Victor Hugo
Han der Isländer. Band 2
Victor Hugo

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XLI.

Ordener Guldenlew saß in einem feuchten Kerker, in welchen das Licht des Tages nur spärlich durch vergitterte Oeffnungen fiel. Seine Hände und Füße waren gefesselt, ihm zur Seite stand ein Wasserkrug und lag ein schwarzes Brod. Die schwere eiserne Pforte drehte sich kreischend in ihren verrosteten Angeln, Ethel Schuhmacher trat herein.

Halb ohnmächtig fiel die Jungfrau in seine Arme, ein Thränenstrom floß aus ihren Augen über seine gefesselten Arme hinab. Lange hielten sie sich sprachlos umarmt. Endlich erhob die Jungfrau das Haupt von seiner Brust.

»Ordener,« sagte sie, »ich komme, Dich zu retten.«

Ordener schüttelte lächelnd den Kopf: »Mich retten, Ethel! Flucht ist unmöglich.«

»Das weiß ich wohl. Dieses Schloß wimmelt von Soldaten, jeder Ausgang ist bewacht. Aber ich bringe Dir ein anderes Mittel der Rettung.«

»Vergebliche Hoffnung! Täusche Dich nicht selbst durch Trugbilder. In wenigen Stunden wird das Beil des Henkers . . .«

»Halt ein, Ordener! Nein, Du sollst nicht sterben. Der Tod in seiner ganzen schrecklichen Gestalt steht vor meinen Augen, ich will freudig das Opfer bringen.«

»Welches Opfer?«

»Ordener, Du sollst nicht sterben. Um das Leben zu behalten, darfst Du nur versprechen, Ulrike Ahlfeldt zu heirathen.«

»Ulrike Ahlfeldt! Dieser Name in meiner Ethel Mund!«

»Unterbrich mich nicht. Die Gräfin Ahlfeldt schickt mich hieher. Man verspricht Dir, Deine Begnadigung vom König zu erlangen, wenn Du der Tochter des Großkanzlers Deine Hand reichen willst. Mich hat man zur Botin gewählt, weil man glaubt, daß meine Stimme etwas über Dich vermöge.«

»Ethel, wenn Du aus diesem Kerker gehst, so sage ihnen, daß sie den Henker schicken.«

Die Jungfrau sank auf die Kniee vor ihm, hob ihre Hände flehend zu ihm auf und sagte mit brechender Stimme: »Ordener, willst Du mich tödten?«

Eine Thräne trat in des Jünglings Auge: »Ethel, hast Du aufgehört mich zu lieben?«

»Ich Dich nicht mehr lieben?« rief die Jungfrau aus.

»Du liebst mich nicht mehr, denn Du verachtest mich.«

»O mein Gott! Den sollte ich verachten, den ich anbete!«

»Wie konntest Du mich dann auffordern, mein Leben durch das Opfer meiner Liebe zu erkaufen?«

»Ordener, von den Fenstern meines Kerkers sieht man auf dem Waffenplatze Dein Schaffot erbauen. Die Gräfin Ahlfeldt kam zu mir, sie fragte mich, ob ich Dich retten wolle, sie bot mir dieses Rettungsmittel an. Ich schwankte keinen Augenblick, ich kenne kein anderes Glück mehr, als Dich dem Leben zu erhalten.«

»Auch ich schwanke keinen Augenblick, geliebte Ethel! Ich will sterben, und wenn Du wüßtest, warum ich sterbe, so wärest Du nicht gekommen, mir mit Ulrikens Hand das Leben anzubieten.«

»Wie? Welches Geheimniß! . . .«

»Laß mir mein Geheimniß. Ich will sterben, und Du sollst nicht wissen, ob ich für meinen Tod Deinen Dank oder Deinen Haß verdient habe.«

»Du willst sterben! Ist es denn kein Traum? Und eben schlägt man das Blutgerüste auf, und keine menschliche Macht vermag Dich zu befreien! Nein, Du sollst nicht sterben; Du bist zu einem langen glücklichen Leben bestimmt. Gewiß ist diese Ulrike Ahlfeldt ein edles Geschöpf, die Dir das Leben versüßen wird.«

»Nichts mehr davon, meine Ethel! In diesen letzten Augenblicken soll nur Dein und mein Name aus unserem Munde gehen.«

Ein Greis in priesterlicher Kleidung trat aus dem Schatten des dunklen Eingangs.

»Was wollen Sie?« fragte ihn Ordener.

»Gnädiger Herr, ich bin mit der Abgesandten der Gräfin Ahlfeldt gekommen. Sie haben mich nicht bemerkt, und ich wartete in der Stille, bis Ihre Augen auf mich fallen würden. Ich bin der Geistliche, welcher . . .«

»Ich verstehe, und bin bereit.«

»Auch Gott ist bereit, Sie aufzunehmen, mein Sohn.«

»Herr Prediger, Ihr Gesicht ist mir bekannt. Ich habe Sie schon irgendwo gesehen.«

»Im Thurme von Bygla. Sie versprachen mir die Begnadigung von zwölf Verurtheilten, und ich setzte kein Vertrauen in Ihr Versprechen, denn ich wußte nicht, daß Sie der Sohn des Vicekönigs sind, und Sie, gnädiger Herr, der damals auf seinen Rang und seine Macht vertraute . . .«

»Ich kann jetzt heute nicht einmal meine eigene Begnadigung erlangen. Ich baute auf meine Macht, aber das Schicksal ist mächtiger, als wir arme Sterbliche.«

Der Geistliche beugte das Haupt: »Gott ist allmächtig, Gott ist allgütig.«

»Herr Prediger,« sagte Ordener nach einer Pause, »ich will mein Versprechen halten. Wenn ich vollendet haben werde, so gehen Sie nach Bergen zu meinem Vater, und sagen Sie ihm, die letzte Bitte seines Sohnes an ihn sei die Begnadigung der zwölf Verurtheilten. Er wird sie Ihnen gewähren.«

»Mein Sohn,« erwiederte der Geistliche mit gerührter Stimme. »Sie müssen ein edles Herz haben, daß Sie in der Stunde, wo Sie Ihre eigene Begnadigung verschmähen, um Gnade für Andere bitten. Sagen Sie mir nun: Unde scelus? Wie kommt es, daß ein Mann, der so edle Gefühle hegt, sich mit dem Verbrechen des Hochverraths besudeln konnte?«

»Mein Vater, das habe ich selbst diesem Engel verhehlt, und kann es Ihnen auch nicht sagen. Das dürfen Sie aber glauben, daß die Ursache meiner Verurtheilung nicht in einem Verbrechen liegt.«

»Erklären Sie sich näher, mein Sohn.«

»Drängen Sie mich nicht, ich will mein Geheimniß mit in das Grab nehmen.«

»Dieser Mensch kann nicht schuldig sein,« murmelte der Prediger zwischen den Zähnen. Hierauf zog er ein Crucifix aus dem Busen, stellte es auf die Mauer, zündete eine kleine eiserne Lampe an, die er mitgebracht hatte, und legte eine Bibel daneben.

»Jetzt, mein Sohn, erheben Sie Ihren Geist im Gebet. In einigen Stunden werde ich wiederkehren. Wir müssen jetzt,« fügte er zu Ethel gewendet hinzu, »den Gefangenen verlassen.«

Ethel erhob sich mit Ruhe. Ein Strahl himmlischen Friedens leuchtete aus ihren Augen.

»Verweilen Sie noch einen Augenblick, Herr Prediger,« sagte sie. »Sie müssen zuvor Ethel Schuhmacher mit Ordener Guldenlew ehelich verbinden.«

Sie warf einen Blick auf Ordener: »Wenn Du noch glücklich, frei und mächtig wärest, so würde ich mein Schicksal von dem Deinigen trennen. Jetzt, da Du ein armer Gefangener bist wie ich, so will ich mich mit Dir im Tode vereinen.«

Ordener umschlang entzückt ihre Kniee.

»Sie, ehrwürdiger Greis, werden Vaterstelle an uns vertreten, dieser Kerker ist der Tempel, dieser Stein der Altar. Hier ist mein Brautring, wir liegen auf den Knieen vor Gott und seinem Diener. Weihen Sie den Bund unserer Ehe ein.«

Der Prediger betrachtete sie mit mitleidigem Wohlwollen: »Wie, meine Kinder! Was machen Sie da?«

»Mein Vater,« erwiederte die Jungfrau, »die Zeit enteilt. Gott und der Tod erwarten uns.«

Der Priester hob seine Augen zum Himmel: »Möge mir Gott verzeihen, wenn meine Schwäche strafbar ist! Ihr liebt Euch, Euch ist nur noch eine Spanne Zeit auf Erden übrig, ich will Eurer Liebe den Segen der Kirche ertheilen.«

Die Ceremonie war vorüber, sie erhoben sich als Gatten.

»Was das Leben nicht konnte,« sagte die Jungfrau feierlich, »hat der Tod vollbracht: wir sind durch das Band der heiligen Ehe vereint. Höre mich jetzt, mein Gatte! Ich werde an das Fenster treten, wenn man Dich auf das Blutgerüste führt, und ehe der tödtliche Streich fällt, wird meine Seele ihre irdische Hülle verlassen haben. An den Pforten des Himmels sehe ich Dich wieder.«

Der Jüngling drückte sie schweigend an seine Brust.

»Meine Kinder,« sagte der Priester gerührt, »sagt Euch Lebewohl!«

Ethel sank auf die Kniee nieder: »Segne mich, mein Geliebter, ehe ich scheide!«

Ordener legte segnend seine Hand auf ihr Haupt; dann wandte er sich an den Priester, um ihn zum Abschied zu grüßen. Der ehrwürdige Greis kniete vor ihm.

»Was verlangen Sie von mir, mein Vater?« fragte er staunend.

»Deinen Segen, mein Sohn!« erwiederte der Priester mit christlicher Demuth.

»So segne Dich der Himmel, mein Vater, und vergelte Dir in der Ewigkeit, was Du hienieden für die Menschen, Deine Brüder, gethan hast!« sagte Ordener feierlich.


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