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»Heute lasse ich dich nicht fort, Röschen«, rief Josepha von Langen, als die erstere sich anschickte, sie nach einem kurzen Besuch wieder zu verlassen. Röschen versicherte, sie könne nicht bleiben, es gäbe zu Hause zu tun.
»Aber ein halbes Stündchen wirst du wohl noch bleiben können«, meinte Josepha. »Der Weg ist weit, und ich freue mich immer, wenn du kommst; ich spreche so gern mit dir von der Pension und von Fräulein Hochberg. Am liebsten nähme ich dich auf einige Wochen mit auf unser Landgut. Meine Eltern gehen Mitte Juli ins Bad, und ich bin während dieser Zeit allein mit Tante Agnes, die als Schutz bei mir bleibt. Hast du nicht Lust, Röschen?« Diese meinte, Lust sei wohl da, aber sie könne nicht fort, da es für Großmutter sonst zuviel würde. »Das sehe ich ja ein«, fuhr Josepha fort, »und will deshalb nicht in dich dringen, aber dann werde ich mir deine drei Schwestern einladen für die Ferien, werden sie wohl dürfen?« »Das wäre reizend«, jubelte Röschen; »sie werden glückselig sein, wenn sie das hören, die Erlaubnis werden sie gewiß bekommen.« Es klopfte. Ein Diener trat ein und meldete: Frau Elsner lasse sich empfehlen, sie gebe Fräulein Röschen sehr gerne ihre Erlaubnis, den Abend zu bleiben, da gnädiges Fräulein es wünschten.
»Überrumpelt«, rief Josepha lachend. »So muß man es machen, um dich zu fangen. Ich habe gleich, als du kamst, unsern Diener zu deiner Großmutter geschickt und sie bitten lassen. Nun bleibst du den Abend, und Friedrich geleitet dich.« »Aber deine Eltern?« »Haben schon lange gewünscht, dich näher kennenzulernen. Du sollst auch heute meine Freundin Elsbeth sehen, von welcher ich dir schon öfter erzählt habe. Es ist, wie du weißt, die Tochter eines unserer Gutsnachbarn, ein reizendes Mädchen, die dir sicher gefallen wird. Sie macht eben einen Besuch in der Stadt, wird aber bald zurückkehren.«
Josepha hatte recht, Elsbeth von Falter war ein reizendes Mädchen. Eine elfenartige Gestalt mit zartem, rosig angehauchtem Teint und lichtblondem Haar. Die freundlichen, blauen Augen hatten etwas Offenes, Treuherziges; sie war herzlich und zutraulich gegen Röschen, die beiden waren bald in eifrigem Gespräch miteinander und schienen aneinander Wohlgefallen zu finden. Röschen war etwas bange vor dem Abend im freiherrlichen Salon, doch die Eltern Josephas kamen ihr freundlich und liebenswürdig entgegen, und der Bruder war höflich und zuvorkommend. So sehr Röschen Josepha liebte, so wenig sympathisch war ihr der Bruder Alexander, der sich sofort eingehend mit Elsbeth beschäftigte und sie zum lebhaften Gegenstand seines Interesses machte. Röschen beobachtete ihn scharf; sie hatte ihre Gründe, diesen Herrn etwas näher kennenzulernen. Als es zu Tisch ging, bot er Elsbeth seinen Arm und sagte ihr, seiner Tischnachbarin, so viel Schönes, daß Röschen einige Male in Theas Seele errötete. Auch nach Tisch wich er nicht von ihrer Seite; schließlich wurde musiziert. Er forderte Elsbeth auf, ein Duett mit ihm zu singen, er hatte einen guten Tenor, sie eine schöne Sopranstimme, es war prächtig anzuhören. Später standen die beiden lange allein in einer Fensternische und schienen süße Geheimnisse miteinander zu haben. Die Eltern und Josepha sahen befriedigt aus, nur Röschen wurde von einer Angst und Unruhe erfaßt, sie wußte nicht aus noch ein. Josepha sah sie ein paarmal besorgt an und fragte, ob ihr etwas fehle. Sie schüttelte den Kopf und schwieg. Endlich war es Zeit aufzubrechen, es schien ihr wie eine Art Erlösung. Als sie oben noch einige Minuten mit Josepha allein war, sagte diese scherzend: »Röschen, ich glaube, du bist noch ein ganzes Kind, hast du noch nie ein Paar gesehen, das sich lieb hat, das auf dem Punkt steht, sich zu verloben?«
Röschen sah Josepha mit großen Augen an, als verstände sie sie nicht. »Dein – Bruder will sich mit Fräulein von Falter – verloben« – stammelte sie endlich.
»Ja gewiß, du kleine Unschuld, und wir freuen uns alle darüber. Elsbeth ist ein prächtiges Mädchen, für meinen Bruder ist es gut, wenn er eine so nach allen Seiten vorteilhafte Verbindung eingeht; er neigt etwas zum Leichtsinn, aber eine Frau wie Elsbeth wird guten Einfluß auf ihn haben. Doch schweige hierüber, ich durfte eigentlich nicht davon sprechen, da die Sache noch nicht so weit gediehen ist, daß sie an die Öffentlichkeit dringt. Freue dich mit mir, wenn ich eine so liebe Schwägerin bekomme. Nun behüte dich Gott, grüße dein Großmütterchen und besuche mich bald wieder!«
Wie lieb und gut war Josepha, wie wenig ahnte sie, was in Röschens Herzen vorging. Diese war so erschrocken über alles, was sie gesehen und gehört hatte, daß sie nichts weiter denken konnte als: »Arme Thea, ein böser Frost hat deinen Frühlingstraum zerstört.«
Frau Elsner war allein im Wohnzimmer und erwartete ihr Kind. »Warst du recht vergnügt diesen Abend, mein Röschen?« fragte sie mit mütterlichem Ton. »Ach Großmutter«, seufzte Röschen und fiel ihr weinend um den Hals, »wie ist die Welt so böse, so falsch.« – »Du hast mir immer gesagt, daß du Josepha höher schätzest als alle andern Freundinnen außer Meta, bist du denn heute vom Gegenteil überzeugt worden?« »Ach nein, Großmütterchen, Josepha liebe ich wie immer zuvor, aber – ach – es ist ein Geheimnis, ich darf nicht davon sprechen, und doch sagte ich es dir so gern.«
Frau Elsner sah ihre Enkelin besorgt an. Sollte sie selbst ein Erlebnis gehabt haben, das sie ihr nicht sagen konnte, das ihr aber Gewissensunruhe machte? Sie forschte nicht weiter, sondern schwieg. Röschen hatte den Kopf auf den Tisch gestützt und sah sorgenvoll vor sich hin. Sie schwieg auch. Endlich rief sie aus: »Ich finde nicht heraus, was ich bei der Sache tun soll, aber geschehen muß etwas. Großmutter, ist es unrecht, wenn man das Geheimnis eines andern, das einem anvertraut ist, aufdeckt, wenn man sieht, daß Gefahr droht und man selbst keinen Rat weiß zu helfen?«
Die Großmutter sann ein Weilchen nach. »Wenn ich dir verspreche, mein liebes Kind, dies dir anvertraute Geheimnis fest bei mir zu verwahren, so könntest du es mir wohl sagen, vielleicht weiß ich, die ich alt und erfahren bin, einen Rat für dich.« Röschen atmete erleichtert auf. »Gut, ich werde dir alles sagen, was mir seit Wochen auf dem Herzen liegt.« Sie erzählte von Thea und ihrem Verlöbnis, berichtete, daß sie hinter dem Rücken der Eltern Zusammenkünfte gehabt habe, daß sie, Röschen, die beiden schon einige Male hatte miteinander gehen sehen, ohne jedoch von ihnen bemerkt worden zu sein. Ferner berichtete sie alle Einzelheiten von dem heutigen Abend und wie sie aufs tiefste erschrocken sei, den Bruder Josephas in so naher Beziehung zu deren Freundin gesehen zu haben, da sie die Verbindung Theas mit ihm gewußt habe.
»Das ist eine böse Geschichte, mein liebes Kind«, sagte die Großmutter betrübt. »Es tut mir leid, daß du darin verwickelt bist, jedenfalls ist es nun deine Pflicht, Thea zu warnen und sie dringend zu bitten, das Verhältnis baldmöglichst zu lösen.« »Aber ich kann ihr doch nicht sagen, daß Herr von Langen auf dem Punkt steht, sich mit einem andern jungen Mädchen zu verloben, daß er sie nur am Narrenseil führt.« – »Stelle ihr zunächst vor, daß sie sündigt, indem sie es vor ihrer Mutter verbirgt. Sie muß es dieser gestehen, und Frau von Immenhoff wird hoffentlich vernünftig genug sein, das Verhältnis sofort zu lösen.« »Thea wird es von mir nicht annehmen«, sagte Röschen traurig. »Bringe sie einmal mit hierher«, riet Frau Elsner, »vielleicht finde ich die rechten Worte, mit ihr zu reden.« »Ja, Großmütterchen, nimm du es in die Hand, du wirst es schon aus Thea herausbringen und kannst es ihr besser sagen als ich. Übrigens morgen ist ihr Geburtstag, da soll ich zu ihr kommen, vielleicht macht es sich so, daß ich sie auffordern kann, mich in diesen Tagen zu besuchen.«
Um vieles erleichtert ging Röschen zur Ruhe. Welch einen Schatz hatte sie an der Großmutter, der sie alles sagen und klagen konnte, die für alles Rat wußte und aus allen Schwierigkeiten heraushelfen konnte.