Victor Hugo
Han der Isländer. Band 2
Victor Hugo

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XL.

Die zitternde Ethel, welche die Wachen beim Ausgang aus dem Kerker des Löwen von Schleswig von ihrem Vater getrennt hatten, wurde durch finstere, ihr bis dahin unbekannte Gänge in eine Art dunkler Zelle geführt, die man bei ihrem Eintritt hinter ihr schloß. Gegenüber der Zellenthüre war eine vergitterte Oeffnung, durch welche der Schein von Fackeln und Kerzen hereinfiel; hinter dieser Oeffnung eine Bank, auf der eine schwarz gekleidete verschleierte Frau saß, die ihr ein Zeichen gab, sich neben sie zu setzen. Sie gehorchte in schweigender Verwirrung.

Ihre Augen richteten sich auf den Raum jenseits des Gitters. Ein düsteres Schauspiel stellte sich ihr dar.

Am äußersten Ende eines schwarz behängten Saals, der durch kupferne Lampen, welche an der Decke hingen, schwach beleuchtet war, erhob sich in Gestalt eines Hufeisens ein schwarz ausgeschlagenes Gerüste, auf welchem sieben schwarz gekleidete Richter saßen, deren einer, im Mittelpunkt auf einem erhöhten Sitze, glänzende Sterne und diamantene Ketten auf seiner Brust trug. Der Richter, der ihm zur Rechten saß, zeichnete sich von den andern durch einen weißen Leibgürtel und einen Hermelinmantel, die Amtskleidung des Oberrichters der Provinz aus. Rechts vom Tribunal war eine Erhöhung mit einem Thronhimmel, auf welcher ein Greis in geistlichem Ornat saß; links ein mit Papieren belegter Tisch, hinter welchem ein kleiner Mann stand, der eine ungeheure Perrücke auf dem Kopfe hatte und in einen langen, weiten schwarzen Mantel ganz eingewickelt war.

Den Richtern gegenüber war eine hölzerne Bank, von Hellebardieren umgeben, welche Fackeln in der Hand trugen, deren von einem Walde von Piken und Flinten wiederstrahlender Schein seinen ungewissen Strahl auf die wogenden Häupter einer Menge von Zuschauern warf, die sich gegen das eiserne Gitter drängten, das sie von dem Tribunal absonderte.

Ethel sah diesem Schauspiele zu, als ob sie wachend einem Traum angewohnt hätte. Sie sah den Präsidenten sich erheben und im Namen des Königs verkünden, daß jetzt das Gericht eröffnet sei.

Nun las der kleine schwarze Mann mit flüchtiger und fast unvernehmbarer Stimme einen langen Bericht ab, in welchem der Name ihres Vaters in Verbindung mit den Worten »Verschwörung, Hochverrath, Aufstand der Bergleute« häufig vorkam. Sie erinnerte sich nun mit Schrecken an das, was ihr die Unbekannte von einer Anklage gesagt hatte, die ihrem Vater drohe, und sie schauderte, als sie den schwarzen Mann seinen Bericht mit dem Worte Tod, das er stark betonte, schließen hörte.

Erschüttert wandte sie sich zu der verschleierten Frau, vor welcher sie, sie wußte selbst nicht warum, ein Gefühl der Furcht hegte, und fragte schüchtern: »Wo sind wir? Was heißt Alles dies?«

Eine Geberde der Unbekannten verwies sie zur Stille und Aufmerksamkeit. Sie wandte ihre Blicke wieder dem Tribunal zu.

Der ehrwürdige Greis im geistlichen Ornat hatte sich erhoben und sprach mit lauter und deutlicher Stimme: »Im Namen des allmächtigen und allbarmherzigen Gottes, ich Pamphilius Eleutherus, Bischof der königlichen Stadt Drontheim und der königlichen Provinz Drontheimhus, grüße den ehrwürdigen Gerichtshof, der im Namen des Königs, welcher nächst Gott unser Herr und Gebieter ist, richtet.

Da die vor dieses Tribunal geführten Gefangenen Menschen und Christen sind, und da sie keine Vertheidiger haben, so erkläre ich hiemit den ehrwürdigen Richtern, daß ich ihnen in der bedrängten Lage, worein sie der Himmel versetzt hat, mit meiner schwachen Kraft beizustehen gedenke.

So bitte ich nun Gott, daß er meine Schwäche mit seiner Kraft stärken, und meine Blindheit mit seinem Licht erleuchten wolle!«

Mit diesen Worten stieg der Bischof von seinem erhabenen Sitze und setzte sich auf die für die Angeklagten bestimmte hölzerne Bank. Ein Murmeln des Beifalls erhob sich unter den Zuschauern.

Der Präsident stand auf und sagte mit kalter und trockener Stimme: »Hellebardiere, gebietet Stille!«

»Hochwürdiger Herr Bischof,« fuhr er fort, »der Gerichtshof dankt Ihnen im Namen der Gefangenen. Einwohner von Drontheimhus, habt Acht auf die hohe Rechtspflege des Königs, von diesem Gericht findet keine Berufung Statt! Kerkermeister, führt die Gefangenen herein!«

Unter den Zuschauern entstand eine Stille schauerlicher Erwartung; sie theilten sich in zwei Reihen. Bald ertönten Schritte vieler Menschen, Piken und Gewehre blitzten, und sechs Gefangene in Ketten und von Wache umgeben, traten mit entblößten Häuptern ein. Ethel sah nur den ersten dieser sechs Gefangenen: es war ein Greis mit weißen Haaren, ihr Vater.

Sie lehnte sich halb ohnmächtig auf das steinerne Geländer, ihr Blick umnebelte sich und sie seufzte mit erloschener Stimme: »O, Herr mein Gott, stehe mir bei!« Die verschleierte Frau neigte sich gegen sie und hielt ihr ein Riechfläschchen vor, das sie aus ihrer Ohnmacht wieder erweckte.

Der Präsident erhob sich und sprach mit langsam feierlicher Stimme: »Gefangene, man hat Euch vor diesen Gerichtshof geführt, damit er untersuche und entscheide, ob Ihr des Hochverraths, der Verschwörung und des bewaffneten Aufstands gegen unsern König und Herrn schuldig seid oder nicht. Geht nun in Euch und überlegt in Euerm Gewissen, denn eine Anklage der Majestätsbeleidigung ersten Grads lastet auf Euern Häuptern.«

In diesem Augenblicke fiel ein Lichtstrahl auf das Gesicht eines der sechs Gefangenen, eines jungen Mannes, der den Kopf auf die Brust geneigt hatte, als ob er seine Gesichtszüge unter seinen langen, herabhängenden Locken verbergen wollte. Ethel zitterte an allen Gliedern, sie glaubte zu erkennen, daß . . . doch nein, es war bittere Täuschung; der Saal war nur schwach beleuchtet, und die Menschen bewegten sich darin gleich Schatten; kaum konnte man das große Christusbild von schwarzem Ebenholz, das über dem Lehnstuhl des Präsidenten hing, erblicken.

Aber dieser junge Mann trug einen Mantel, der von Weitem grün schien, seine Haare, die in Unordnung herabhingen, waren kastanienbraun, und der Strahl des Lichts, der sein Gesicht gezeigt hatte . . . Doch nein, er war es nicht, er konnte es nicht sein! Es war eine furchtbare Täuschung.

Die Gefangenen saßen auf der Bank, auf welche der Bischof herabgestiegen war. Schuhmacher saß an einem Ende derselben, der unbekannte junge Gefangene am andern. Der Bischof saß auf dem äußersten Ende der Bank.

Der Präsident wandte sich an Schuhmacher und fragte mit strengem Tone: »Wer seid Ihr und wie heißt Ihr?«

Der Gefangene erhob sich und blickte den Präsidenten starr an: »Ehemals nannte man mich Graf von Greiffenfeld und Tongsberg, Prinz von Wollin, Fürsten des heiligen römischen Reichs, Ritter des Elephantenordens, Ritter des Danebrogordens, Ritter des goldenen Vließes und des Hosenbandordens, ersten Minister, Generalinspektor des Kirchen- und Schulwesens, Großkanzler von Dänemark und . . .«

Der Präsident unterbrach ihn: »Angeklagter, der Gerichtshof will nicht wissen, wie man Euch ehemals genannt, noch wer Ihr sonst gewesen seid, sondern wie man Euch jetzt nennt, und wer Ihr jetzt seid.«

»Jetzt,« erwiederte der Gefangene, »jetzt heiße ich Johann Schuhmacher, neunundsechzig Jahre alt, und bin nichts mehr, als Euer alter Wohlthäter, Kanzler von Ahlfeldt.«

Der Präsident schien verlegen.

»Ich habe Euch erkannt, Herr Graf,« fügte der Gefangene hinzu, »und da Ihr mich nicht erkannt habt oder nicht erkennen wolltet, so bin ich so frei gewesen, Euer Gnaden in Erinnerung zu bringen, daß wir alte Bekannte sind.«

»Schuhmacher,« sagte der Präsident mit einem Tone, in welchem der unterdrückte Zorn unverkennbar war, »spart dem Gerichtshof seine kostbare Zeit.«

Der alte Gefangene unterbrach ihn abermals: »Wir haben die Rolle gewechselt, edler Kanzler. Ehemals nannte ich Euch bloß Ahlfeldt, und Ihr nanntet mich Herr Graf.«

»Angeklagter,« erwiederte der Präsident, »Ihr schadet Eurer Sache, wenn Ihr das schimpfliche Urtheil in Erinnerung bringt, das schon über Euch ergangen ist.«

»Wenn dieses Urtheil schimpflich ist, Graf Ahlfeldt, so beschimpft es wenigstens nicht mich.«

Der Gefangene war bei diesen Worten, die er mit starker Stimme sprach, halb aufgestanden. Der Präsident streckte die Hand gegen ihn aus.

»Setzt Euch! Schmäht nicht vor einem Tribunal auf die Richter, die Euch verurtheilt haben, und auf den König, der Euch diese Richter gab. Denkt daran zurück, daß der König Euch das Leben zu schenken geruhte, und beschränkt Euch hier auf Eure Vertheidigung.«

Der alte Gefangene antwortete bloß mit einem Achselzucken.

»Habt Ihr,« fragte der Präsident, »in Betreff des Kapitalverbrechens, dessen Ihr angeklagt seid, dem Gerichtshof einige Geständnisse zu machen?«

Der Gefangene gab keine Antwort. Der Präsident wiederholte die Frage.

»Sprecht Ihr mit mir?« erwiederte der Exkanzler. »Ich glaubte, edler Graf von Ahlfeldt, Ihr sprecht mit Euch selbst. Welches Verbrechen meint Ihr denn? Habe ich je einem Freunde einen Judaskuß gegeben? Habe ich je einen Wohlthäter eingekerkert und schimpflich verurtheilt? Habe ich dem Alles genommen, dem ich Alles dankte? Ich weiß in der That nicht, Herr Kanzler von heute, warum man mich hieher gebracht hat. Ohne Zweifel um zu sehen, mit welcher Geschicklichkeit Sie unschuldige Köpfe fallen machen. Allerdings werden Sie mich mit eben so leichter Mühe ins Verderben zu stürzen wissen, wie dieses Königreich, und ein Komma oder Punktum wird hinreichend sein, mich des Todes schuldig zu finden, gleichwie es für Sie nur eines Buchstabens bedurfte, um einen Krieg mit Schweden zu provociren.«Es waren ernstliche Zwistigkeiten zwischen Dänemark und Schweden ausgebrochen, weil der Graf von Ahlfeldt in einer Unterhandlung verlangt hatte, durch einen Vertrag zwischen den beiden Staaten dem König von Dänemark den Titel rex Gothorum beizulegen, welches dem dänischen Monarchen die Souveränetät über Gothland, eine schwedische Provinz, zu überweisen schien; während ihm die Schweden bloß die Eigenschaft eines rex Gotorum bewilligen wollten, welche unbestimmte Benennung dem alten Titel der dänischen Monarchie »König der Goten« gleichkam. Auf dieses h, welches die Ursache einer langen Unterhandlung war und beinahe zu einem Kriege geführt hätte, spielte hier Schuhmacher an.

Kaum hatte der Exkanzler diese bittere Anspielung vollendet, so erhob sich der kleine schwarze Mann an der Nebentafel.

»Herr Präsident,« sagte er mit einer tiefen Verbeugung, »meine Herren Richter, ich trage darauf an, dem Johann Schuhmacher das Wort zu entziehen, wenn er fortfährt, auf solche Weise Se. Gnaden den Herrn Großkanzler und dieses ehrwürdige Gericht zu schmähen.«

Der Bischof erhob mit ruhiger Würde seine Stimme: »Herr geheimer Sekretär, man kann einem Angeklagten das Wort nicht entziehen . . .«

»Sie haben ganz Recht, hochwürdiger Herr Bischof,« fiel der Präsident ein. »Es ist unsere Absicht, der Vertheidigung alle mögliche Freiheit zu lassen. Ich fordere den Angeklagten bloß auf, seine Sprache zu mäßigen, und das liegt in seinem eigenen Interesse.«

Schuhmacher schüttelte den Kopf und sagte kalt: »Es scheint der Graf Ahlfeldt sei diesmal seiner Sache gewisser, als im Jahre 1677.«

»Schweigt,« erwiederte der Präsident, wandte sich sogleich an den Gefangenen, der neben Schuhmacher saß, und fragte ihn um seinen Namen.

Dieser Gefangene war ein Mann von riesenmäßiger Gestalt, dessen Stirne verbunden war. Er erhob sich und sagte: »Ich bin Han von Klipstadur in Island.«

Eine Bewegung des Schauders lief durch das Auditorium, und Schuhmacher, dessen Kopf bereits nachdenkend auf seine Brust gefallen war, erhob ihn wieder und warf einen schnellen Blick auf seinen furchtbaren Nachbar, von dem sich alle andern Mitangeklagten entfernt hielten.

»Han von Island,« fuhr der Präsident zu fragen fort, »was habt Ihr dem Gerichtshofe mitzuteilen?«

»Ich war der Anführer des Aufstands.«

»Habt Ihr aus eigenem Antrieb oder aus fremdes Antreiben den Befehl über die Rebellen übernommen?«

»Nicht aus eigenem Antrieb.«

»Wer hat Euch zu diesem Verbrechen verleitet?«

»Ein Mensch, der sich Hacket nannte.«

»Wer war dieser Hacket.«

»Ein Agent von Schuhmacher, den er auch Graf von Greiffenfeld nannte.«

Der Präsident wandte sich an Schuhmacher: »Kennt Ihr diesen Hacket?«

»Ihr seid mir zuvorgekommen, Graf Ahlfeldt, ich wollte die nämliche Frage an Euch richten.«

»Johann Schuhmacher, Ihr seid übel berathen mit Eurem Hasse. Der Gerichtshof wird Euer Vertheidigungssystem zu würdigen wissen.«

Der Bischof nahm das Wort: »Herr geheimer Sekretär, befindet sich dieser Hacket unter meinen Klienten?«

»Nein, hochwürdiger Herr!«

»Weiß man, was aus ihm geworden ist?«

»Er hat sich aus dem Staube gemacht, ehe man ihn festnehmen konnte.«

»Läßt man ihn verfolgen? Hat man seine Gestaltsbezeichnung?«

Ehe der geheime Sekretär antworten konnte, erhob sich der junge Bergmann und sagte mit lauter kräftiger Stimme: »Sein Signalement ist leicht zu geben. Dieser elende Hacket, dieser Agent Schuhmachers, ist ein Mann von kleiner Gestalt, von offenem Gesicht, aber offen wie der Schlund der Hölle . . . Seine Stimme, hochwürdiger Herr Bischof, hat viele Aehnlichkeit mit der Stimme des Herrn, der an dieser Tafel schreibt und den Euer Hochwürden geheimer Sekretär nennen. Und wenn dieser Saal weniger düster wäre, und wenn weniger Haare das Gesicht des geheimen Sekretärs bedeckten, so möchte ich fast behaupten, daß in seinen Zügen einige Aehnlichkeit mit denen des Verräthers Hacket liege.«

»Unser Bruder redet die Wahrheit,« riefen die beiden Nachbarn des jungen Bergmanns aus.

»Wirklich!« murmelte Schuhmacher mit einem Ausdrucke des Triumphs.

Der Sekretär machte eine unwillkürliche Bewegung, sei es aus Furcht, sei es aus Unwillen, daß man ihn mit diesem Hacket verglich. Der Präsident, der selbst verlegen schien, beeilte sich, seine Stimme zu erheben.

»Gefangene, vergeßt nicht, daß Ihr nur dann reden dürft, wenn Euch der Gerichtshof fragt, und vor allen Dingen beleidigt kein Mitglied des Tribunals durch unwürdige Vergleichungen!«

»Inzwischen, Herr Präsident,« sagte der Bischof, »ist hier nur von einem Signalement die Rede. Wenn der flüchtige Hacket einige Aehnlichkeit mit dem geheimen Sekretär hat, so könnte das von Nutzen sein . . .«

Der Präsident unterbrach ihn: »Han von Island, Ihr, der Ihr in so genauer Verbindung mit Hacket gestanden, sagt uns doch, zur Befriedigung des hochwürdigen Herrn Bischofs, ob dieser Mensch wirklich unserem geheimen Sekretär gleicht?«

»Ganz und gar nicht," antwortete der Riese ohne Zögern.

»Da sehen Sie also selbst, Herr Bischof!«

Der Bischof gab durch ein Kopfneigen zu erkennen, daß er befriedigt sei. Der Präsident wendete sich zu einem andern Angeklagten mit der üblichen Frage: »Wie heißt Ihr?«

»Wilfried Kennybol aus den Bergen von Kole.«

»Wart Ihr unter den Aufrührern?«

»Ja, gnädiger Herr! Die Wahrheit geht über das Leben. Ich bin in den verdammten Schluchten des schwarzen Pfeilers gefangen worden. Ich war der Anführer der Gebirgsbewohner.«

»Was hat Euch zum Verbrechen des Aufruhrs angetrieben?«

»Unsere Brüder, die Bergleute, beklagten sich über die königliche Vormundschaft und da hatten sie ganz Recht, mit Euer Gnaden Erlaubniß. Wenn Einer nur eine elende Lehmhütte und zwei schlechte Fuchsbälge hat, so ist es ihm doch lieb, daß er darüber Herr und Meister ist. Die Regierung hat auf ihre Bitten nicht geachtet; darum, gnädiger Herr, haben sie sich empört und um unsern Beistand gebeten. So etwas kann ein Bruder dem andern nicht abschlagen. So ist es gegangen.«

»Hat Niemand Euern Aufstand angereizt, ermuntert und geleitet?«

»Ein Herr Hacket sprach uns immer viel von einem Grafen vor, der zu Munckholm gefangen sitze, und den wir befreien sollten. Wir haben es ihm versprochen, denn es machte uns nichts aus, ob einer mehr frei sei.«

»Hieß dieser Graf nicht Schuhmacher oder Greiffenfeld?«

»Richtig, so hieß er.«

»Habt Ihr ihn nie gesehen?«

»Nein, gnädiger Herr! Wenn es aber der alte Mann ist, der Ihnen eben so viele Namen gegeben hat, so muß ich gestehen . . .«

»Was?« fragte hastig der Präsident.

». . . Daß er einen schönen weißen Bart hat, fast eben so schön, als der des Schwiegervaters meiner Schwester Maase, im Flecken Surb, welcher 120 Jahre alt geworden ist.«

Der Präsident schien durch diese naive Antwort des Gebirgsbewohners nicht sonderlich befriedigt; er befahl den Gerichtsdienern einige feuerfarbene Fahnen, die vor dem Tribunal niedergelegt waren, aufzurollen.

»Wilfried Kennybol,« sagte er, »erkennt Ihr diese Fahnen?«

»Ja, Ihr Gnaden, Hacket hat sie uns im Namen des Grafen Schuhmacher zugestellt. Er hat auch Gewehre unter die Bergleute austheilen lassen, denn wir Gebirgsbewohner, die wir von der Büchse und Waidtasche leben, brauchen keine. Und ich, wie Sie mich hier sehen, gebunden wie eine alte Henne, die man braten will, ich habe mehr als einmal aus der Tiefe unserer Thäler alte Adler herabgeschossen, die in der Höhe ihres Flugs nicht größer erschienen, als eine Lerche oder Wachtel.«

»Die Herren Richter hören,« sagte der geheime Sekretär, »daß der angeklagte Schuhmacher durch Hacket Waffen und Fahnen unter die Rebellen austheilen ließ.«

»Kennybol,« fuhr der Präsident fort, »habt Ihr sonst nichts zu sagen?«

»Nichts, als daß ich den Tod nicht verdiene. Ich habe bloß, als redlicher Bruder, den Bergleuten Beistand geleistet, und ich kann versichern, daß die Kugel meiner Büchse, so ein alter Schütze ich auch bin, noch nie einen Damhirsch des Königs getödtet hat.«

Der Präsident begann jetzt das Verhör der beiden Anführer der Bergleute. Der älteste derselben, Namens Jonas, wiederholte mit andern Worten, was Kennybol bereits gesagt hatte. Der jüngere, Norbith, gestand furchtlos seinen Antheil an der Empörung, über Hacket und Schuhmacher aber wollte er nichts aussagen. Er habe, sagte er, den Eid der Verschwiegenheit abgelegt. Alle Ermahnungen und Drohungen des Präsidenten brachten ihn nicht von diesem Vorsätze ab. Im Uebrigen, fügte er hinzu, habe er sich nicht für Schuhmacher empört, sondern für seine arme Mutter, die Hunger und Kälte leide.

Der geheime Sekretär resumirte die Aussagen der Angeklagten und bemühte sich, daraus Folgerungen und Beweise für die Schuldbarkeit des Exkanzlers zu ziehen. »Es ist jetzt,« fuhr er fort, »nur noch ein Angeklagter zu verhören, und wir haben gegründete Ursache, denselben für einen geheimen Agenten der Befehlshaberschaft zu halten, welche für die Ruhe der Provinz Drontheimhus so schlecht gesorgt hat. Diese Befehlshaberschaft hat, wo nicht durch strafbares Einverständniß, mindestens doch durch ihre unselige Nachlässigkeit den Ausbruch des Aufstands begünstigt, der alle diese Unglücklichen ins Verderben stürzen und diesen Schuhmacher abermals auf das Schaffot bringen wird, von dem ihn schon einmal die Gnade des Königs gerettet hat.«

Ethel schauderte bei diesen Worten, und ein Strom von Thränen entfloß ihren Augen. Ihr Vater erhob sich und sagte mit Ruhe: »Kanzler Ahlfeldt, Alles das ist trefflich eingefädelt. Habt Ihr doch die Vorsicht gehabt, den Scharfrichter schon zu bestellen?«

Inzwischen hatte sich der sechste Angeklagte erhoben. Als der Präsident die übliche Frage an ihn richtete, strich er die Haare aus dem Gesicht und antwortete mit lauter, fester Stimme: »Ich heiße Ordener Guldenlew, Baron von Thorwick, Ritter des Danebrogordens.«

Ein Schrei des Staunens entwischte dem Sekretär: »Der Sohn des Vicekönigs!«

»Der Sohn des Vicekönigs!« wiederholten alle Stimmen.

Der Präsident fuhr auf seinem Lehnstuhl zusammen, die bis dahin unbeweglichen Richter neigten sich tumultuarisch zusammen. Eben so große Gährung herrschte unter den Zuschauern.

Nachdem die Stille allmählig wieder hergestellt war, schickte sich der Präsident an, das Verhör zu beginnen.

»Herr Baron,« sagte er mit zitternder Stimme . . .

»Ich heiße hier nicht ›Herr Baron,‹« unterbrach ihn Ordener, »sondern Ordener Guldenlew, wie der ehemalige Graf von Greiffenfeld bloß Johann Schuhmacher.«

Der Präsident blieb einige Augenblicke wie versteinert.

»Nun denn,« fuhr er dann fort, »Ordener Guldenlew, ohne Zweifel hat Sie ein bloßer Zufall vor diesen Gerichtshof geführt. Die Rebellen haben Sie auf der Reise aufgefangen und gezwungen, ihnen zu folgen, und so kommt es ohne allen Zweifel, daß man Sie in ihren Reihen gefunden hat.«

Der Sekretär erhob sich: »Verehrteste Herren Richter: schon der Name des Sohns des Vicekönigs allein ist für ihn eine hinreichende Vertheidigung. Der Baron Ordener Guldenlew kann kein Rebelle sein. Unser erlauchter Präsident hat seine Anwesenheit unter den Aufrührern genügend erklärt. Das einzige Unrecht, das dieser edle Gefangene begangen hat, besteht darin, daß er seinen Namen nicht bälder sagte. Wir geben jede Anklage gegen ihn auf, tragen auf seine augenblickliche Freilassung an und bedauern nur, daß er einen Augenblick auf der Bank saß, die der Staatsverbrecher Schuhmacher und seine Mitschuldigen besudeln.«

»Was soll das heißen?« fragte Ordener.

»Der geheime Sekretär,« erwiederte der Präsident, »enthält sich aller gerichtlichen Anklage gegen Ihre Person.«

»Daran thut er Unrecht,« sagte Ordener mit lauter volltönender Stimme, »ich bin es, der hier allein angeklagt, gerichtet und verurtheilt werden muß. Ich bin der einzige Schuldige.«

»Der einzige Schuldige!« rief der Präsident aus.

»Der einzige Schuldige!« wiederholte der geheime Sekretär.

Ein neuer Ausbruch des Staunens erfolgte unter den Zuschauern. Die unglückliche Ethel schauderte.

»Hellebardiere, gebietet Stille!« sagte der Präsident, der mühsam seine Geisteskräfte zu sammeln suchte.

»Ordener Guldenlew,« fuhr er fort, »erklären Sie sich näher.«

Der junge Mann blieb einige Augenblicke sinnend, stieß einen Seufzer aus und antwortete dann mit der Ruhe der Ergebung: »Ich weiß, welches Ende meiner wartet, aber ich weiß auch, was die Pflicht mir gebietet. Ja, ihr Herren Richter, ich bin schuldig, und allein schuldig. Schuhmacher ist unschuldig, die Andern sind bloß verführt. Der Urheber des Aufstandes bin ich.«

»Sie!« riefen der Präsident und der geheime Sekretär zumal in seltsamer Ueberraschung.

»Ich! Ich habe die Bergleute in Schuhmachers Namen zur Empörung gereizt, ich habe in seinem Namen Geld und Waffen unter sie vertheilt. Hacket war mein Agent. Ich trieb sie zum Aufstand an, ich bin in ihren Reihen gefangen worden. Ich allein habe Alles gethan. Mein ist das Verbrechen, Schuhmacher ist unschuldig. Jetzt, ihr Herren Richter, fällen Sie das Urtheil.«

Ethel war der Ohnmacht nahe. Eine Pause allgemeinen Erstaunens trat ein. Der Präsident sammelte sich mühsam.

»Wenn Sie wirklich der einzige Urheber dieses Aufstandes sind,« fragte er endlich, »zu welchem Zwecke haben Sie ihn angestiftet?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Hatten Sie nicht,« fuhr der Präsident nach einer Pause fort, »einen Liebeshandel mit Schuhmachers Tochter?«

Ordener trat einen Schritt gegen das Tribunal vor und sagte mit würdiger Haltung: »Kanzler von Ahlfeldt, begnügen Sie sich mit meinem Leben, das ich hingebe, und achten Sie eine edle, unschuldige Jungfrau.«

»Ordener Guldenlew, achten Sie selbst den Gerichtshof des Königs. Ich frage Sie nochmals, zu welchem Zwecke Sie diesen Aufstand angestiftet haben?«

»Und ich wiederhole Ihnen nochmals, daß ich das nicht sagen kann.«

»Geschah es nicht, um Schuhmacher zu befreien?«

Ordener schwieg.

»Es ist erwiesen, daß Sie Einverständnisse mit Schuhmacher hatten, und das Geständniß Ihrer Strafbarkeit klagt ihn selbst mehr an, als es ihn rechtfertigt. Sie sind oft nach Munckholm gekommen, und Ihre Besuche müssen etwas Anderem, als gewöhnlicher Neugierde, zugeschrieben werden. Beweis dafür ist diese diamantene Schnalle.«

Der Präsident nahm eine Diamantschnalle vom Tisch und hielt sie Ordener vor: »Erkennen Sie diese Schnalle als die Ihrige?«

»Ja! Durch welchen Zufall? . . .«

»Einer der Aufrührer hat sie, ehe er den Geist aufgab, unserem geheimen Sekretär zugestellt, mit der Erklärung, daß er sie von Ihnen als Bezahlung der Ueberfahrt aus dem Hafen von Drontheim nach Munckholm erhalten habe. Ich frage nun die Herren Richter, ob eine solche Belohnung für einen so geringen Dienst nicht beweise, welchen Werth der Angeklagte darauf legte, in Schuhmachers Gefängniß zu gelangen?«

»Ich verhehle nicht, daß ich Schuhmacher zu sehen wünschte; aber diese Schnalle beweist nichts. Man darf nicht mit Diamanten und andern Kostbarkeiten in die Festung: der Schiffmann hatte sich bei der Ueberfahrt über seine Dürftigkeit beklagt; ich warf ihm diese Schnalle zu, die ich nicht bei mir behalten durfte.«

»Verzeihung, gnädiger Herr,« unterbrach ihn der geheime Sekretär, »das Reglement nimmt den Sohn des Vicekönigs von dieser Maßregel aus. Sie konnten also . . .«

»Ich wollte meinen Namen nicht nennen.«

»Warum?« fragte der Präsident.

»Das kann ich nicht sagen.«

»Ihr Einverständniß mit Schuhmacher und seiner Tochter beweist, daß der Zweck Ihres Complots war, sie zu befreien.«

Schuhmacher, der bis dahin kein anderes Zeichen von Aufmerksamkeit von sich gegeben hatte, als ein verächtliches Achselzucken, erhob sich: »Mich befreien! Der Zweck dieses höllischen Complots war, mich in Verdacht zu bringen und ins Verderben zu stürzen, wie er es noch ist. Glaubt Ihr denn, daß Ordener Guldenlew seinen Antheil an dem Verbrechen gestanden hätte, wenn er nicht unter den Aufrührern gefangen genommen worden wäre? Oh! Ich weiß wohl, daß er seines Vaters Haß gegen mich geerbt hat. Und was das Einverständniß betrifft, das man bei ihm mit mir und meiner Tochter voraussetzte, so mag er wissen, dieser schändliche Guldenlew, daß auch meine Tochter meinen Haß gegen ihn, gegen das ganze Geschlecht der Guldenlew und Ahlfeldt geerbt hat.«

»Der Gerichtshof wird sein Urtheil fällen,« sagte der Präsident.

Ordener erhob das Haupt und sprach: »Verehrte Richter, vergessen Sie nicht, daß Ordener Guldenlew allein schuldig, Schuhmacher unschuldig ist. Die andern Unglücklichen sind durch meinen Agenten Hacket irregeführt worden. Ich habe alles Uebrige gethan.«

Kennybol unterbrach ihn: »Der gnädige Herr sagt die Wahrheit, denn er hat Han den Isländer in der Grotte von Walderhog aufgesucht und uns zugeführt. Ja, wir sind durch diesen verfluchten Hacket verleitet worden, und wir verdienen den Tod nicht.«

»Herr geheimer Sekretär,« sagte der Präsident, »die Verhandlungen sind geschlossen. Wie lautet Ihr Antrag?«

Der Sekretär erhob sich: »Herr Präsident, verehrteste Herren Richter! Die Anklage bleibt in voller Kraft. Ordener Guldenlew, der eine Schande seines glorwürdigen Namens ist, hat seine Strafbarkeit bewiesen, ohne dadurch Schuhmachers und der übrigen Angeklagten Unschuld darzuthun. Ich trage daher darauf an, sämmtliche sechs Angeklagte des Hochverraths und Majestätsverbrechens ersten Grads schuldig zu erkennen.«

Der Bischof erhob sich: »Gelehrte Herren Richter! Dem Vertheidiger der Angeklagten gebührt das letzte Wort. Ich wundere mich über den strengen Antrag des geheimen Sekretärs. Das Verbrechen meines Clienten Schuhmacher ist durch nichts erwiesen. Man kann keine unmittelbare Theilnahme an dem Aufstand gegen ihn aufstellen, und da mein anderer Client, Ordener Guldenlew, erklärt, daß er Schuhmachers Namen mißbraucht habe und der einzige Urheber dieser verdammlichen Empörung sei, so schwindet aller Verdacht gegen Schuhmacher, der deßhalb gänzlich freizusprechen ist. Die andern Angeklagten, die bloß verführt worden sind, empfehle ich Ihrer christlichen Milde, und selbst den jungen Ordener Guldenlew, der wenigstens das in den Augen des Himmels große Verdienst hat, sein Verbrechen bekannt zu haben. Legen Sie seine Jugend und Unerfahrenheit in die Wagschale Ihres Urtheils und entziehen Sie ihm nicht ein Leben, das ihm der Himmel vor noch nicht langer Zeit geschenkt hat.«

Der ehrwürdige Bischof setzte sich, und die Richter entfernten sich in ihr Berathungszimmer. Die Berathung dauerte lange, der Morgen brach bereits an, als sie in den Sitzungssaal zurückkehrten.

Der Oberrichter der Provinz erhob sich und entfaltete ein Papier:

»Seine Gnaden, unser erlauchter Präsident, ermüdet von der Länge der Sitzung, hat uns, Oberrichter der Provinz Drontheimhus, gewöhnlichen Präsidenten dieses ehrwürdigen Gerichtshofs, ermächtigt, das im Namen des Königs gefällte Urtheil statt seiner abzulesen. Wir werden nun diese ebenso ehrenvolle als traurige Pflicht erfüllen, und ermahnen die Zuhörer, den Spruch der unfehlbaren Rechtspflege des Königs in ehrerbietiger Stille anzuhören.«

Die Stimme des Oberrichters nahm jetzt einen ernsten und feierlichen Ton an, der die Herzen der Zuhörer erbeben machte:

»Im Namen unseres allergnädigsten Königs und Herrn, Christiern, Königs von Dänemark und Norwegen!

Wir, die Richter des Obertribunals der Provinz Drontheimhus, nachdem wir die Gesetze und unser Gewissen befragt, erlassen, betreffend Johann Schuhmacher, Staatsgefangenen, Wilfried Kennybol, Bewohner der Berge von Kole, Jonas, königlichen Bergmann, Norbith, königlichen Bergmann, Han von Klipstadur in Island, und Ordener Guldenlew, Baron von Thorwick, Ritter des Danebrogordens, sämmtlich des Hochverraths und Majestätsverbrechens ersten Grads, Han von Island überdies der Verbrechen des Mords, der Brandstiftung und des Straßenraubs, angeklagt, folgendes Urtheil:

  1. Johann Schuhmacher ist nicht schuldig.
  2. Wilfried Kennybol, Jonas und Norbith sind schuldig, aber der Gerichtshof findet einen Milderungsgrund darin, daß sie verführt worden sind.
  3. Han der Isländer ist aller ihm zur Last gelegten Verbrechen schuldig.
  4. Ordener Guldenlew ist des Hochverrats und Majestätsverbrechens ersten Grads schuldig.«

Der Richter hielt einen Augenblick inne, als ob er Athem schöpfen wollte.

»Johann Schuhmacher,« fuhr er fort, »der Gerichtshof absolvirt Euch und schickt Euch in Euer Gefängniß zurück.

Kennybol, Jonas und Norbith, der Gerichtshof verwandelt die Todesstrafe, welche Euch gebührt hätte, in ewige Gefangenschaft und eine Strafe von tausend Thalern für jeden von Euch.

Han von Klipstadur, Mörder und Brandstifter, Ihr werdet diesen Abend auf den Waffenplatz von Munckholm geführt und am Halse gehängt werden, bis der Tod erfolgt.

Ordener Guldenlew, Hochverräther, Ihr werdet vor diesem Gerichtshofe Eurer Ehren und Würden entsetzt, sofort diesen Abend, mit einer Fackel in der Hand, an den nämlichen Ort geführt werden, allwo man Euch das Haupt abschlagen und Euern Körper verbrennen wird, damit Eure Asche in alle Winde zerstreut und Euer Haupt auf den Pfahl gesteckt werde.

Jetzt entfernt euch Alle. So lautet der Spruch, den die Rechtspflege des Königs erlassen hat.«

Kaum hatte der Oberrichter dieses furchtbare Urtheil verkündet, so ertönte im Saale ein Schrei. Dieser Schrei erfüllte die Umstehenden mit noch mehr Schauder, als das Bluturtheil selbst. Ordener erbleichte.


 << zurück weiter >>