten Wache mußten die vom Motorfahrer alarmierten Leute gleich auf das Auto und zusammen mit dem inzwischen angekommenen Fahrzeug der ersten Wache zu dem Haus rasen. So war es abgemacht. Wenk hastete, nachdem er telephoniert hatte, wieder hinab. Er stellte sich in die dunkle Haustür und wartete darauf, den Klang der Automobile die Straße herauf zu hören. Verbrannte er nicht? Nein, er biß sich auf die Zähne. Er krampfte alle Muskeln. Er mußte kalt und hart sein. Stahl! Stahl! Stahl!
Er brauchte nicht lange zu warten.