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Hull ging, und Wenk, allein gelassen mit dem Eindruck des Erlebnisses dieses Abends, fragte sich: Weshalb hat die schöne Frau auf die geheimnisvolle Weise fortgehen müssen? Habe ich wiederum versagt vielleicht? Habe ich mit der Hilfe zur Flucht selber vielleicht die Hand gegeben gegen mich und mein Werk? Er geriet in eine steigende Bewegung. Er schob den zweifelnden Gedanken an die Frau fort. Nein, er fühlte, ihrer konnte er sicher sein. Und nun setzte das Erkennen der Zusammenhänge, die sich zwischen Hull und dem Spieler und anderen Erscheinungen und diesem aufgedeckt, sein ganzes Hirn in eine beschwingte Fruchtbarkeit. Er hörte über seinem Leben den Flügelschlag eines neuen, starken und vergrößerten Daseins. Er bestand Kämpfe des Leibes, der Phantasie, der Nerven, des Spürsinns, der Energie und Ausdauer, der Menschenkenntnisse und des Menschenbeherrschens.
Aus seinem Mund lösten sich die Rauchwölkchen der Zigarre, die er eine nach der anderen verbrannte, und schwebten über ihm. Es lenzte, stürmte, Sonne schien, Sturm prallte ihm durchs Blut. Seine Muskeln tanzten in eingebildeten, heldenhaft überstandenen Kämpfen mit dunklen großen Riesen, die Mitmenschen erwürgen wollten. Er hatte jemanden bei einem falschen, rotblond den, Männlichkeit vortäuschenden Bart gefaßt.
Aus der nachtbesessenen Stadt stürzte die Zeit herauf in das Zimmer, die mit Gefahren, Forderungen, neuen Spannungen wie eine Hochstromleitung geladene Zeit. Verlangte Menschen. Verlangte von allen Menschen allen Ehrgeiz, alle Selbstzucht, Intelligenz, Selbstverleugnung … Selbstverleugnung … Ihn sollte sie nur nehmen! Da war er, entkleidet allen Dünkels wie aller Bequemlichkeit! Er wußte nicht, sagte er sich in seinen ekstatischen Selbstgesprächen, war das eine neue, erlösunggebende Demokratie? War das jenes Ziel, zu dem das Dunkel dieser Zeit die Menschen erzog? Hob er sich auf die sturmrollenden Wogen?
Nicht mehr in dem blassen Idealismus, dem Vaterland zu dienen, floß er nun. Nein, er stand auf eigenen Beinen: Kampf! Kampf! Nicht dienen! Selbstlos und bis zum letzten Tropfen Bluts das zu sein, was er gelernt hatte, und bis zum letzten roten Tropfen das herzugeben, was er herzugeben hatte.
Er hatte nicht seine Laufbahn, aber dies Einzige einzusetzen, was Menschen gemeinsam haben, gemeinsam im Kampf gegeneinander, gemeinsam in der Hilfe des einen zum andern: dies rote schäumende Meer, das an den Küsten des Menschseins in einer Dunkelheit, über die niemand Herr war, zu Gut oder Böse verbrannte. Ein Verbrecher hörte auf für den Staatsanwalt von Wenk in dieser Nacht ein Mensch niederer Ordnung zu sein. Er wurde ein Wesen mit gesteigerten Impulsen, mit von der Kraft der Hölle gespeisten Sinnen, deren gelüstige, dämongesättigte, sich selber übertrumpfende Taten in der Hand des Staatsanwalts ins Nichts zurückgebrochen wurden, so wie Jesus die Sünden der Menschheit in seinem Wesen ertrinken ließ. Der Kämpfer wuchs am Gegner.
Mit der Phantasie hatte Wenk den Blondbärtigen nun ins Genick gebissen. Wenk hatte in ihm einen großen Gegner. Das ahnte er noch mehr, als er es bereits wußte. Konnte er ihn von der Menschheit abtrennen, so hatte er ein Werk geleistet, an dem er sich zu Weiterem nährte.
Das Lied, das so zwei Stunden lang durch Wenks Herz sang, schien ihm auf einmal vertraut. Und staunend erkannte er, daß der Zustand, in den er geraten war, aus seiner Jugend hervorlief, vor Universität, Korps und Examina, als nichts von Menscheneinrichtungen noch sein Blut gemischt hatte. Da war er betroffen, und durch sein leben, das er unbeweibt geführt halte, stieg, wie ein Saft, eine starke, wehmütige Sehnsucht nach seinem Vater, der nicht mehr lebte.
Von Hull erbat sich Wenk am nächsten Tage eine Liste aller heimlichen Spielhäuser, deren Adressen mit Hilfe der in diesen Dingen bewanderten Carozza zu erfahren waren. Er bekam von Hull aber das Versprechen, dem Mädchen gegenüber dabei nicht genannt zu werden.
Wenk besuchte die Häuser Abend für Abend. Er ging dabei in der Verkleidung eines reichen älteren Herrn aus der Provinz. Diese Verkleidung hatte er als die erste gewählt, weil er für sie in einem Onkel ein Modell hatte, das er sich bloß zu kopieren bemühte. Der ältere Herr gab sich den ungezwungenen Anschein, die Großstadt aus vollen Zügen zu genießen.
Wenk hatte einige Helfershelfer aus Karstens Bekanntschaft. Er bat sie, unter der Hand zu verbreiten, daß er, der Provinzonkel, von einem unglaubhaften: Reichtum sei, von dem er, einmal in den Sattel gehoben, in der rechten Weise Gebrauch mache. Er dachte sich, der Spieler von Schramms und andere, die auf Raub ausgingen, könnten so, wie eine Nachtmotte von der Lampe, angelockt werden. Ab und zu spielte er nun eine halbe Stunde lang unsinnig und der Laune des Spiels angemessen, gewann er dann feste Summen, die er das nächstemal wieder dem Spiel ins Maul warf. Dabei verlor er aber niemals mehr den Überblick über sich und die Mitglieder, und sein Hirn arbeitete über Karten und Spiel hinweg mit einer Schärfe, die ihm Genugtuung verschaffte.
Als er an einem Abend der zweiten Woche, in der er dies Leben führte, in ein Spielhaus der inneren Stadt kam, das ihm durch die Zusammensetzung der Besucher, die hier noch unvermittelter war als anderswo, etwas zu versprechen schien, sah er am Spieltisch einen alten Herrn sitzen, der ihm durch seine Hornbrille auffiel. Diese Hornbrille hatte ein ganz ungewöhnliches Ausmaß. Der alte Herr wurde mit Professor angeredet. Als der alte Herr seine Karten in die Hand nahm, setzte er die Hornbrille ab und tauschte sie gegen einen Kneifer von ungewöhnlicher Form.
Da bemerkte Wenk, daß die Brille, die nun auf dem Tisch lag, keine der üblichen modernen Hornbrillen, sondern aus Schildpatt sehr kunstvoll geschnitzt war. Der alte Herr versenkte sie dann in eine geräumige Dose, die mit grüngepunkteter Haifischhaut überzogen war. Er machte alle Bewegungen mit einer eindringlichen Langsamkeit, so daß Wenk viel Zeit zum Beobachten blieb. Das ist ja eine chinesische Brille, sagte er sich auf einmal, sich an China erinnernd, wohin er vor dem Krieg einmal eine Reise gemacht hatte. Die plötzlich auftauchende Erinnerung war so heftig, daß er laut aussprach, was er sich eigentlich nur hatte für sich selber sagen wollen.
Der Professor saß ihm gegenüber, nickte ihm ernst zu und sagte mit einer Stimme, die hart war und die er nicht aus so greisenhaftem Mund erwartet hatte: »Sie ist aus Tsi nan fu!«
Er wiederholte betonend und skandierend: »Tst … nan … fu …« Als sei der Name ein Lied und Erinnerung dahinter, die hart auf ihn einströme und die er im Klang des fremden Wortes genösse. Er schaute dazu Wenk an, als werfe er ihm einen Schlag zu aus seinen hinter den Gläsern vergrößerten Augen.
Wenk war sofort in einem besonderen Verhältnis zu dem alten Professor.
»Tsi nan fu!« sagte die harte Stimme nochmals, wie mit einer besonderen Bedeutung; ja so, als wolle er mit den drei Silben nach etwas werfen, nach immer demselben unsichtbaren Ziel hinter Wenk. Dreimal denselben unsichtbaren Punkt in der Dunkelheit treffen, die sich jenseits des Lichtkreises der Lampen über seiner Stirn errichtete wie eine Öffnung in der Wand.
Wenk griff unwillkürlich mit der Hand an seinen Hinterkopf und schaute sich einmal um. Schaute er nach dem Ziel der drei Silben? Hatten die drei Silben, fremd und aus fremdem Mund wie rote Bälle kommend, das Ziel getroffen?
Wie Wenk sich so umschaute, sah er, daß hinter seinem Spielnachbar die Frau saß, der er bei Schramms zu der sonderbaren Flucht verholfen hatte. Es schien ihm, als blicke sie ihn spöttisch an. Er wußte nicht, wie er sich zu ihr benehmen sollte. Da fühlte er an seinen Fingern die Spielkarten, die ihm inzwischen hingelegt worden waren. Aber als er sich daraufhin dem Tisch wieder zukehrte, um die Karten aufzunehmen, ward er schläfrig. Dunkel spürte er, daß die starren Augen des Professors schuld an dieser Schläfrigkeit waren. Er vergaß die schöne Frau.
Wenk verscheuchte diese Schläfrigkeit. Er setzte sich steif auf und schaute auf die grüne Haifischhaut der chinesischen Brillenschachtel. Es war ihm, als lägen die durch das Glas so sehr vergrößerten Augen des alten Gelehrten auf ihm, verschwimmend, und eine dämmerige Erinnerung an einen Reisetag entstieg ihnen und verflog in Wenks Bewußtsein. Eines Morgens auf seiner Reise nach China schaut er durch das Ochsenauge seiner Kabine und sieht ein dünnes Ufer wie ein Staubband zwischen dem Meer und dem Himmel. Das ist die Mündung des Jangtsekiang. Ja, des Jangtsekiang …
Wenk nannte eine Summe, der Erinnerung folgend. Er gewann und ließ das Geld stehen. Eine wohlige Erschlaffung begann sich in seinem Körper einzunisten. Wenk streckte sich aus und genoß sie.
Dann wurde er wieder wach, spielte und beobachtete. Das Bankhalten ging reihum. Es war Wenk, als erwarte er nur den Augenblick, daß der alte Herr die Bank übernehme. Er fragte sich: Weshalb erwarte ich das? Das ist sonderbar, daß ich das erwarte! Es gibt Regungen, die man nicht bis zu ihren letzten Wurzelfasern verfolgen kann.
Wenk entschied sich, daß er das erwarte, weil ihm der Professor durch die chinesische Brille, durch seine ganze hier so fremde Erscheinung interessanter sei als alle andern, und daß dies Erwarten einem Gefühl der Anteilnahme und Sympathie entspränge.
Je weiter der Abend voranschritt, um so inniger und vorherrschender wurde die geheime Bindung, in die er zu dem Unbekannten geriet. Es ist kindisch, sagte er sich noch, es ist sentimental Es ist jugendlich! Wohin wird das geraten?
Da übernahm der alte Herr die Bank, und es ging wie eine Erlösung durch Wenk … wie die Erlösung von einer unsinnige und unnatürlichen Spannung. Jetzt wird alles in Ordnung ausgehen, sagte er sich. Er setzte eine kleine Summe und wollte damit betonen, daß er sich nicht als Gegner des Bankhalters empfinde, daß er nur für die Form gegen ihn mitmache …
Er gewann. Er hatte acht. Und stellte dann fest, daß er eine viel höhere Note gesetzt, als er beabsichtigt hatte. Deshalb schob er Einsatz und Gewinn zu neuem Einsatz hin.
Er zog einen König und eine Fünf. Er kaufte bei einer Fünf nie eine Karte hinzu. Das war so feststehend in ihm, daß, als die Reihe an ihm war, Ja oder Nein zu sagen, er überhaupt nichts sagte.
»Sie nehmen!« hörte er auf einmal in seine Zerstreutheit hinein. Es war eine große, gewaltvolle Stimme, die das sprach. Sie klang fast wie ein ihn bedrohendes Erbrausen. Aber es war ihm sonderbarerweise, als käme sie von dort, wo vorhin die drei Laute »Tsi nan fu« das unsichtbare Ziel getroffen hatten.
Da flüsterte Wenk verschüchtert: »Bitte!« Im selben Augenblick fuhr er gegen eine innere Zersplitterung auf. Aber es war zu spät. Er hatte eine Fünf bekommen, die, zu den fünf gezählt, sein Spiel wertlos machte.
Der Bankhalter deckte für sich eine Vier mit einer Dame auf, zu denen er keine Karte genommen und infolgedessen gewonnen hatte. »Der Onkel aus der Provinz verliert!« hörte Wenk eine Frauenstimme.
Wenk war erstaunt über die flüchtige Begebenheit. Er drehte sich noch einmal herum und schaute in die Dunkelheit hinauf. Dann wurde er unruhig. Und zugleich war es ihm, als senkte sich ein Flügelschlag über seine Augen. Flügelschlag, sagte er sich, als das Bild erschien. Ja, er saß doch in einem Vogelkäfig. Er bekam sieben.
Das ist nichts, redete ihm etwas ein, obschon es fast sicher gewonnenes Spiel war. Aber Wenk widerstand und sagte deutlich: »Keine Karte!«
Ihm war es, als fielen ihm die Augen zu über der Anstrengung, dieses Nein gesagt zu haben … Dünne Stäbe versuchten sich wie Gitter durch seine Augendeckel zu rammen, um sie ganz schließen. Da, in einer letzten Auflehnung seines Willens gegen die unnatürliche Müdigkeit erkannte er, wie die Hand des Professors auf den Karten lag. Sie drückte sich mit einem leisen Erzittern an die obere Karte an, inbrünstig sie an ihn abgeben wollend, und es ging ein heimlicher, heißer Strom von dieser Hand auf ihn über, der ihn zwingen wollte, die Karte zu nehmen, obgleich er schon Nein gesagt hatte.
Mit dieser Erkenntnis wurde er plötzlich ganz wach. Er empfand, als sänken hinter seinen Augen Ketten durch, die bestimmt gewesen waren, seinen Geist zu fesseln, und mit offenen Augen schaute er den Professor an, auf einmal von einem unbegreiflichen, gierigen und aufreizenden Mißtrauen gegen ihn befallen. Er war versucht, aufzuspringen und die bebenden Finger von der Karte fortzuschlagen.
»Sie nehmen!« sagte die harte, große Stimme, wie einen Befehl. Es war dieselbe Stimme, die er vorhin gehört hatte.
Da antwortete Wenk, übermäßig laut, sich vergessend und unwillig: »Nein, ich habe schon gedankt!«
Die vergrößerten Augen in den Scheiben der Gläser blieben stehen, lagen einen Blutschlag lang auf ihm, sprangen zurück wie Hunde vor einem mächtigeren Angreifer. Der alte Herr legte sich etwas nach vorn, bat um Wasser und Kognak und in rascher Folge darum, das Spiel aufgeben und die Bank abtreten zu dürfen. Ein plötzliches Unwohlsein …
Alle kümmerten sich um ihn, scharten sich um seinen Platz.
Wenk blieb sitzen. Er war betroffen durch den Zusammenhang seines kleinen Erlebnisses mit dem Schwächezustand des Greises. Hing das zusammen? Er fühlte sich verantwortlich für das Zusammenklappen des alten Herrn. Irgendwo in seinem Unterbewußtsein deckte sich verdunkelt eine Vorstellung auf, als habe er mit jenem einen Kampf ausgefochten, und die Folge sei nun das Unwohlsein. Er überlegte, wie er helfen könne …
Da langte er in die Westentasche und suchte das Fläschchen mit Englischem Salz hervor. Er nahm den Stöpsel ab und hielt es hinüber, indem er sagte: »Vielleicht Englisches Salz? Ich habe grade …«
Aber da war er sehr erstaunt zu sehen, daß der alte Herr schon fort war.
Das jähe Mißtrauen von vorhin kam zurück. Er erhob sich rasch und drängte sich durch die herumstehenden Spieler. Er wollte dem Manne nach und ihn einholen. Einer erhob die Hand gegen ihn und sagte etwas Unverständliches, als sei er, Wenk, schuld am Zustand des alten Herrn Professors. Aber Wenk fuhr mit der Hand zu seinem Revolver in die Brusttasche. Die Carozza trat ihm entgegen. Er umging sie hastig, den anderen mitziehend. Mit der freien Hand löste er dann den fremden Griff gewaltsam, all seine Kraft einsetzend, von seinem Arm. Befreit eilte er in den Flur hinaus, der lang und halb verdunkelt seitwärts aus dem Haus ging. Er hörte, sobald er ihn betreten hatte, Schritte hinter sich, hastete weiter, schloß eine Tür hinter sich ab, die er durchgehen mußte, und mündete bald in die Nebengasse, wo die Automobile warteten.
Im Schein einer Laterne bemerkte er noch den alten Herrn, nun keineswegs mehr gebückt, sondern mit kräftiger Eile in eines der Autos steigend.
Seinen eigenen Chauffeur sah er auch schon das Fahrzeug ankurbeln. Er rief ihm leise zu: »Hinter dem dort her!«
Sie flogen ihm nach. Es war ein großer, überlegener Wagen. Aber da es noch früh am Abend war, war viel Verkehr in den Straßen. Der andere konnte seine volle Schnelligkeit nicht geben, und sie blieben hintereinander hängen. Bald wurden sie in eine Kette von Autos und Wagen eingeschlossen, die von einem Theater kamen, und Wenk konnte bequem und unverdächtig bis zum Palasthotel folgen. Vor diesem Hotel hielt der Wagen des Professors. Bevor noch Wenks Fahrzeug stoppte, sah Wenk den andern hastig in die Hotelhalle hineingehen. Er drehte sich einmal ganz flüchtig um. Wenk eilte ihm nach.
Ein Zufall schloß ihn in eine ins Hotel einkehrende größere Gesellschaft ein. Sie deckte ihn. Er sah beim Bureaufenster den alten Herrn eine Depesche hastig aufreißen. Das Lesen hielt jenen fest.
Wenk hatte Zeit, sich einen deckenden Beobachtungsposten auszuwählen. Er sah von dort aus, wie der alte Herr verstohlen über sein Telegramm hinweg den Vorraum musterte. Dann ging jener rasch zum Lift, riß die Tür auf und verschwand hinein. Aber Wenk sah, daß im Innern ein Führerjunge gesessen hatte.
Er wartete, bis an der kleinen Lichtscheibe das Stockwerk aufleuchtete, an dem der Lift hielt. Er sah ihn im Zwischengeschoß durchfahren, im ersten Stockwerk halten. Dann läutete er den Lift herab.
»Erster!« sagte er dem Bediener. Sie fuhren allein hinauf.
»Ist das nicht der Herr aus Zimmer Nr. 15 gewesen, der grade hinauffuhr?« fragte Wenk den Jungen.
»Nein, mein Herr, es ist der holländische Professor von Nr. 10.«
»Dann hab ich mich verschaut! Danke!« sagte Wenk.
Langsam schlenderte er durch den Flur. Er kam an 10 vorbei, verweilte einen Augenblick, indem er sich vorsichtig gegen die Tür hinüber beugte, ging dann weiter und lauschte rückwärts nach der Tür von Nr. 10. Er hörte eine Tür sich öffnen. Es konnte 10 sein. Er verweilte, indem er etwas an seinen Hosen richtete, und als die Tür sich wieder geschlossen hatte, drehte er sich um.
Da sah er, daß vor 10 ein Paar Schuhe stand.
Er ging zurück und hatte einen ungewöhnlichen Einfall. Er wollte bei 10 anklopfen und den alten Herrn fragen, ob sein Unwohlsein vorüber sei. Ihn so überrumpeln. Denn es war sicher, daß dieser Mann für eine Verhaftung reif sei.
Dieser Gedanke schien Wenk sehr kühn und aussichtsreich zu sein. Aber als er vor 10 stand, sah er, daß die Schuhe, die hinausgestellt worden, ein Paar Damenschuhe waren. Da gab er den Gedanken auf, begab sich hinunter und verlangte den Direktor des Hotels zu sprechen. Er zeigte ihm die nötigen Ausweise und erkundigte sich nach dem Bewohner von Nr. 10.
Man brachte das Gastbuch. »Nr. 10, sehen Sie hier, Herr Staatsanwalt, Professor Groich, Haag.« »Nach ihrem Buch wohnt er allein.«
»Jawohl.«
»Wohnt er immer oder nur vorübergehend allein und gelegentlich mit weiblicher Gesellschaft?«
»Ich übernehme jede Garantie, Herr Staatsanwalt. Wir sind sehr streng darin gegen unsere Gäste.«
»Dann hat dieser Gast trotz seines beträchtlichen Körperbaus sehr kleine Füße.«
»Wie meinen Herr Staatsanwalt?«
»Er trägt nämlich Damenschuhe!«
»Herr Staatsanwalt belieben zu scherzen.«
»Kommen Sie mit, Herr Direktor.«
Die beiden fuhren zusammen hinauf. Vor Nr. 10 standen Damenschuhe mit hohen Stöckeln, elegante Lackschuhe mit Einlagen von hellem Rehleder.
Da entsicherte Wenk seinen Browning und öffnete ohne zu klopfen die Tür. Er trat rasch ein. Der Direktor folgte ihm. Das Licht brannte. Aber das Zimmer war leer. Die beiden Fenster waren geschlossen. Das Badezimmer, das offen stand, hatte kein Fenster. Wenk durchsuchte sofort alle Schränke, das Bett, die Läden. Nirgends lag mehr ein Faden. Er hastete auf die Straße hinab. Das Auto des Fremden war verschwunden.
Er ließ den Direktor fragen, wer in den letzten zehn Minuten das Hotel verlassen habe. »Nur der Bureauchef!« sagte der Portier.
In dem Augenblick aber kam der Bureauchef aus einem hinteren Raum und wollte davongehen. Der Portier sah ihn betroffen an. »Sie sind ja eben schon weggegangen!« rief er.
»Ich? – Ich war bis vor einer Minute im Bureau!« antwortete der Angestellte.
Da wußte Wenk genug und suchte nicht mehr weiter. Der Zusammenhang war ihm sofort klar. Der Verschwundene hatte sich für den Fall der Not die Maskierung eines im Hotel bekannten Mannes vorbereitet. Die Damenschuhe hatte er vor die Tür gestellt, weil er richtig berechnete, daß der Verfolger, bevor er ins Zimmer eindränge, auf die unerwarteten Damenschuhe hin noch einmal ins Bureau nachfragen ginge. Und diese Zeit hatte er dann gut genutzt. Wenk hatte es mit einem Meister zu tun. Er bewunderte die Schlagkraft, mit der jener arbeitete. Es lag nahe, dabei an den rotblonden Mann von Schramms zu denken und an den Herrn Balling von Hull.
Wenk durchforschte auf der Heimfahrt und dann zu Haus in der Erinnerung alles, was ihm von jenem Blondbärtigen noch vorhanden war, und versuchte es zu vergleichen mit dem, was er von dem Professor behalten hatte. Aber sonderbarerweise, so viele Einzelheiten ihm von dem Manne bei Schramms haften geblieben waren, ganz deutlich und unverwischbar, so verschwommen, ändernd und ungewiß war das, was er von dem alten Professor in seinem Hirn zurückfand, obgleich diese Begegnung kaum eine Stunde hinter ihm lag.
Über dem wurde er schläfrig. Es war ihm, als habe er sich von einer ungeheuren Strapaze, die er im Verlauf des Tages ausgestanden hatte, zu erholen. Er zog sich aus. Eine Mattigkeit überfiel ihn wie nach einem starken Blutverlust. Jenes Gefühl von einem inneren Leichtergewordensein, das er vom Schluß von Mensuren so wohlig in der Erinnerung behalten hatte: die Abspannung der Nerven nach dem letzten Gang zusammen mit dem Blutverlust nahm ihn vollständig in Besitz.
Er ergab sich ihr und schlief ein, noch bevor er vermocht hatte, sich ganz auszukleiden. Er fühlte sich dabei leise umbaut wie von einem rätselvollen Schloß. Und er wußte, in den drei Zauberlauten »Tsi nan fu«, wenn man sie richtig deutete, oder wenn man das Loch in der Wand erkennen konnte, wohin sie aus dem Mund des Haager Professors zielten, lag der Schlüssel, um das Tor des verzauberten Schlosses zu öffnen.
Wenk ging die nächsten Abende in kein Spielhaus. Er fuhr als sein eigener Chauffeur in Lederjoppe und Sturmkappe in der Stadt herum, stellte seinen Wagen vor eines der bekannten Lokale und beobachtete im Schutz des Führersitzes die Menschen, die eintraten oder gingen.
Einmal, als er auf der Fahrt zu dem ersten der Häuser war und langsam die Dienerstraße hinabfuhr, wurde er durch eine Verkehrsstockung aufgehalten. Als er so dastand, sah er in einem Zigarrenladen, an dem er gerade hielt, etwas, das ihm einen zweiseitig geschärften Schrecken durch den Leib trieb. Denn das war er! Der Blondbärtige! Er drehte den Rücken und kaufte Zigarren. Aber das war er! Er suchte langsam und wählerisch, als ob er der Gefahr, entdeckt zu werden, trotze. Ein Auto hielt vor der Tür. Wenk besah es sich genau. Aber es war ihm unbekannt. Er schrieb sich die Nummer auf.
Der Chauffeur verließ es einmal, um hinten am Wagen etwas nachzusehen. Wenk, der hinter ihm hielt, rief ihn an. Der Chauffeur schaute auf, machte aber mit den Händen Zeichen an seinen Mund, als ob er stumm sei.
Der im Laden nahm sein Paket auf, drehte sich um, der Tür zu. Da war es aber ein ganz anderes Gesicht. Wenk hatte es nie gesehen. Leute schoben sich zwischen den Fremden und seine Blicke. Er sah ihn nur eine Sekunde. Die Verkehrsstockung war in demselben Augenblick behoben. Die Reihe der Wagen fuhr an. Das Auto vor ihm nahm einen mächtigen Sprung, als wolle es ihm enteilen.
Wenk aber wollte sich nicht trennen von seinem Glauben. Er folgte ihm. Sobald das andere Auto aus der Kette los war, nahm es gleich eine größere Schnelligkeit und bog in die Maximilianstraße. Wenk vermochte nicht Schritt zu halten. Die Straße war weithin leer. Er sah, als er selber noch auf dem Maximilianplatz war, daß das Auto die Wiedenmeierstraße nahm. So fuhr er, immer weiter zurückbleibend, aber in der hellen Nacht ihn nie aus dem Blick verlierend, hinter ihm die ganze Wiedenmeierstraße her. Als Went auf der Max-Josef-Brücke ankam, sah er, wie das andere Auto um den freien Platz auf der anderen Isarseite eine sausende Kurve fuhr und plötzlich mit donnerndem Motor auf die Brücke zurück und an ihm vorbeistürzte. Er fuhr wieder die Wiedenmeierstraße hinab, die er gerade heraufgekommen war.
Das war natürlich verdächtig, und Wenk gab sich nun alle Mühe, den Anschluß an ihn zu behalten. Noch auf der Brücke machte er kehrt. Wieder bog der andere Wagen in die Maximilianstraße hinein. Diese war nun von Fuhrwerken belebt, und es gelang Wenk, mit seinem Wagen an den andern heranzukommen.
Das fremde Auto hielt vor einem Varietétheater. Wenk sprang jenseits der Straße aus dem Wagen, und wie der andere sein Auto verließ und, Wenk den Rücken kehrend, in das Theater hineinging, bekam Wenk wieder den därmezerreißenden Schrecken: Das war er doch! der Blondbärtige! … Das ist er doch!
Von einem Fieber gepackt, schob er durch die Menschen ihm nach ins Theater hinein. Er sah, daß er den Fremden im Foyer überholte. Dann wartete Wenk mitten zwischen Menschen, drehte sich auf einmal um, als der andere bei ihm angekommen sein mußte …
Aber Wenk sah ein breites, bartloses Gesicht mit einem brutalen Mund und brennenden großen Augen. Es war ihm fremd. Und fremd und gleichgültig schauten ihn die großen Augen an. Wenk, zornig und enttäuscht, drückte sich beiseite und wollte wieder hinaus zu seinem Auto.
Einige Verspätete hasteten um ihn herum zur Garderobe. Es war genau acht Uhr, und die Klingeln gingen zum Zeichen des Beginns. Wenk malte sich in diesem Augenblick aus, was für ein Taumel es für ihn geworden wäre, und was für ein Aufsehen es erregt hätte, wenn er ihn mitten aus den Menschen heraus verhaftet hätte.
Unfähig, sich von dem enttäuschenden Fremden zu trennen, wandte er sich noch einmal um. Er sah, wie sich der andere gerade aus einem Rudel Menschen trennte, die in den Saal stoben, und ruhig nach der linken Seite der Logen ging. Dort waren die fünf Parterrelogen. Das wußte Wenk. Da entschloß er sich kurz und kaufte einen der Logenplätze. Er bekam den letzten. In jeder Loge waren fünf Sitze, sah er auf dem Plan.
Er ging zu seinem Auto zurück, schmuggelte sich hinein, kleidete sich drin in den Frack, telephonierte vom Theaterbureau seinem Chauffeur, das Auto holen zu kommen, und begab sich zu den Logen.
Es war dunkel, als er eintrat. Er versuchte gleich, in dem ungewissen Licht die Gesichter zu unterscheiden und den Fremden herauszufinden. Aber er fand ihn nicht.
Als die Nummer vorbei war und das Licht wiederkam, gelang es ihm jedoch ebensowenig, den Fremden unter den zwanzig Herren und Damen zu finden, die in der Loge saßen. Das war durchaus unglaubhaft. Der Flur führte nur auf die fünf Logen. Die Logen waren über mannshoch höher als der Saal.
Wo war jener Mann hingekommen?
Von einem Argwohn erfaßt und unruhig eilte Wenk auf die Straße, um zu schauen, ob das Auto des Fremden noch da sei. Ja, es stand noch da. Gott sei Dank!
Wenk atmete auf und wollte zu seinem eigenen Fahrzeug gehen und in ihm abwarten, wohin der fremde Wagen später fahren werde. Da sah er, daß der Wagen auf einmal eine Taxameteruhr hatte. Er hatte sich vorhin das Auto genau angeschaut. Es hatte bestimmt keine Uhr gehabt.
Wenk, schon im Vorbeigehen, überlegte nicht mehr lange, trat auf den Chauffeur zu und fragte: »Sind Sie frei?«
Der Chauffeur sagte: »Jawohl!«
Da stieg Wenk ein, indem er seine eigene Adresse nannte. Er wollte sich auf der Fahrt überlegen, was er weiter tun müsse. Da fiel ihm auf, daß der Führer, der in der Dienerstraße stumm gewesen war, hier auf einmal gesprochen hatte.
Das Auto fuhr an. Ein süßlicher Duft begann sich im Innern auszubreiten. Wenk fühlte von ihm seine Schleimhäute gereizt.
Also etwas war doch los! Vorhin stumm, jetzt kann er sprechen, überlegte Wenk. Vorhin privat … jetzt Taxameter. Wonach roch es so stark? Es brannte ihm förmlich in Nase und Augenwinkel. Wenk zog, um das herauszufinden, einige volle Züge ein. Er wollte dann das Fenster öffnen. Er hielt den Geruch nicht länger aus. Wonach roch es denn? Er hob seinen Arm. Aber er sah, der Arm ging nicht hoch, gehorchte einfach nicht. Zugleich war ihm, als sei ihm ein Brett vor die Augen gepreßt.
Da bekam er eine Angst, die wie ein glühender Ball ihn durchplatzte. Nicht mehr fähig, sich zu wehren, begann er laut zu brüllen, warf sich hin und stieß mit dem Fuß nach der Klinke der Tür. Er traf sie nicht.
Er lag nur noch wenige Augenblicke am Boden, in denen rasch sich verdunkelnde Lichtfetzen von Bewußtsein sein Blut durchflogen. Dann erloschen auch sie, und eine Ohnmacht, die sein Gehirn wie mit Blei ausgoß, preßte ihn auf den Bodenteppich des bald in rasender Fahrt die Straßen durchtobenden Automobils.
Der Chauffeur fuhr mit dem betäubten Staatsanwalt von Wenk in der Nacht nach Schleißheim. Dort lud er ihn auf eine Bank und fuhr nach München zurück. Er fuhr zur Xenienstraße und hielt vor einer alleinstehenden Villa. Auf einem Schild war zu lesen:
Dr. Mabuse
Psycho-analytische Behandlung. |
Gleich kam ein Mann von massiger Gestalt, pelzverhüllt aus der Tür und rasch durch das Gärtchen auf die Straße. »Er liegt im Schleißheimer Park. Hier ist das Notizbuch,« sagte der Chauffeur.
»Haben Sie die Gasflaschen aus dem Wagen entfernt?«
»Jawohl, Herr Doktor!«
»Fahren Sie!« Doch in diesem Augenblick trat eine verhüllte Frau aus der Nacht auf das Auto zu, hielt die Tür an und flüsterte bettelnd: »Du.« Mabuse zuckte unwillig auf: »Was willst du? Betteln?«
Die Frauenstimme antwortete mild und traurig:«Ja, du weißt es, um Liebe!«
»Du kennst meine Antwort.«
»Es ist doch einmal gewesen! Weshalb …?« flehte die Frauenstimme.
Mabuse, erbost: »Gewesen ist gewesen! Du hast zu folgen. Mein Befehl ist klar. Es gibt nichts zwischen Nein und Ja! Du weißt von Georg, was ich will. Georg, fahren!«
Er war schon im Wagen. Die Frau sank ans Geländer des Gartens, barg sich in ihre Pelerine und schluchzte dem rasenden Auto nach: »Und wenn ich nicht aufhören kann zu lieben? …«
Da schlug ein zweites Auto dicht bei ihr in die Bremsen. Ein Mann sprang ab, auf sie zu: »Was wollen Sie hier?« fragte er drohend. »Ach so! Cara, du! Nun denn! Hast du mit dem Doktor gesprochen?«
Sie nickte nur verzweifelt.
»Da ist nichts zu machen. Sein Wille ist wie ein Keulenschlag vor die Stirn. Also folge! Adje, ich muß ihm nach!«
Und Cara Carozza hob sich in den dunklen Kleiderhüllen hoch, ging davon, schmerzhaft gefaßt, dumpfwillig und opferte sich für ihn. – –
»Wo sind wir?« fragte Mabuse durch das Sprachrohr.
»Landsberg vorbei!« antwortete Georgs Stimme.
Die Pläne in Mabuses Kopf wuchsen aneinander wie Wälder, in denen er weiter jagte und die nicht aufhören wollten. Immer neue Halden, immer neue Schluchten! Pläne? Sind es Pläne? Sind es nicht Träume? fragte er sich mit einem plötzlichen Erkalten seiner heißgelaufenen Gedanken.
... Fünf Millionen Schweizer Franken sind jetzt etwa 25 Millionen Lire, sind fünf Millionen italienische Fünf-Lire-Stücke. Ein jedes im Gewicht von 20 Gramm. Fünf Millionen, genügt das? Der Gedanke ist gut. Es ist dabei brutto zu gewinnen auf jedes Fünf-Lire-Stück, das ich nach dem heutigen Kurs mit einem Schweizer Franken kaufe, vier Franken; ganzer Gewinn also vier Millionen Schweizer Franken. Abgehen 30 Prozent Spesen. Gut! Ein jedes 20 Gramm, wie gesagt … Fünf Millionen mal 20 Gramm, wieviel Kilogramm sind das! Hundert Millionen Gramm? Weshalb kann ich so einfache Rechnungen nicht klar ausdenken? Habe ich Angst?
Ja, da stand er in einem neuen Wald. Habe ich Angst? Angst? Wenn ich Angst habe, stürze ich schon. Wer ist denn Hull? Wer ist Wenk? Das sind Lachhaftigkeiten! Angst?
Er faßte seine Gedanken wie mit der Faust zusammen und stürzte sie zurück auf den Weg, von dem sie sich entfernt hatten …
... Hundert Millionen Gramm sind 100 000 Kilo. Ein Schmuggler trägt jedesmal, je nach der Gegend, 10 bis 15 Kilo. Wieviel Menschen lasse ich leben auf diesem einzigen Geschäft? In einem Monat muß die Summe aus Italien in Südtirol und von dort in der Schweiz sein. Über Österreich ist die Grenze leichter, wenn ich auch zweimal Personal haben muß. Das Risiko hat Spoerri, nach den Polizeiberichten, mit nur 3 Prozent berechnet, gegen 10 Prozent über den Bodensee oder auch über die Tessiner Grenze, wo die Grenzwächter ja schon im Frieden alle glaubten, sie müßten Füchse sein.
Mabuses Vorstellungen drohten wieder auseinanderzuwachsen. Soll ich nicht versuchen, doch zu schlafen? »Wo?« rief er ins Sprachrohr.
»Buchloe!«
... Buchloe bis Röthenbach sind 18 Kilometer. Zwei Stunden. Das täte wohl. Um zwei Uhr müssen wir in Schachen sein. Dazwischen Spoerri in Opfenbach und Pesch in der Lindauer Steige. Dann sind wir gleich in Schachen. Dann gibt es keinen Schlaf mehr.
Aber er fand doch keine Macht über sich. Er stand unter dem Druck von Wenks Verfolgungsversuchen. Im Palasthotel war er ihm nur um zehn Minuten voraus.
Er wollte es sich nicht eingestehen. Er rechnete aus, daß der Schmuggel von fünf Millionen Fünf-Lire-Stücken von Italien und Südtirol über Vorarlberg nach der Schweiz zweihundertfünfzig Menschen am Tage beschäftigte an jeder Grenze. Das waren fünfhundert Menschen für den Schmuggel allein. Rechnete er die Aufkäufer dazu und die Sammler in Bozen, so kam er auf siebenhundert Menschen. Mit ihren Familien rund viertausend Menschen, die er erhielt. Das war eine kleine Stadt. Eine kleine Stadt stand in seiner Faust, gebannt im Bösen, und schlich durch lichtlose Nächte, ausgetrocknete Bergbäche hin und durch verwachsene und vereiste Winterwälder unter dem Hammer seines Willens und an den Gewehröffnungen der Grenzwächter vorbei. Und hatten keine Gedanken in sich als ihn, den Besitzer des Silbers, den Ernährer, den Befehlshaber, den Herrn der Macht.
Ihr Leben wagten sie für ihn. Er hatte nie einen von ihnen gesehen. Wie wäre es erst, wenn sie ihn sähen, wenn er mit ihnen spräche, auf einmal auf ihrem Schmuggelweg aus der fremden Nacht auf sie stoßend, und sie glaubten, sie seien abgefaßt, und es sei dann gerade er, der sie im Dienst hatte, ihr Herr!
Viertausend Menschen, eine ganze Gegend. Aber in Eitopomar wird es noch anders sein! Wenn er über den gestürzten Urwald ritte und die Waldmenschen, die Botokuden, und wie sie alle heißen, unter seine Peitsche nähme und das aasige kleine Europa hinter ihm versunken läge! Da wäre weitum nichts anderes als sein Wort. In Eitopomar, wo der Traum sich erfüllen wird, der ihn seit seiner Knabenzeit beschlich … und der sich einst zu erfüllen begonnen hatte drüben auf der einsamen großen Insel, die in die Freiheit der Meere gespannt lag wie in eine wollüstige Schaukel, deren Seile aus Wellenbändern bestanden. Da hatte er Menschen besessen, da war die Natur sein gewesen, da siegte er mit seinen Segeln über das Meer, mit seinen Muskeln und seinem Blut über die Menschen, mit seinem Willen über die Natur, die Palmen seiner Pflanzungen überwuchsen ihn mit einem Reichtum, wachsendes Gold, er konnte es verachten, weil er es nicht nötig hatte, da er so, so frei war, König und Gott …
Aber der Krieg stöberte ihn aus seinem Paradies und trieb ihn in das verhaßte kleine Europa zurück. Er konnte nicht leben in diesen Ländern. Er fühlte sich, wie in eine Weide eingespannt. Gras fressen wie die dummen Kühe! Das vorgeschriebene, eingehegte Gras! Nein! so vermochte er nicht zu leben. Deshalb hatte er unterhalb der Organisation des Staates einen Staat für sich gegründet mit Gesetzen, die er allein ausgab, mit Macht über Leben und Tod von Menschen. Mit seiner Hilfe wollte er Geld erraffen, um sein Kaiserreich in den Urwäldern Brasiliens zu gründen, das Reich Eitopomar.
Er war sich selber genug. Was waren ihm die Menschen? Sein Wille zerspritzte sie. Aber drüben in der Zukunft, in Eitopomar, gab es niemanden, der seinem Willen vorgesetzt war.
Allmählich, unter den gesteigerten Vorstellungen, war Mabuse in einen Schlaf geglitten, der seine Glieder, geballt zwischen die Polster, und seine Phantasie verloren an Träume fesselte, die alles Schwergewicht der Materie aufhoben. Zwei Stunden lang schlief er, in die schwarzen Meere seiner Träume versunken.
Dann war es ihm, als schlüge ein Hämmerchen auf seinen Schädel. Immer auf dieselbe Stelle seines Schädels. Es war lästig. Es war unerhört. Er hatte nur zwei Stunden zu schlafen zwischen Buchloe und Röthenbach. Wer wagte, diesen Hammer an seinen Kopf zu schlagen?
Mit einemmal war er wach. Der Hammer war die Signalpfeife des Sprachrohrs. »Ja!« rief Mabuse in den Sprecher.
»Ein Auto ist hinter uns!«
»Gezeichnet?«
»Grauer Fleck auf der rechten Laterne.«
»Wie spät?«
»Halb eins!«
»Wo sind wir?«
»Zwei Kilometer vor Röthenbach!«
»Halten Sie! Es ist Spoerri!«
Das Auto hielt. Gleichzeitig verloschen die Scheinwerfer. Sofort verloschen auch die des folgenden Autos. Dieses fuhr dicht auf. Dann stoppte es. Eine Stimme hustete herüber.
»Kommen Sie!« rief Mabuse.
Einer kam durch die Nacht heran. Mabuse hatte die Mauserpistole aus der Manteltasche genommen. Der Wagenführer setzte eine kleine elektrische Lampe an, und man sah im Lichtkegel einen mantelverhüllten Menschen. »Spoerri?«
»Ja, Herr Doktor!«
Die Hand ließ die Pistole in die Tasche zurückgleiten. »Spoerri, halten Sie hier eine Viertelstunde oder fahren Sie auf einem andern Weg nach Schachen. Sie müssen kurz nach mir dort sein, halb zwei bis zwei. Ich bin zu großen Änderungen entschlossen, die ich Ihnen mitteilen muß, bevor wir in die Schweiz hinüber, fahren. Sonst? …«
»Alles in Ordnung. Ich habe noch hundert Kilogramm Cer-Eisen im Wagen.«
»Los! Halb zwei bis zwei!«
Sie fuhren wieder. Die Scheinwerfer blieben eine Weile, wo die Landstraße sich der österreichischen Grenze näherte und Grenzwächter patrouillierten, gelöscht. In Schlachters brannten sie wieder an, und das Dorf sank mit hastiger Gespensterhaftigkeit in ihren Lichtkegel»zurück.
Halbwegs Lindau, wo der Wald auf die Lindauer Steige stößt, hielt es wieder. »Niemand da!«
»Nein, Herr Doktor!«
»Pesch?«
»Ich sehe niemanden!«
Mabuse verließ ungeduldig den Wagen. »Ich will ihn züchtigen. Ich will absolut, daß alle pünktlich sind!«
Er wartete weiter. Die Minuten krochen. Mabuse schlug mit der Faust in der Manteltasche auf die Schenkel. Warten lassen! … Warten lassen … der Schmuggler! Ungeduld verbrannte ihn. Er war tief beleidigt, irgendwie an seiner Ehre gekränkt. Ein Schmuggler ließ ihn warten … den Herrn.
Nach fünf Minuten tönte ein Auto über den Nebenweg. Es fuhr mit schwachen Lichtern. Auf der Landstraße hielt es. »Pesch!« schrie Mabuse.
Ein Mann wand sich aus dem offenen Wagen. »Ja, hier! Ich bin es, Herr Doktor! Pesch!«
»Es ist 1 Uhr 45. Um 1 Uhr 25 sollten Sie hier sein.«
»Auf zehn Minuten kommt es nicht an. Ich habe auch schon gewartet!« antwortete auflehnend die Stimme aus der Finsternis.
»Wenn ich eine Peitsche hier hätte, würde ich Sie durchprügeln. Zehn Minuten sind fünfzehn Kilometer Vorsprung vor einer Verfolgung, Sie Esel! Sie verdienen in dieser Nacht zweitausend Mark von mir.«
Der andere entgegnete frech: »Und Sie mit meiner Hilfe zwanzigtausend!«
Mabuse: »Schwachkopf – fünfhunderttausend! Das geht Sie jetzt nichts an. Es ist nur, um zu sagen, wer hier Herr und wer Knecht ist.«
Der andere: »Sie sind nicht mein Herr!«
Da bäumte Mabuse sich auf. »Ich bin nicht … sagen Sie!« Er brüllte: »Doch! Sie können heimfahren. Ich brauche Sie nicht mehr. Nie mehr!«
Er wandte sich schon in sein Auto hinein. Da sagte er noch hastig und drohend: »Sollten Sie etwa Lust verspüren, eine anonyme Anzeige zu versenden, so wissen Sie, daß in einem Wald eine Tanne wächst. Bis der Strick vermorscht und Sie in Ihren eigenen Dreck fallen läßt. Wie der Kollege Haim. Fahren, Georg!«
Das Auto stürzte weiter.
In der Gegend von Bad Schachen, wo Villen mit üppigen Anlagen Automobile unauffällig machten, war ein Parktor offen, und ohne sich zu besinnen, fand Georg den Weg in die schwarze Allee, die zur Villa führte. Die Lichter waren gelöscht. Spoerri kam, noch während Mabuse und Georg an der Haustür standen.
Als Mabuse aufschloß und im Flur das Licht andrehte, sah er, daß Spoerri in der Tracht eines Mönches war. »Es ist nebensächlich,« sagte Spoerri. »Ich mußte heute rasch in die Schweiz hinüber, und drüben im Rheintal ist die Kutte besser als ein ungefälschter Grenzschein. Der letzte von mir liegt in St. Gallen. Sie wissen ja, daß ich dort vorzeitig abreisen mußte. Ich hatte aber bei Xaver die Listen. Die brachte er mir heute nach Altstätten. Das kann man doch nicht mit der Post schicken, heutzutage.«
Sie saßen dann in dem großen getäfelten Speisezimmer. Georg brachte ein Nachtessen, das er zubereitet aus München mitgenommen hatte. Er hatte es auf dem elektrischen Herd auf, gewärmt. Noch essend, sagte Mabuse: »Wir liquidieren am Bodensee. Die Verluste sind fünf Punkte höher als an Land, nach den Listen, die geführt wurden. Ich habe fünf Millionen Stücke italienische Fünf-Lire-Stücke aufkaufen lassen. Sie kommen nach Südtirol, müssen über Vorarlberg nach der Schweiz geschafft werden. Organisieren Sie das, Spoerri. Der italienische Mittelsmann ist Dalbelli in Meran. Sie müssen morgen hinreisen. Ich gebe einen Monat Zeit. Damit fangen wir dann zugleich das neue Gebiet an. Die Schweiz ist jetzt scharf gegen Silbereinfuhr. Darum ist die Konkurrenz im Einkauf schwächer. Man bekommt genug Fünft Lire-Stücke in Italien. Ich habe es auch mit französischem Silber versucht. Aber seit dem Frieden von Versailles ist in Frankreich eine unmögliche Bande in die Geschäfte hinein, gekommen, die niemandem etwas gönnt, weil sie früher keine Kaufleute gewesen sind. Haben Sie sich gemerkt?«
Spoerri nickte und rechnete heimlich.
»Warten Sie mit dem Rechnen, bis ich alles gesagt habe,« fuhr Mabuse ihn scharf an.
Spoerri schaute verwirrt auf.
Mabuse fuhr fort: »Mein Vertrauensmann in der Regierung hat mich darüber unterrichtet, daß die Zwangswirtschaft auf Fleisch im nächsten Monat in Bayern beseitigt wird. Die Tatsache wird noch geheimgehalten. Die Preisunterschiede zwischen Bayern und Württemberg sind enorm und werden die erste Woche wenigstens nach der Aufhebung bedeutend bleiben. Aber gut ist, man kauft jetzt schon auf. Notieren Sie sich, daß ich bis zehn Millionen Mark darin anlege. Soviel man bekommt, kaufen. Baldauff ist tüchtig. Sie fragen Mägerle in Stuttgart wegen der Abnahme an. Daß beizeiten für die Kleinarbeit des Hinüberbringens genügend Leute mobil sind! Es muß alles am dritten Tage nach der Ausgabe der Verordnung erledigt sein. Es wird sich um tausend bis zwölfhundert Stück Großvieh handeln. Man schaut wieder etwas auf Qualität. Kein Kleinvieh. Das Risiko ist zu groß. Rechnen Sie es selber aus, bevor Sie Weiteres darin vornehmen. Es sind 20 Prozent mehr zu lösen. Davon können 10 Prozent als Ausgaben verwandt werden. Sie müssen genauer rechnen als das letztemal beim Salvarsan.«
»Ich hatte dabei nicht …«
»Ich weiß; wie gesagt, nicht genau gerechnet. Pesch scheidet aus. Lassen Sie ihn von der Beseitigungskommission scharf bewachen. Er ist impulsiv. Es darf bei dem geringsten Anzeichen nicht gefaxt werden. Er kann zu Haim gehenkt werden. Man hat den noch heute nicht gefunden … Wie teuer haben Sie das Cer-Eisen bezahlt?«
»Es war teurer als …«
»Es ist immer alles teurer, als … Polen oder die Sowjets können es draufschlagen. Wie teuer?«
»Fünfzig Mark!«
»Also fünfzig Schweizer Franken. Sie müssen es haben. Keinen Rappen nachgeben!«
Es pfiff im Sprachrohr unter dem Tisch. »Ja, Georg,« rief Mabuse hinein. »So … gut. Die ›Rhein‹ ist da, Spoerri. Georg, Sie steuern. Die Wertpapiertasche nicht vergessen. Schluß! Sie reisen doch ohne jede Gefahr nach Zürich, Spoerri?«
»Sobald ich über die Grenzkontrolle bin, ja! Ich reise dann weiter als Pater.«
»Wenn Sie mit der ›Rhein‹ fahren, brauchen Sie doch keine Grenzkontrolle, Sie übernehmen die Aktentasche und bringen ihren Inhalt auf meine Bank. Konto: Ingenieur Salbaz de Marte. Hier ist die Liste: eine Million Deutsch-Luxemburger, zwei Millionen Deutsch-Überseer, fünfhundert Stück Tausendmarkscheine. Diese gleich in Milreis umwechseln. Es ist günstiger als über Dollars oder Schweizer Franken. Benachrichtigen Sie Doktor Ebenhügel, daß neue Papiere im Depot sind. Ich lasse ihm sagen, die erste Konjunktur benutzen und verkaufen, gegen Milreis … Es ist noch eine schwierige Sache zu erledigen: die Ablösung der Leute am Bodensee, die für mich tätig waren. Wenn sie verdienstlos werden …«
»Viele wollen sowieso nicht mehr mitmachen,« sagte Spoerri.
»Ich weiß. Das sind die, die satt geworden sind. Sie sind nicht zu fürchten. Sie haben sich mit meiner Hilfe ihre Häuser schuldenfrei gemacht. Aber die Not zwang mich manchmal wahllos zu sein. Alle, die kein eigenes Haus haben, nicht aus den Augen lassen! In Konstanz ist das Pulverfaß. Da wohnen die jungen Burschen. Wenn wir ihnen den üppigen Verdienst entziehen, sind sie plötzlich nichts mehr als Gauner, sitzen in acht Tagen im Gefängnis und reden in der Wut. Sprechen Sie noch mit Georg darüber, was dort zu machen ist. Er soll morgen hin. Am sichersten wäre, sie in die Fremdenlegion abschieben. Gehen Sie Magnard aufsuchen, sobald Sie von Zürich und Meran zurück sind. Auf das Kopfgeld verzichten Sie natürlich nicht. Sie geben es Georg, damit er es unter die Betroffenen verteilt … Beauftragen Sie Böhm, die drei Motorboote zu verkaufen, die wir außer der ›Rhein‹ noch auf dem See haben. Der trägt noch immer an der Mütze die Fassade des Königlich Württembergischen Yachtklubs. Darunter geht das unauffällig. ›Rhein‹ bleibt in der Nähe, für alle Fälle. Das Boot kann sechzig Kilometer machen, wenn es ihm aufs Steuer brennt. Wir gehen!«
Georg wartete draußen. Die drei Männer tasteten sich durch die Dunkelheit des Parks zum Steg. Sie hörten schon den Motor leis atmen.
»Man hat meinen Befehl ausgeführt: Es ist nichts an Bord?« fragte Mabuse.
»Außer dem Cer-Eisen, nichts!«
»Hinaus damit. Ich bin kein Alteisen-Trödler!«
Georg lief voran. Drei Männer arbeiteten in der Finsternis. Dann stiegen Mabuse und Spoerri ein, und das Boot fuhr gleich los. Es fuhr vorsichtig unter der niederen Nacht. Kaum wagte der Motor zu pusten. Leis schütterte die Kabine, in der Mabuse sich in seinen Pelz hüllte. Dann ging er auf die hintere Plattform hinaus und dann ungeduldig zum Motor nach vorn.
Als sie eine Weile fuhren, horchte er hinaus. Es war ihm, als hörte er einen Lärm. Der Lärm perlte durch die Geräusche des eigenen Bootes an sein Ohr. »Halt!« befahl er.
Georg stoppte. Da verging der Lärm draußen. Man fuhr wieder an. Es geschah alsbald, daß auch der Lärm auf dem See um sie von neuem klang … bald rechts, bald links … Mabuse ging auf die Plattform, wo das Geräusch des Motors weniger stark war. Da hörte er es ganz deutlich.
Wir sind verfolgt oder wenigstens beobachtet, sagte er sich. Ist das schon der Staatsanwalt Wenk? Ruhig und trotzig bereitete er seine beiden Pistolen. Er überlegte, was er tun sollte, wenn ihn die Verfolger anriefen. Er bemühte sich, in der Finsternis die kleine Flagge zu erkennen, die am Heck der ›Rhein‹ flatterte. Aber es war zu dunkel.
»Spoerri!« rief er leise in die Kabine.
Als Spoerri kam, fragte er: »Als was fahren wir? Horchen Sie, wir sind verfolgt!«
»Nein, nein,« sagte Spoerri, »wir fahren als Schweizer Wachtboot. Ich habe Warnung, daß die Deutschen heute mobil sind. Da habe ich die drei anderen Boote herbeordert. Eines fährt hinter uns, die beiden anderen rechts und links. Es käme niemand durch. Wir sind schon im Schweizer Fahrwasser.« »Wieviel verdienen Sie im Jahr bei mir, daß Sie soviel Sorge um mich haben?« fragte Mabuse mit einem gehässigen Ton.
»Genug!« antwortete Spoerri. »Aber es ist nicht deshalb.«
»Es ist aus Liebe!« geiferte Mabuse. »Wollen Sie mit mir schlafen gehen? Oder ist es die reine Nächstenliebe, die seit dem Kriege euch Schweizern so gut steht?«
»Nun ja«, sagte Spoerri nur.
»Ich habe dreiundeinehalbe Million bei mir in der Aktentasche. Wenn Sie wagten, mich zu erwürgen, täten Sie es. Aber Sie wagen es nicht. Das ist alles. Das ist die ganze Menschlichkeit und Liebe, Sie haben im letzten Jahr von mir 85677 Mark bekommen, und nebenbei … genügt das Ihnen, kein Mordsgelüst gegen einen Menschen zu haben?«
»Ja!« antwortete Spoerri einfach.
»Dann sind Sie ein Knecht. Mein Knecht. Hören Sie: mein Knecht!«
»Ich höre!«
»Soll ich dich ins Gesicht schlagen? Nein, ich bringe meine Haut nicht in Berührung mit deinem Knechtsfell. Ich spucke nur durch die Luft!«
»Über Bord. Sie bekommen mit niemanden Streit. Der Bodensee hat keinen point d'honneur.«
» Point d'honneur ist ein fabelhafter Ausdruck. Ein Point ist so groß wie eine halb ausgetretene Wanze. Genau so groß wie die Ehre der Menschen. Was? Ihre auch, ha? Sie haben wohl solch eine Ehre, wie sie der Bodensee nicht hat?«
»Ich habe sie nie gemessen!«
»Sprechen Sie anständig mit mir. Ich vertrage Ihren Käsewitz nicht …«
»Wir kommen aufs Ufer zu.«
»Weichen Sie nicht aus, Sie!«
»Nein!«
»Sie!« rief Mabuse unterdrückt, aufquellend in jäher Erbosung. »Ich spüre, wie der Haß aus meinen Fingerspitzen sprüht. Ich drücke Sie Ihnen an den Hals, Sie … Sie Hund … Sie Menschengehunds. Als seien Sie ein elektrischer Draht in einem amerikanischen Hinrichtestuhl. So fallen Sie um, Sie jämmerliche Kreatur.«
In diesem Augenblick stellte der Motor ab. Der Lärm der Boote hinter ihnen war seit einer Weile verstummt. »Weshalb fährt er nicht mehr. Habe ich befohlen?« fragte Mabuse jähzornig.
»Es ist kein Signal am Ufer!«
Da kam Mabuse zu sich. Er stand auf, knirschte mit den Zähnen und fragte: »Was ist los?«
»Wir müssen warten. Säuli ist sonst zuverlässig. Es ist etwas los.«
»Warten wir! Haben Sie die Waffen bereit?«
»Ja, wenn das Signal nicht kommt, wäre es besser, wir gingen ins Beiboot. Wir könnten dann zu den anderen Booten zurückrudern.«
Hinter Romanshorn begann ein Scheinwerfer aufzudrehen. Er warf einen Lichtbalken in den Himmel. Der Balken senkte sich, die Finsternis durchtastend, genau suchend und verweilend, nach der Seemitte aufs Wasser. Bald stieg er wieder rasch in den Himmel und fiel erbarmungslos auf die Stelle zu, wo Mabuses Boot hielt.
Mabuse zitterten die Fußgelenke vor Spannung.
Aber auf einmal blieb die Säule von Licht an einem hervorstehenden Haus in Romanshorn hängen, dort, wo auf dem Hügel am Ufer die neue Kirche war. Daraus sahen sie im Boot, daß das andere Fahrzeug weit hinter Romanshorn sein mußte und keine Gefahr bedeutete. Ihr Boot blieb im Dunkel. Im Bahnhof am Ufer hingen weit verteilt einige Bogenlampen. Ihr Schein spielte fern auf dem schwarzen Wasser, wie blaßleuchtende Leichen schaukelnd, vergehend, wieder emportauchend.
Da sagte Mabuse streng: »Nein, wir bleiben! Sagen Sie Georg, er solle die Luftdruck-Mitrailleuse an den Motor anschalten.«
Spoerri ging.
Unter dem Polster war ein Giftgas-Apparat. Mabuse zog den Schlauch hervor. Der Wind kam von Südosten, also dafür aus guter Richtung. Er bereitete für sich und seine Begleiter die Masken und versuchte den Öffnungshahn.
Da erschien am Ufer ein Licht, verging schnell, kam wieder, zuckte fort und blieb dann.
Der Motor knurrte wieder an. Bald fuhr das Boot in den Bach hinein, zwang sich zwischen Bäumen weiter und stieß dann sacht an. Der Motor schwieg, und ein Mann reichte vom Land aus ein Tau.
Dann hörte Mabuse den Namen Dr. Ebenhügel. »Ja,« sagte Mabuse, »er soll ins Boot kommen.«
Eine Gestalt trat aufs Boot herüber. »Doktor Mabuse, ich, Ebenhügel. Ich komme gerade von Zürich. Mein Auto ist schuld, daß Säuli das Zeichen nicht pünktlich gab. Die Grenzer-Automobile spuken jetzt jede Nacht herum. Bekamen Sie mein Telegramm? Es ist etwas los. Der Schreiber hat gewarnt. Er konnte nicht sagen, was es ist. Er erfuhr nur aus einer Antwort seines Bureauvorstandes, daß es über das Generalkonsulat in Zürich von der Münchner Staatsanwaltschaft kam.«
»So,« sagte Mabuse, mit zusammengedrückten Zähnen, »das ist der Staatsanwalt von Wenk. Warte, Herr Staatsanwalt von Wenk!« Dann wandte er sich an Ebenhügel: »Ich war nie ohne Gefahr und bin nie darin untergegangen.«
»Ich wollte sagen, daß man nur von München aus die Gefahr neutralisieren kann. Es soll nicht heißen, wenn etwas schief geht, wir in Zürich seien schuld daran.«
Mabuse antwortete schroff: »Wie sprechen Sie?«
»Die Sache ist für mehrere Menschen wichtig.«
»Für wen denn noch?«
»Zum Beispiel für mich!«
Mabuse zog eine weitläufige wegschiebende Gebärde durch die Luft. Ebenhügel sog geräuschvoll die Luft ein.
»Ich habe nicht getrunken,« fuhr ihn Mabuse an. »Wie können Sie mich wegen einer solchen Nichtigkeit diese Reise machen lassen!«
»Ich hielt es für wichtig, Sie selber zu unterrichten. Alle Post wird heute kontrolliert, Menschen sind unzuverlässig.«
»Wer bezeugt mir, daß Sie zuverlässig sind? Sie sind auch ein Mensch.«
»Unsere gemeinsamen Interessen, Herr Doktor. Ich wollte nur sagen, die Gefahr droht von München aus. In der Schweiz wären Sie sicher. Sie haben ja Reichtümer aufgestapelt, die Ihnen erlauben, in jedem Land zu leben. Bleiben Sie hier. Bei uns sind Sie sicher.«
»Was wissen Sie davon? Sie haben mein Vermögen zu verwalten, sonst nichts. Nur zu verwalten! Basta! Noch etwas?«
Der Rechtsanwalt berichtete über seine letzten finanziellen Operationen für Mabuse. Mabuse nahm die Aufzeichnungen, die jener mitgebracht hatte, an sich. Er schritt dann am Bachufer fünf Minuten auf und ab, allein, um sich nach dem langen Fahren zu ergehen.
»Ist Spoerri noch da?« fragte er. »Sie brauchen dann nicht nach Zürich zu reisen,« sagte er ihm. »Ebenhügel nimmt die Mappe mit. Wir fahren zusammen nach Schachen zurück.«
Auf der Rückfahrt vermochte Mabuse nicht sitzen zu bleiben. Er ging ununterbrochen auf der kleinen Plattform hin und her. Ein Lichtzeichen blitzte vor ihm auf. Die drei Konvoiboote pochten wieder um sie. Ihr Lärm ging verborgen in der Finsternis wie von Geistern.
Mabuse telephonierte durchs Sprachrohr nach vorn:«Georg, Kognak!« Das hörte Spoerri, und er erschrak.
Mabuse trank in der halben Stunde, die die Fahrt dauerte, die Flasche leer. Er war betrunken, als sie an Land gingen. Er torkelte durch die Finsternis dem Hause zu, den andern voran, die nach seinem Befehl fünf Minuten warten mußten, bevor sie ihm folgten. »Wir trinken weiter,« befahl er im Speisezimmer. »Bring! Georg!«
Spoerri überfiel ein Gruseln. Er wußte, wie es ging. Der Doktor wurde, je mehr er trank, immer nüchterner und grausamer. Spoerri selber mußte sich bis zur Bewußtlosigkeit betrinken. Sie tranken nun Sekt zur Hälfte mit Kognak gemischt.
»Das ist aufgelöstes Gold,« stammelte Mabuse. »Her! Größere Gläser! Georg! Die Pokale! Spoerri, ein Zug! Reisläufer-Sohn! auf einen Zug! Hundeblase, hinab! In deine Hundeblase!« Er trank vor. »Gefehlt!« schrie er, da er vor Spoerri fertig war. »Noch einen! Du mußt kotzen! Ich muß dich kotzen sehn! Deine Seele ausspucken sehn, du halbverdautes Menschenaas!«
Spoerri trank, und in den Augwinkeln drehte alles kopfüber in eine Tiefe hinab, in die er selber zu fallen drohte.
»Hast du gehört, der Herr von Wenk? Staatsanwalt in München! Dein Notizbuch! … Beseitigungskommission … Befehl des Generals, nein des … Fürsten … Staatsanwalt Wenk. Nein, warte … Zuerst der Herr Hull. Der fing an … Spoerri, Landsknecht, Gedärm, sauf'! So wie ich! … Ja … Hull, Hull, schreib': Gerhard Hull! Hubertusstraße 34. Ab mit ihm! Der Reihe nach. Der zuerst! Wie sie's selber gemacht haben. Georg macht es. Du hilfst! Die Carozza fädelt es ein. Such' Helfer! Schreib'! Befehl des … Fürsten! Trink' … Du … des Fürsten, hast du? Hä, welches Fürsten, Gedärm, beschmierter Stiefel, welches Fürsten? du … des Fürsten, des Kaisers von Eitopomar in Süd-Brasilien. Ein Wort aus seinem Mund, und tausend Weibern bluten die Rippen, und fünfhundert Männer können nicht mehr zeugen. Ein einziges Wort! Eine Gebäude! Grinse nicht, oder ich kastriere dich mit dem Glasscherben!«
Er zerschlug seinen Pokal und bedrohte Spoerri mit den Scherben. »Schreib' i... ich,« stöhnte der, »schreib' i... ich schon.«
»Tausend Weiber und fünfhundert Männer!« schrie Mabuse.
»Doktor?« fragte Spoerri zaghaft und durch seine sinnenfressende Betrunkenheit voll Dumpfheit erschreckend. »Weiß i... ich jetzt nicht … weiß … Hull! Ich? Hubertusstraße 34 … Ich? Ist dir ernst, Doktor?«
Da stand Mabuse auf einmal, so betrunken er war, kerzengrad. Er brüllte: »Dir?« Dann schlug er Spoerri von oben herab mit der Faust auf die Stirn, daß der mit seinem Stuhl langhin auf den Boden fiel.
»Will schlafen gehn, Georg!« schrie er hinaus, von Wut zersprengt. Er ließ Spoerri bewußtlos liegen, wie er hingefallen war, und ging.
Am nächsten Morgen saß Spoerri schon im Eßzimmer, als Mabuse kam. Mabuse hatte im Bett gefrühstückt. »Zeigen Sie Ihre Notizen!« befahl er barsch.
Er durchflog sie, fand Hulls Adresse mit trunken fallenden Buchstaben dazwischen geschrieben und gab Spoerri das Buch zurück.
»In Ordnung!« sagte Mabuse.
Spoerri umkroch ihn wie ein Hund auf der ängstlichen Lauer vor der Stiefelsohle.
Das tat Mabuse wohl. Das beruhigte und versöhnte ihn. Er wurde gesprächig. Spoerri ging es auf wie ein taubes kleines Glück, daß der Herr freundlich zu ihm ward, daß der furchtbare Wille, der aus dem großen Kopf dieses machtvollen Mannes auf ihn hämmerte, freundliche Worte für ihn herausbrachte und ihm Anerkennung gab.
»Spoerri,« sagte Mabuse, »ich geh' mit Ihnen nach Konstanz. Es ist wichtig, daß die jungen Leute uns keine Dummheiten machen!«
Da leuchtete Spoerri. »Ja, wenn sie den Herrn Doktor sehen, dann ist nichts zu fürchten.«
Die beiden blieben tagsüber in der Villa. Mabuse trank, zwang Spoerri aber nicht mehr mitzutun. Vor dem Mittagessen schon war er betrunken.
Spoerri war, müd in Hirn und Blut von dem schweren Rausch der vergangenen Nacht, auf eine überweiche Art um Mabuse besorgt. Er versuchte heimlich mit naiven Kniffen, ihn vom Trinken abzuhalten. Aber Mabuse merkte das bald. »Weg da! Die volle Flasche her! Daß das nicht noch einmal versucht wird!« sagte er.
Er mußte trinken. Er trank und feuerte seinen bösen, starken Geist an. Seine Phantasie fand im Rausch die Einfälle der großen Geschäfte, wenn sie von seinem Willen alle Ablenkung nach außen fernhielt und der Rausch ihn in sich selber einschloß wie in eine Burg aus Tausendundeiner Nacht.
Das verstand niemand. Der Alkohol war ihm ein Märchenerzähler, war ihm der Strom, der in der Tiefe den Saft des Lebens trug und zum Schöpfen hinreichte. Er badete in ihm wie in der Liebe zu einer Frau, in fließenden Abspannungen, neue Bahnen erspringend, ununterbrochen. Löste alle Gesetze auf und ließ ihn im Eignen uneingeschränkt, hemmungslos wachsend, über alle Grenzen sich dehnen … sein eignes System, seine eigne Welt und Sonne.
»Spoerri, wie gefällt dir Europa?« lallt er.
»O gut, Herr Doktor!« antwortet Spoerri entgegenkommend unbesonnen.
Da brüllt Mabuse ihn an: »Du gehst nicht mit nach Eitopomar, meinem Reich! Europa ist eine Filzlaus. Einer kriecht dem andern ins Fell. Alle überkriechen sich. Sie ertränken sich mit Petroleum. Alle die Filzläuse, die Schmarotzer, die Stinker, die Heimlichen, die Hautjucker. Mit Petroleum, weil sie wissen, daran krepiert man nicht. Eine Hautpore ist schon ein Krater für sie. Aber wenn ich in Eitopomar sein werde … Spoerri, du gehst nicht mit! Ich geh' jetzt schlafen. Bis nachher.«
Mabuse torkelte hinaus. Im Schlafzimmer auf seinem Bett, angekleidet, ließ er noch einige Minuten, als sei er selber Weltall, befreit von Grenzen und Räumen, die Ausbrüche seines Willens über sich fließen, Lava und Urschlamm, kochend durch tausend Nächte dem einen Tag entgegen, der ihm in dem fernen Reich alle Macht über Leben und Tod von Tieren, Wäldern und Menschen in seine beiden gierigen Hände geben sollte.
Abends, als die Dämmerung eingebrochen war, fuhren sie nach Konstanz.
Mabuse war nüchtern, schweigsam und mürrisch. Seine Vorstellungen bearbeiteten schon mit harten Schlägen, die in seinen Nerven fühlbar widerzitterten, das Rudel junger Burschen, das in dieser Stadt, die in die Grenze eingespießt lag wie eine Zecke, seit dem Waffenstillstand für ihn tätig gewesen war. Von dieser selben Stadt aus hatte er begonnen, als der Krieg ihn aus dem eignen und selbstherrlichen Reich seiner Pflanzung auf der Salomonen-Insel nach Europa zurückgeworfen hatte und er sich hier mit der sprengenden Macht seines Willens nicht besser zurechtfand als damals, da er, nach dem Examen, die Südsee gegen eine Arztkarriere in einer süddeutschen Stadt getauscht hatte.