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Schluß

Fünf Jahre sind seit dem zuletzt Erzählten verflossen. Damals hatte man beratschlagt, welchen Zwecken das alte Haus einst dienen sollte. Die jungen Mädchen rieten dies und jenes, eine schlug vor, ein Kranken- und Pflegehaus zu stiften, eine andere wollte eine Kinderbewahranstalt, die dritte ein Mädchenpensionat nach Fräulein Hochbergs Muster, und nun war alles ganz anders gekommen. In die unteren Räume war ein glückliches, junges Paar eingezogen, das voraussichtlich dort für lange seinen Wohnsitz haben wird.

Ein junger Rechtsanwalt, derselbe, der den Damen bei der Erbschaftsregulierung so treu beigestanden hatte, der Freund Brugers, hatte schon längst ein Auge auf Meta geworfen. Als sie dann ganz nach Hause kam, und er Gelegenheit fand, ihr näherzutreten, erwies es sich, daß auch sie ihm nicht abgeneigt war. Es währte nicht lange, so gab es wieder ein glückliches Brautpaar in der Familie, und nun war es selbstverständlich, daß die jungen Leute die Erdgeschoßräume des alten, nun erneuerten Hauses bezogen, während Frau von Wrede die oberen Zimmer bewohnte. Großmütterchen aber hatte sich ihr früheres Mädchenzimmer mit dem daranstoßenden Schlafgemach ausbedungen. Das kleine Häuschen war ebenfalls neu hergerichtet und sollte den Enkeltöchtern der Frau Elsner zum zeitweiligen Aufenthalt dienen, zur Erholung von ihrer Berufsarbeit, oder als Sommerfrische, wenn sie dem Geschwirre der Großstadt entfliehen wollten, Großmutters Heim in Beckedorf war bequem und würdig ausgestattet und stand immer zu ihrer Aufnahme bereit. Etwas Anteil wollte sie, so lange sie lebte, an ihrem Erbe behalten. Der Garten war nicht wiederzuerkennen. Als die Wege gereinigt waren, die Rasenflächen wieder frisch angelegt, die Bäume und Sträucher beschnitten und schöne Blumen angepflanzt, war es der schönste Garten, den Beckedorf aufzuweisen hatte.

Es war Mitte Juli, an einem der schönsten Sommertage. Das Haus war festlich geschmückt mit Blumen und Girlanden. Die junge Frau Rechtsanwalt war schon früh auf den Beinen; sie erwarteten viele Gäste. Frau von Wrede half ihr, im großen Saal wurde eine lange Tafel gedeckt, in der Küche aber tummelte sich die Köchin, um ein schönes Festmahl herzurichten. Großmütterchen feierte heute ihren siebzigsten Geburtstag. Im allgemeinen Familienrat war beschlossen, daß dieser Tag in Beckedorf in Großmütterchens Heim gefeiert werden müsse. Sie, in ihrer Bescheidenheit, wollte nicht viel daraus gemacht haben, aber da die Kinder nicht nachließen, war sie's zufrieden. Um 11 Uhr vormittags wurden Oberpfarrers alle erwartet.

Vorher kam Bruger mit seiner jungen Frau und einem blondlockigen Buben von etwa zwei Jahren. Glück und Befriedigung strahlten aus Röschens Augen; sie umarmte Meta und sagte: »Dies wird ein herrlicher Tag heute, hast du alles bereit?« »Alles in schönster Ordnung«, sagte diese und führte die lieben Verwandten in die vordere Stube, in welcher ein reich bekränzter Geburtstagstisch stand, in der Mitte eine schöne Torte, worauf in großen Zahlen eine »70« prangte. Das Klavier war geöffnet, das Choralbuch aufgeschlagen; Meta bat Bruger, wenn die Großmutter komme, die Sänger des Geburtstagsliedes zu begleiten, was er gern versprach. Nun kam auch der Herr Rechtsanwalt Winter, ein kluger, freundlicher Herr mit goldener Brille. Er schüttelte den Gästen herzlich die Hände und meinte, er hätte sich heute früh aus der Arbeit losgemacht, weil er an den Bahnhof wolle, um die Gäste zu empfangen. Bruger begleitete ihn, während die jungen Frauen überall im festlich geschmückten Hause noch zu ordnen hatten. Endlich hörte man viele Stimmen, lachend und plaudernd kam die Gesellschaft daher.

Der Oberpfarrer führte die liebe Großmutter, die zunächst in einem andern Zimmer ablegen und eine Erquickung annehmen mußte. Unterdes scharten sich die Gäste alle um das Klavier, der Rechtsanwalt, als Hausherr, holte das Geburtstagskind.

»Wo ist denn aber Philipp?« fragte Röschen. »Erst jetzt merke ich, daß er nicht mitgekommen ist.«

»Er kommt direkt aus der Universitätsstadt, ich hoffe mit dem Schnellzug um zwölf Uhr«, sagte der Oberpfarrer. »Ein Freund, der die Ferien bei uns zu verleben gedenkt, wird ihn begleiten.« Jetzt erschien die Großmutter am Arm ihres Neffen, und es erschallte vielstimmig das alte und immer neue Lied: »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren.« Frau Elsner war tief bewegt, sang aber tapfer mit: »In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet«, und weiter: »Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet, der aus dem Himmel mit strömender Liebe geregnet.«

Beim Festmahl herrschte frohe Stimmung; viel Scherz und Humor, aber auch manches ernste Wort wurde gesprochen, vor allen Dingen der Großmutter ein vielstimmiges Hoch gebracht. Der Nachmittag vereinigte die Gäste unter den schönen Linden hinter dem Hause. Dort war's schattig und kühl, und der Kaffee mundete trefflich. Die jungen Frauen und Mädchen flogen wie die Schmetterlinge in hellen Gewändern hin und her. Emmi, Nanni und Miezi waren nicht mehr unzertrennlich wie ehedem; sie waren zu verständigen, braven Jungfrauen herangewachsen; die 19jährige Emmi war Großmutters treueste Stütze, sie schaltete und waltete mit großer Umsicht und Gewandtheit. Nanni hatte einen Kursus als Kleinkinderlehrerin durchgemacht und war wirklich in Tiefensee unter ganz vorteilhaften Bedingungen angestellt. Miezi half Emmi im Hause, war auch hier heute sehr hilfreich, sah aber jeden Augenblick nach der Uhr und seufzte: »Wenn doch Georg erst hier wäre.« Dann war sie verschwunden und kehrte am Arm eines jungen Mannes zurück, der nicht mehr den Namen des »hageren« verdiente, denn Georg Koch war jetzt stattlich und schmuck anzusehen. Er verdiente nun mit Recht den Titel »Vikar«, denn er war es wirklich. Erst seit vierzehn Tagen waren die beiden verlobt, angetan aber hatte es ihm die Miezi schon von dem Augenblick an, als sie ihn so liebreich bei sich aufgenommen hatte. Erst wenn Herr Koch eine Pfarre hat, darf er ans Heiraten denken; Miezi will aber bald an ihre Aussteuer denken, die sie sich mit Hilfe der Schwestern selbst nähen will. Die drei Kleinen treten allmählich in die Fußstapfen der Großen; sie sind fleißige Schulmädchen und genießen die Ferien bei Röschen oder bei Meta. Zu Großmutters Freude spricht Eva davon, einmal Diakonissin zu werden. Philipp, der lustige Student, scheint heute große Sachen vorzuhaben. Er hat noch einen Freund mitgebracht, mit diesem hat er viel zu flüstern, dann verschwinden sie und machen, wenn sie wiederkommen, geheimnisvolle Andeutungen. Martin ist der dritte im Bunde. Er ist längst Gymnasiast der höheren Klassen und beim Onkel Oberpfarrer in Pension. Mariechen ist das Herzblatt der Mutter und der verheirateten Schwester; sie ist aufgeblüht in den gesunden Räumen und dem prächtigen Garten.

Großmütterchen sitzt in einem bequemen Lehnstuhl im Mittelpunkt der großen Familie. Heute ruhen die Hände feiernd im Schoß; die Enkelinnen hatten alle Strickstrümpfe versteckt, damit Großmutter nicht auf den Einfall kommt, fleißig zu sein. Sie hat auch gar keine Zeit dazu, fortwährend kommen Gratulanten, und mit dem Nachmittagszuge finden sich noch Gäste aus der Hauptstadt ein, unter ihnen: Thea, Wilhelmine und Charlotte von Immenhoff.

Thea ist immer noch in ihrer Stellung. Sie hat sich treu bewährt, und während sie mit Röschen in der Lindenallee auf- und abgeht, vertraut sie ihr an, daß sie wahrscheinlich für immer im Hause des Fabrikbesitzers bleiben wird, um ganz Mutterstelle für Ursula zu vertreten. Ihre Schwestern finden Befriedigung in ihrem Beruf, auch Lottchen hat immer eine ihren Fähigkeiten angemessene Beschäftigung. Josepha von Langen hat an Frau Elsner geschrieben und durch Nanni schöne Blumen und Früchte des Gartens geschickt. Sie ist nach wie vor die Wohltäterin ihres Dorfes und wird geliebt und verehrt von allen, die ihr nahestehen.

Eben, als Thea und Röschen aus der Lindenallee heraufkommen, bemerken sie Philipp, der mit einer alten Dame aus dem Hause tritt. »Wer ist das?« sagen sie und sehen sich fragend an. »Ich weiß es«, ruft plötzlich Röschen voller Jubel, »es ist unsere liebe, verehrte Fräulein Hochberg«, und freudig eilen beide auf sie zu, die sie erst fremd ansieht, dann aber ausruft:

»Kinder, ihr seid es! Jetzt erkenne ich euch, Röschen und Thea. Wie würdig seht ihr aus!« »Nicht wahr?« sagte Röschen schelmisch. Und leise fügte sie hinzu: »Ich gehe nicht mehr durchs Fenster, Fräulein Hochberg, ich bin eine Frau Pfarrer geworden.«

»Und Thea?« Diese errötete und sagte: »Sie werden mich hoffentlich auch etwas verändert finden, Sie wissen durch meine Briefe von mir.« Fräulein Hochberg nickte. Sie sagte dann, daß sie sich lange diese Überraschung vorgenommen habe, sie sei in diesen Ferien in der Schweiz gewesen, habe aber auf der Durchreise in Beckedorf einen Tag rasten wollen, um Röschen wiederzusehen. Diese rief ihren Gatten und stellte ihn der geliebten Lehrerin vor, dann kam Meta dazu und war ebenso erstaunt und erfreut, Fräulein Hochberg zu sehen, wie die andern, und die alte Dame freute sich, gleich drei liebe Pflegekinder auf einmal zu treffen.

Sehr wertvoll war ihr die Bekanntschaft mit dem Großmütterchen, das heute seinen Ehrentag hatte. Die alten Damen saßen bald in eifrigem Gespräch beisammen und fanden heraus, daß sie trefflich zusammenstimmten. Dann zog es Fräulein Hochberg wieder zu der Jugend. Mit ihren lieben ehemaligen Pflegekindern hatte sie noch viel zu reden und zu beraten; wie glücklich machte es sie zu merken, daß sie alle auf Gottes Wegen wandelten.

Die andern jungen Mädchen, die viel von der würdigen Dame gehört, waren froh, daß sie sie kennenlernen durften; es war ein fröhliches Durcheinander. Nun kam der Oberpfarrer und die übrigen Herren dazu, ernste und heitere Gespräche wechselten miteinander.

Der Großmutter wird das Plaudern, Lachen und Schwirren der jungen Welt zu bunt. Ohne daß es jemand bemerkt, geht sie still nach dem untern Teil des Gartens. Dort ist noch die alte Steinbank unter der großen Buche, auf der sie so oft als Braut mit ihrem Verlobten gesessen hat. Dorthin lenkt sie ihre Schritte. Sie setzt sich und lauscht, wie in alten Tagen, dem leisen Flüstern der Bäume und überdenkt ihr Leben. Mühe und Arbeit ist es gewesen, aber der Segen Gottes hat nie gefehlt. Viel Leid hat sie erfahren, doch die Freude war überwiegend, da sie zufrieden war und alles aus Gottes Hand nahm. Ihr Gatte war ihr genommen, die einzige Tochter zu früh dahingegangen, und doch war sie von reicher Liebe umgeben. Frau von Wrede ersetzte ihr die Tochter; die Enkelkinder trugen sie auf Händen. Der Schwiegersohn aber konnte nicht genug rühmen und preisen, welch ein Segen durch sie in sein Haus gekommen war.

Sie faltete still die Hände und bat Gott, daß Er bei ihr bleiben möge mit Seiner Gnade und mit Seinem Segen, sie dankte Ihm für alles Gute, das Er ihr beschert, sonderlich auch dafür, daß sie jetzt Mittel in den Händen hatte, um den Schwiegersohn zu unterstützen in der Ausbildung seiner Kinder.

Lange blieb es nicht verborgen, daß Großmutter verschwunden war. Bald fand sich die ganze Gesellschaft unten im Garten ein. Das Pförtchen in der Mauer wurde geöffnet, und ein gemeinsamer Spaziergang am murmelnden Bächlein trug sehr zum Vergnügen der Jugend bei. Großmutter, die von Bruger sorgsam geführt wurde, ward wieder jung und lebendig, als sie Kindheitserinnerungen erzählte.

Das Feuerwerk am Abend, Philipps Überraschung, nahm einen glänzenden Verlauf. Hoch stiegen die Raketen und Leuchtkugeln in die Luft, die Feuergarben und Räder erregten allgemeine Bewunderung. So etwas hatte der alte Garten lange nicht gesehen. Großmütterchen und die älteren Damen hatten sich ins Haus zurückgezogen und sahen dem Schauspiel vom Fenster aus zu. Als es sein Ende erreicht hatte, entstand eine Bewegung im Hause. Der Gesangverein des Städtchens, zu dem auch Bruger und der Rechtsanwalt gehörten, brachte der Großmutter ein Ständchen. Sie lauschte in tiefer Bewegung den schönen Psalmworten, von den kräftigen Männerstimmen gesungen:

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt.
Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen und der dich behütet, schläft nicht,
Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.
Der Herr behütet dich, der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand,
Daß dich des Tages die Sonne nicht steche, noch der Mond des Nachts.
Der Herr behüte dich vor allem Übel; er behüte deine Seele.
Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis
in Ewigkeit.


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