Victor Hugo
Han der Isländer. Band 2
Victor Hugo

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XXX

Hacket sprang dem ankommenden Kennybol entgegen.

»Endlich!« rief er aus, »mein lieber Kennybol, endlich kommt Ihr! Ich will Euch sogleich Eurem gefürchteten Anführer, Han dem Isländer, vorstellen.«

Bei diesem Namen wich Kennybol, der bleich, athemlos, mit verwirrten Haaren, schweißtriefend am Gesicht und mit blutigen Händen eingetreten war, drei Schritte zurück.

»Han der Isländer!« rief er aus.

»Erschreckt nicht, er kommt zu Eurer Hülfe. Seht in ihm einen Freund und Waffenbruder . . .«

»Han der Isländer hier!«

»Allerdings! Fürchtet Ihr ihn denn?«

»Han der Isländer in diesem Bergwerk!«

»Jetzt sehe ich, daß die Furcht vor Han dem Isländer Euch so lange aufgehalten hat.«

»Nicht die Furcht vor Han dem Isländer, sondern Han der Isländer selbst hat mich aufgehalten, das schwöre ich Euch.«

Ein Murmeln der Verwunderung erhob sich. Hacket schien verlegen.

»Wie! was sagt Ihr da?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Ich sage, Herr Hacket, daß ich ohne Euern verfluchten Han den Isländer vor dem ersten Schrei der Eule hier gewesen wäre.«

»Wirklich, was hat er Euch denn gethan?«

»Fragt mich nicht, und möge mein Bart in einem Tage weiß werden, wie ein Hermelinfell, wenn ich je in meinem Leben wieder einen weißen Bären jage.«

»Wart Ihr in Gefahr, von einem Bären gefressen zu werden?«

Kennybol zuckte verächtlich die Achseln: »Ein Bär! Kennybol von einem Bären gefressen! Für wen haltet Ihr mich, Herr Hacket?«

»Verzeiht!« erwiederte Hacket lächelnd.

»Wenn Ihr wüßtet, was mir begegnet ist, so würdet Ihr nicht mehr zu mir sagen, Han der Isländer sei hier.«

»Mein lieber Kennybol,« sagte Hacket, »erzählt mir, was Euch aufgehalten hat. Alles kann in diesem Augenblicke von hoher Wichtigkeit für uns sein.«

»Das ist richtig,« erwiederte Kennybol nach einigem Nachdenken.

Hierauf erzählte er, wie er am Morgen mit sechs Gefährten einen weißen Bären bis in die Gegend der Grotte von Walderhog gejagt habe, ohne in der Hitze der Jagdlust zu bemerken, daß sie diesem furchtbaren Ort so nahe seien. Das klägliche Geschrei des Bären habe einen kleinen Mann, ein Ungeheuer, einen Dämon zu Hülfe gerufen, der mit einer steinernen Axt auf sie losgestürzt sei. Das plötzliche Erscheinen dieses Dämons, der Niemand anders als Han der Isländer sein konnte, habe sie mit Schrecken erfüllt. Seine sechs Gefährten seien Opfer der beiden Unthiere geworden, und er danke sein Leben nur schneller Flucht, seiner Behendigkeit und der Ermüdung Hans des Isländers.

»Ihr seht jetzt, Herr Hacket,« schloß Kennybol seine Erzählung, »daß es nicht meine Schuld ist, wenn ich spät komme, und daß der isländische Dämon, den ich diesen Morgen mit seinem Bären im Gehölze von Walderhog bei den Leichnamen meiner sechs Kameraden zurückgelassen habe, jetzt nicht als unser Freund in dieser Mine von Apsyl-Corh zugegen sein kann. Ich kenne jetzt diesen eingefleischten Teufel, ich habe ihn mit Augen gesehen.«

»Mein wackerer Kennybol,« erwiederte Hacket ernst, »wenn Ihr von Han dem Isländer oder der Hölle redet, so haltet nichts für unmöglich. Ich wußte Alles, was Ihr mir da erzählt habt, schon vorher.«

»Wie!« rief der alte Schütze der Berge von Kole erstaunt aus.

»Ja, ich wußte Alles, nur das nicht, daß Ihr der Held dieses traurigen Abenteuers gewesen seid. Han der Isländer hat es mir auf dem Wege hieher selbst erzählt.«

»Wirklich!« sagte Kennybol mit einem Blicke auf Hacket, in welchem sich Furcht und Respekt zugleich aussprachen.

Hacket fuhr mit gleicher Zuversicht fort: »Jetzt aber könnt Ihr ruhig sein; ich will Euch selbst zu diesem furchtbaren Han dem Isländer führen.«

Kennybol stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

»Seid doch ruhig; er ist ja jetzt Euer Anführer und Waffenbruder. Hütet Euch jedoch, ihm das in Erinnerung zu bringen, was diesen Morgen vorgefallen ist. Ihr versteht mich?«

Nicht ohne inneres Widerstreben willigte Kennybol ein, vor das Angesicht des gefürchteten Dämons zu treten. Sie näherten sich der Gruppe, bei welcher sich Ordener, Jonas und Norbith befanden.

»Mein guter Jonas, mein lieber Norbith,« sagte Kennybol, »Gott mit Euch!«

»Dessen bedürfen wir,« erwiederte Jonas.

Jetzt fiel Kennybols Blick auf Ordener.

»Ah!« sagte er, »willkommen, junger Mann! Es scheint, daß Eure Kühnheit guten Erfolg hatte?«

»Ihr kennt also diesen Fremden, Kennybol?« fiel Norbith ein.

»Ob ich ihn kenne? Ich liebe und achte ihn. Er ist, gleich uns, eifrig für die gute Sache, die wir verfechten.«

Ehe Ordener ein Wort vorbringen konnte, näherte sich Hacket mit seinem Riesen, aus dessen Nähe Alle bestürzt entflohen, und sagte: »Hier, mein wackerer Kennybol, ist Euer Anführer, der berühmte Han der Isländer.«

Kennybol warf einen Blick auf ihn, in welchem mehr Staunen als Furcht lag, und neigte sich zu Hackets Ohr: »Der Han der Isländer, den ich diesen Morgen bei Walderhog zurückgelassen habe, war ein kleiner Mann . . .«

Hacket erwiederte leise: »Ihr vergeßt, daß er ein Dämon ist.«

»Das ist wahr,« sagte der leichtgläubige Schütze, »er wird eine andere Gestalt angenommen haben.«


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