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Wo war Meta geblieben, als der Schaffner »Beckedorf« rief? Still und einsam war sie den bekannten Weg vom Bahnhof ins Städtchen gewandert, Bekannte traf sie keine, sie waren ja, solange sie in dem Ort wohnten, fast mit niemand in Berührung gekommen. Früher, als der Vater lebte, hatten sie in einer größeren Garnisonsstadt gewohnt. Dann mußte etwas sehr Trauriges passiert sein, der Vater, der Offizier gewesen, hatte seinen Abschied bekommen und war seitdem düster und einsilbig gewesen. Bald darauf wurde er von einem Gehirnschlag getroffen und starb nach wenigen Stunden. Die Mutter war in trostloser Lage. Eines Tages, Meta erinnerte sich dessen noch heute, war der Großvater eingetreten, den die Kinder sonst nie gesehen hatten. Er hatte sich lange mit der Mutter eingeschlossen, gegen Abend war er wieder verschwunden, ohne den Kindern Lebewohl gesagt zu haben. Die Mutter schien nicht gerade getröstet durch seinen Besuch, im Gegenteil, sie seufzte oft und hatte verweinte Augen. Eines Tages eröffnete sie den Kindern, daß sie ihren Heimatort verlassen und in eine kleine Stadt ziehen würden. Sie würde dem Großvater, da die Großmutter nicht mehr lebte, den Haushalt führen, und er würde für sie sorgen. Die Kinder hatten sich Großvaters Haus, nach der Mutter Beschreibung, groß und weit ausgemalt. Wie aber waren sie enttäuscht, als sie in das zukünftige Heim kamen!
Wir begleiten Meta jetzt dahin. Sie eilte durch das Städtchen, ohne sich viel umzusehen; sie war, wie gesagt, wenig bekannt, da sie fast gar nicht mit der Außenwelt in Berührung kam. Einige schauten ihr neugierig nach, wie es in kleinen Städten üblich ist, nicht weit von ihrem Hause bemerkte eine Frau zu einer andern: »Ist das nicht Frau Hauptmanns Älteste? Ein hübsches Mädchen! Wie wird die sich mit dem Alten zurechtfinden!« »Nun, er wird sie wohl ebenso quälen, wie er die Mutter quält, der alte Geizhals.«
Meta stand jetzt vor einem großen, grauen Hause, das wohl das vornehmste der Stadt war. Es hatte im Erdgeschoß hohe Bogenfenster, aber da alle Läden und Jalousien geschlossen waren, machte es einen düstern, toten Eindruck. Es hatte an der einen Seite einen kleinen Anbau, der ein Flügel des Haupthauses sein konnte, oder ein Pförtnerhäuschen. Um dies kleine Haus ging Meta herum, bis sie auf einen geräumigen Hof kam, von dem aus eine Tür in das Häuschen führte. Am Brunnen waren zwei Kinder beschäftigt, ein blasses Mädchen von etwa zehn Jahren und ein etwas älterer Knabe. Sie faßten eben einen Eimer Wasser, um ihn gemeinsam ins Haus zu tragen. Sobald Meta ihre Namen rief, wandten sie sich um, und als sie die ältere Schwester erblickten, setzten sie den Eimer hin und eilten, dunkelrot vor Freude, auf dieselbe zu. Doch war es auffallend, daß sie nicht, nach Kinderart, aufjauchzten, sondern mit leiser, gedämpfter Stimme sprachen, als ob jemand in der Nähe schlafe. »Wo ist die Mutter?« fragte Meta ebenso leise. »Der Großvater ist bei ihr.« »Dann wollen wir warten, bis er fort ist«, meinte sie. »Ja, er ist heute sehr böse, weil die Mutter ihm gesagt hat, daß du nach Hause kommst.«
Meta wurde es so heiß, sie schluckte einige aufsteigende Tränen hinunter und sagte zu den Geschwistern: »Kommt, wir wollen einmal hinunter an den Bach gehen.« Sie faßte die Kinder bei der Hand und ging an der hohen Mauer, die den Garten des großen Nachbarhauses vom Hof abschloß, entlang, den Hof hinunter, durch einen kleinen Gemüsegarten, den die fleißigen Hände der Mutter schon in Ordnung gebracht hatten. Die Kinder zeigten auf die sauber geharkten Beete und erzählten der Schwester, wie sie hier Bohnen gelegt, dort Erbsen, wie auf der andern Seite Möhren gesät seien und andere nützliche Küchengewächse. »Aber Veilchen gibt es viele«, riefen die Kinder fröhlich, »sieh nur hier am Abhang ist alles blau, auch Anemonen gibt es, rote und weiße.« Die Kinder pflückten eifrig, und Meta atmete auf. Dort rauschte zu ihren Füßen das muntere Bächlein unaufhaltsam über Steine dahin; Erlen und Birken standen am Rande, an letzteren hingen schon Kätzchen, und kleine, grüne Blättchen entfalteten sich überall. Von hier aus konnte man auch in den großen Nachbargarten hinübersehen; dort gab es schöne alte Bäume und Rasenplätze, aber recht verwildert sah alles aus, wie schade, daß Haus und Garten unbewohnt waren. Die Vöglein zwitscherten und sangen um die Wette, als wollten sie dem jungen Mädchen einen Willkommensgruß bringen. Ihr traten wieder die Tränen in die Augen, welch ein trauriger Einzug war es doch nach einjähriger Abwesenheit.
Nun erklang der Mutter Stimme. Sie rief die Kinder, die schnell in den Hof eilten, um das Wasser, auf das die Mutter wartete, ins Haus zu bringen. Meta folgte langsam, Mutter und Kinder waren längst verschwunden, als sie durch die Tür ins Haus trat. Aber da stand die Mutter. Welche Fülle von Liebe malte sich in ihren Zügen, als sie die Arme weit ausbreitete und die Tochter umfing. Diese legte, leise weinend, ihr Haupt an der Mutter Brust.
Frau Hauptmann von Wrede führte ihr Kind in ein kleines, freundliches Zimmer, dessen Fenster zwar nach dem Hof gingen, das aber sonst an Gemütlichkeit und Geschmack nichts zu wünschen übrig ließ. Nur sehr eng und klein waren die Räume, welche Frau von Wrede bewohnte, auch sehr niedrig, aber sie hatte sich dran gewöhnt, während es Meta, die aus dem Pensionshaus kam, ärmlich, ja dürftig erschien. Aber sie war bei der Mutter und blieb bei ihr, mochte es noch so eng im Stübchen sein, wenn sie nur ihr Mütterchen wieder hatte, mit ihr alles teilen konnte, ihr das Schwere tragen helfen, ihr beistehen, die kleinen Geschwister zu erziehen. Das war gewiß ihr Beruf, den der Herr ihr gegeben, es war das nächstliegende, darauf sollten sie achten, hatte Fräulein Hochberg gesagt. Es war freilich oft eng und beklommen im Häuschen, in der Nähe des strengen und wunderlichen Großvaters. Aber, wenn sie an das Gärtchen dachte mit dem Abhang und dem rauschenden Bächlein da unten mit den schönen Blumen und an die großen Bäume, die aus dem Nachbargarten herübergrüßten, da freute sie sich auf den Sommer und auf die Nachmittagsstunden, die sie nach getaner Arbeit mit der Mutter hier zubringen würde, sicher vor dem Großvater, der nie das Gärtchen betrat. Sie sagte immer und immer wieder der Mutter, wie sie sich freue, daheim zu sein, wunderte sich nur, welch betrübtes Gesicht dieselbe dazu machte und wie sie nicht viel darauf erwiderte.
Das Häuschen hatte nach vorn und nach hinten drei durcheinandergehende Stuben aufzuweisen, die vorderen bewohnte der Großvater, die nach hinten gelegenen hatte er seiner Tochter und ihren Kindern als Wohnung angewiesen. Der Eingang in das Haus geschah vom Hofe, rechts von der Haustür war die kleine Küche, daneben ein Vorratskämmerchen. Im Giebel lag noch ein kleines Stübchen, das Frau Hauptmann für Meta eingerichtet hatte, in dem Glauben, sie dürfe ihre Tochter zu Hause behalten. Sie hatte diese hinaufgeführt, damit sie sich vom Staub und Schmutz der Reise befreie und ihren Anzug ordne. Meta stand, als sie damit fertig war, sinnend an dem kleinen Fenster; sie konnte von hier aus auf die Straße sehen, hörte die Nachbarskinder jauchzen und sah sie vergnügt umherspringen; auch junge Mädchen gingen, eifrig plaudernd, vorüber. Mägde kamen an den Brunnen und holten Wasser; alles atmete Leben und Frohsinn, nur in diesem Hause konnte keine Freude aufkommen. Die Mutter war natürlich glücklich gewesen, als sie gekommen war, aber der Freude lauten Ausdruck zu geben wagte sie nicht.
Jetzt hörte Meta leichte Schritte auf der Treppe. Martin und Mariechen, die jüngeren Geschwister, kamen sie zu holen. Wie leise traten die Füßchen auf, wie gedämpft waren wieder die Stimmen, als sie sagten: »Meta, du möchtest schnell zum Abendbrot kommen, damit der Großvater nicht zu warten braucht.«
Meta ging mit den Kindern hinunter. In dem kleinen Zimmer war ein einfacher Tisch gedeckt. Eine dampfende Suppe stand darauf. Die Mutter verhielt sich wartend hinter ihrem Stuhl, auch die Kinder stellten sich an ihre Plätze, während Meta beklommen in der Nähe der Tür blieb, um den Großvater erst zu begrüßen. Jetzt ließen sich schlürfende Schritte vernehmen; die Tür, die von diesem Zimmer in das vordere führte, öffnete sich, und eine lange, hagere Gestalt erschien. Der Kopf war spärlich mit grauen Haaren bedeckt, die stahlblauen Augen blickten scharf und streng. Der Mund mit den dünnen Lippen war fest zusammengekniffen. Ein grauer Schlafrock umgab die Gestalt; die Hände, die aus den ziemlich kurzen Ärmeln hervorsahen, waren lang und knöchern.
Meta ging dem Großvater entgegen, ergriff die dargebotene Rechte und küßte dieselbe nach althergebrachter Sitte. »Guten Abend, Kind, bist du wieder da?« sagte der alte Mann mit nicht zu freundlicher Stimme, und nahm seinen Platz ein. Ein kurzes Tischgebet wurde gesprochen; die Mutter füllte die Suppe auf. Der Großvater kostete davon und sagte in vorwurfsvollem Ton: »Mir scheint, du hast wieder zu viel Milch zur Suppe getan, Wilhelmine. Wann wirst du lernen, sparsam zu werden, du mußt bedenken, daß wir noch einen Esser mehr am Tisch haben.« »Deshalb ist es heute etwas mehr Suppe«, war die sanfte Antwort der Tochter. »Sie soll aber nicht mit Milch, sondern mit Wasser verlängert werden, ich will nicht, daß mehr Milch gekauft wird.« Die Tochter schwieg. »Wo läßt du jetzt das Brot holen?« »Wie immer, bei unserm Nachbar.« »Ich sagte dir schon gestern, daß bei Lahns das Brot größer ist als hier.« »Aber«, warf Frau von Wrede ein, »der Nachbar ist mir oft gefällig; wenn ich das Brot nicht mehr dort hole, darf ich ihn nicht mehr um diese oder jene Hilfeleistung bitten!« »Immer Ausreden! Es ist wahrlich keine Kleinigkeit, eine Witwe mit ihren Kindern zu erhalten, ich armer Mann bin sehr zu beklagen – ja sehr!« Hier fuhr er sich mit seiner knöchernen Hand übers Gesicht. Dann veränderte er plötzlich seinen Ton und fuhr fort: »Ich muß dich dringend ersuchen, künftig meine Anordnungen pünktlich zu befolgen.« Die Mutter schwieg wieder, war aber dunkelrot geworden, und Meta sah, wie ihr die Tränen kommen wollten. Sie beherrschte sich aber und drängte sie zurück. Das junge Mädchen fühlte, wie unangenehm der Mutter die Zurechtweisung in Gegenwart der Kinder sein mußte. Mit diesen sprach der Großvater nie, es sei denn, daß er ihnen in rauhem Ton etwas verbot oder sie warnte, sich nicht den Magen zu überladen. Alle waren froh, als die Mahlzeit beendet war. Der Großvater wandte sich, bevor er ging, noch einmal an seine Tochter und fragte: »Hast du Meta schon von meinen Plänen gesagt?« »Noch nicht«, war die gedrückte Antwort. »Dann tu es diesen Abend. Gute Nacht!« Mit diesen Worten schlürfte er auf seinen weichen Schuhen in sein Reich, das er hinter sich abschloß. Die beiden Kinder seufzten auf, als seien sie von einer Last befreit. Sie kamen beide auf Meta zu, faßten ihre Hände und liebkosten sie. »Ich hätte euch so gern etwas mitgebracht«, sagte diese, ihre Liebesbezeugungen erwidernd, »aber ihr wißt –« »Wir mögen nichts, Großvater schilt, wenn er es merkt.« Meta sah die Mutter an. »Was meinte Großvater mit seinen Plänen?« »Später, mein liebes Kind«, flüsterte diese, »wenn die Kinder zu Bett sind.«
Nachdem Martin und Mariechen zur Ruhe gebracht worden, zog Frau von Wrede Meta zu sich aufs Sofa und sagte: »Nun, mein liebes Kind, gehören wir uns beide, jetzt sollst du hören, was mir seit gestern schwer aufliegt. Ich darf dich nicht behalten, der Großvater will, du sollst dir auswärts dein Brot verdienen, er hat bereits eine Stelle für dich angenommen.« »Ich soll wieder fort von dir, meine geliebte Mutter?« rief Meta so erschrocken und überrascht, daß Frau von Wrede merkte, es werde noch einen Kampf kosten, Meta von der Sache zu überzeugen. Sie stellte der Tochter vor, daß, falls sie bleiben würde, der Großvater täglich über vermehrte Kosten des Haushaltes klagen würde, daß er ihr, der Mutter, noch mehr Vorwürfe machen würde, und daß sie schließlich beide darunter leiden würden. Aus diesen Gründen halte sie es für besser, Meta füge sich und gehe getrost an die Stelle, die der Großvater für sie ausersehen habe. »Wie heißt denn der Ort und die Familie?« »Du sollst in das Haus eines Baron von Uhden auf Rinow gehen und dort einem Töchterchen von neun Jahren Unterricht erteilen.« »Ach Mutter«, sagte Meta wieder traurig, »ich hatte mich so sehr gefreut, dir endlich eine Stütze sein zu können, alles Schwere mit dir zu teilen.« »Ich vermag nichts gegen den Großvater, mein gutes Kind, alle meine Versuche, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, waren fruchtlos; ich habe deshalb schon ernste Kämpfe mit ihm gehabt, da ich selbst es mir so schön dachte, eine Stütze und einen Umgang an meiner ältesten Tochter zu haben, zumal ich hier ganz allein stehe.« »Ich werde den Großvater selbst bitten«, sagte Meta entschlossen. »Es wird dir nichts nützen, liebe Tochter, ergib dich.« »Nicht eher, als bis er selbst mir meine Bitte abgeschlagen hat, Mutter; andere rühmen immer die Liebe und Güte ihrer Großeltern, – wir haben einen – Stein zum Großvater. Er hat uns nie ein Vergnügen gegönnt, jede Freude hat er uns verbittert und das Schlimmste ist, daß er dich so quält. Wie hast du es nur ausgehalten all die langen Jahre?« »Als die Mutter lebte, hatte ich nicht darunter zu leiden; es war aber auch wohl noch nicht ganz so schlimm mit dem Vater. Ich hatte es besser als ihr, liebe Kinder. Wir wohnten damals noch in dem schönen, großen Hause hier, und die Mutter war so lieb und gut und hatte mehr in Händen; sie war sehr vermögend.« »Ihr wohntet in dem großen Hause nebenan, sagst du?« Die Mutter nickte. »Das hast du uns nie gesagt, Mutter, warum nicht?« »Ich wollte euch das Herz nicht groß machen, es nützt ja nichts, da wir es nun doch nicht bewohnen können.« »Gehört es dem Großvater nicht mehr?« Die Mutter zuckte mit den Achseln. »Er sagt, er habe es verkauft; der Käufer sei nach auswärts gegangen und komme erst in einigen Jahren zurück.« »Dann ist also der Großvater früher wohlhabend gewesen?« »Er ist es noch.« Meta sah die Mutter verwundert an. »So hat er nicht alles verloren?« »Liebes Kind, ich kann dir nicht auf alles Antwort geben. Bereite dich nur vor, willig des Großvaters Wünsche zu erfüllen; du weißt, er sorgt jetzt ganz für uns, wir müssen uns fügen.« Meta aber beharrte in ihrem Entschluß, den Großvater zu bitten, die Annahme dieser Stelle rückgängig zu machen.
Es war schon spät, als sie hinaufging in ihr stilles Stübchen. Sie lag noch lange wach, gedachte des Pensionats, der gütigen Vorsteherin, die soviel Gutes in die jungen Herzen gepflanzt hatte, der sie versprochen hatten, nicht untätig zu bleiben, sondern einen Beruf zu erwählen. Sie hatte keinen andern im Auge gehabt, als den, der Mutter zu helfen, ihr das kleine Heim zu schmücken, ihre Tränen zu trocknen, wenn sie traurig war, auch den lieben jüngeren Geschwistern das Leben etwas freundlicher zu gestalten. Nun sollte sie in die fremde Welt hinaus, zu unbekannten Menschen, die kalt und teilnahmslos sein würden. Wie gern hätte sie in dem Pensionat innige Freundschaften geschlossen, ihr junges Mädchenherz verlangte danach. Besonders an Röschen hätte sie sich gern angeschlossen, für diese hegte sie im Herzen eine fast schwärmerische Liebe. Aber konnte und durfte sie Freundschaften schließen? Es war durch die häuslichen Verhältnisse alles abgeschnitten, darum war sie so zurückhaltend gewesen gegen die Mädchen. Oh, wenn sie es ahnten, welche Fülle von Liebe sie zu geben imstande war, wenn sie nur gedurft hätte, wenn nicht immer der engherzige Großvater im Hintergrunde gewesen wäre, der ihr und den ihrigen jede Freude vergällte. Hätte sie wohl eine der Mitpensionärinnen in ihr Heim bringen dürfen? Und wenn sie es getan, würden sie nicht die Nase gerümpft haben über die kleine, armselige Wohnung, die mehr einem Portierhäuschen glich? Vielleicht hatte hier früher wirklich ein Portier gewohnt, der zu dem großen Nachbarhause gehörte. Wie mochte es wohl darin aussehen? Die Mutter mußte ihr mehr davon erzählen. Seit sie wußte, daß die Mutter dort aufgewachsen war, interessierte sie das alte Haus mit seinen verschlossenen Türen und Läden mächtig. Sie dachte sich die Mutter als Kind in dem schönen großen Park umherspringen, sie hörte die großen Bäume im Winde rauschen und schlief darüber ein.
Am andern Morgen erwachte sie spät. Die Reise und ihre sonstigen Erlebnisse hatten sie müde gemacht, daß sie eines langen Schlafes bedurfte. Nun war sie frisch und neu gestärkt; ihr Entschluß, mit dem Großvater zu sprechen, stand fest. Als sie ihren Kaffee getrunken hatte, die Geschwister waren im Hof beschäftigt, die Mutter in der Küche, ging sie mutig an die Tür, die zu den Zimmern des Großvaters führte, und klopfte. Niemand antwortete. Sie klopfte lauter. Da hörte sie den schlürfenden Schritt des alten Herrn. Er kam auf die Tür zu und öffnete ein klein wenig. »Wer ist da?« rief er mit mürrischer Stimme. »Meta, deine Enkelin, möchte mit dir sprechen.« Erstaunt machte er die Tür ein wenig weiter auf und sagte: »Weißt du nicht, daß ich mich nicht stören lasse?« »Ich will auch nur kurz mit dir reden, möchte dich nur um etwas bitten.« Er sah das junge Mädchen wieder mit einem erstaunten Blick an, ließ sie aber hinein und schloß hinter ihr zu.
Da stand sie in dem Reich des Großvaters, einem kleinen niedrigen Zimmer, gleich den ihrigen. Die Fenster waren mit Jalousien zugestellt, so daß nur gedämpftes Licht hereindrang. Mehrere fest verschlossene Schränke hatte das Zimmer aufzuweisen, der Fensterwand gegenüber stand ein Sofa mit Tisch und zwei Lederstühlen. In dem einen ließ sich der alte Herr nieder, gab der Enkelin aber kein Zeichen, sich auch zu setzen, sondern ließ sie vor sich stehen. »Was gibt's denn?« fragte er kurz und trocken. Ihr wurde bei dem strengen Ausdruck, der auf dem ehernen Gesicht des alten Mannes lag, beklommen, sie brachte aber doch ihre Sache klar und ruhig vor. Sie halte es für notwendig, der Mutter, die älter und schwächer werde, eine Stütze zu sein; wenn dieselbe krank würde, so sei es für den Großvater und für die Geschwister böse. Wenn sie dagegen dabliebe und die Mutter kräftig bei den häuslichen Arbeiten unterstütze, so würden die Kräfte derselben erhalten. Das sei seine Sorge, versetzte der Großvater, es sei durchaus kein Grund, deshalb eine schöne Stelle, die mehrere hundert Mark einbringe, von sich zu weisen. Ob sie meine, umsonst in der teuren Pension gewesen zu sein; sie müsse das, was sie gelernt, zu Gelde machen. – »Du hast mir nichts dazu gegeben, Großvater«, versetzte Meta unerschrocken, »eine alte Freundin der Mutter hat das Geld hinterlassen, mit dem ausdrücklichen Wunsch, ich solle dafür ein Jahr in das Pensionat von Fräulein Hochberg geschickt werden.« »Und weil du diese Ausbildung genossen hast, sollst du dir mit dem, was du gelernt hast, etwas verdienen. Meinst du, ich soll euch alle durchfüttern mit dem wenigen, was ich noch habe?«
Meta erhob ihren Blick und sah den Großvater vorwurfsvoll an mit ihren großen, tiefblauen Augen. Erweckten diese Augen, die forschend auf seinem Angesicht ruhten, eine alte, längst vergangene Erinnerung? Es mußte wohl so sein, denn er senkte seine Augen vor ihrem Blick und legte seine Hand darüber. Die ganze Erscheinung des jungen Mädchens beschwor eine Szene aus alter Zeit herauf, an die er nicht gern erinnert sein wollte, er sah im Geiste ein anderes junges Mädchen, deren Augen denen Metas wunderbar glichen, die auch einst vor vielen Jahren vor ihm gestanden, – doch hinweg mit dieser Erinnerung, sie berührte ihn peinlich. »Großvater«, sagte Meta nach einer Pause, »wenn du so darüber denkst, so werde ich dir nie wieder zur Last fallen. Ich werde mir Geld verdienen, und wenn ich meine Mutter einmal wiedersehen will, so werde ich meinen Aufenthalt hier bezahlen. Aber, Großvater, das will ich dir sagen, obgleich ich noch jung bin und wenige Erfahrung habe, das eine weiß ich doch schon, daß Geld nicht glücklich macht.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und ließ den bedauernswerten Mann allein.
Die Mutter sah sie erwartungsvoll an, als sie herauskam. Nun war es mit Metas Fassung, die sie sich bis hierher mühsam bewahrt hatte, vorbei. Sie warf sich schluchzend an der Mutter Brust und rief: »Mutter, ich gehe lieber heute als morgen, wenn ich dem Großvater eine Last bin.« »Die Stelle ist zum ersten Mai angenommen, so lange bleibst du bei mir und deinen Geschwistern, wir bringen deine Sachen in Ordnung, und du hilfst uns in unserm Gärtchen. Heute ist ein warmer Frühlingstag, geh hinaus zu den Kindern und sei fröhlich mit ihnen.« Sie streichelte Metas Wangen und sah ihr in die Augen. »Es wird schon noch einmal alles gut werden, mein liebes Kind, für den armen Großvater ist es ja doch am schlimmsten.«
Meta tat, wir ihr die Mutter geheißen. Sie setzte ihren runden Hut auf und suchte die Kinder. Diese waren damit beschäftigt, das trockene Laub von den Blumenbeeten zu nehmen. »Meta, sieh, o sieh doch«, jubelten sie, als sie durch die Gartenpforte trat, »sieh die schönen Hyazinthen und Tulpen, sie stecken die Köpfchen schon weit heraus, wie wird sich die Mutter freuen. Und so warm ist es heute, wir schwitzen wie im Sommer. Horch, wie die Lerchen singen, ist es hier nicht wunderschön?« Meta fand das Gärtchen im Vergleich zu dem Pensionsgarten sehr bescheiden, wie zufrieden waren die Kinder, wie fleißig und genügsam! Bald scherzte und lachte sie mit ihnen, sie liefen den Abhang hinunter bis an den Bach, warfen Blumen in denselben und sahen, wie sie lustig davonschwammen. Der Bach rauschte auch am Nachbargarten vorüber, er konnte ungestraft hineinsehen. Die Kinder hätten wohl auch einmal hineinklettern mögen, aber es war von vornherein strengstes Verbot vom Großvater, je dergleichen Versuche zu machen. Meta sah das stolze, große Haus mit ganz andern Augen an, seit sie wußte, daß der Großvater der Besitzer gewesen, oder vielleicht noch sei. Oh, wenn das letztere der Fall wäre, dann hätten sie wahrlich nicht nötig, sich hier so einzuengen. Als Kind hatte sie geglaubt, sie seien alle ganz arm und der Großvater wunderlich; allmählich waren ihr die Augen aufgegangen, sie wußte nun, es war der Geiz des Großvaters, der es seiner Umgebung unerträglich machte. Es war nur gut, daß die jüngeren Geschwister nicht so darunter zu leiden schienen. Sie fürchteten den alten Herrn, waren von klein auf an sein strenges Wesen gewöhnt und fanden nichts Sonderliches darin, wiewohl sie glücklich waren, wenn sie dem Hause entrinnen und sich außer Hörweite des Großvaters aufhalten konnten.
Meta nahm sich vor, die kurze Ferienzeit mit den ihrigen treu auszunutzen. Einen Brief der Baronin Uhden, der des Inhalts war, daß sie erst Mitte Mai eintreffen möge, beantwortete Meta dahin, daß sie sich zur gewünschten Zeit in Rinow einfinden werde. Es bangte ihr vor der Zukunft, doch die Mutter machte ihr Mut. »Gottes Segen wird dich begleiten, mein Kind, denn du übst Gehorsam gegen Mutter und Großvater, und Gehorsam ist besser denn Opfer.« Noch vieles andere sagte die treue Mutter. Sie befestigte alle Lehren, die Fräulein Hochberg ihr gegeben, und bemerkte mit Freuden, daß der Aufenthalt in der Pension dazu gedient hatte, Meta zu fördern auf dem Weg zum Himmel.