Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

26. Kapitel. Der Besuch in Buchenau

An einem Sonnabend nachmittag schlug Josepha, die etwas anderes vorhatte, den Schwestern einen Spaziergang ins nahe Kirchdorf vor. »Das Schulhaus liegt so hübsch, macht dem Lehrer des Dorfes und seiner Frau einen kleinen Besuch und richtet einen Gruß von mir aus«, sagte sie. Dieser Vorschlag wurde mit großer Bereitwilligkeit aufgenommen. Sie wanderten miteinander den hübschen, mit Obstbäumen bepflanzten Landweg, der von Tiefensee ins Kirchdorf führte, und kamen nach zwanzig Minuten etwa dort an. Sie gingen die Dorfstraße entlang bis zur Kirche hin, wo sich auch das Pfarrhaus befand. Dort waren sie schon gewesen mit Josepha; es wohnten so liebe alte Pfarrersleute darin, die sehr befreundet waren mit der Familie vom Schloß. Der Lehrer wohnte an der andern Seite der Kirche, in einem hübschen, mit Efeu umrankten Hause. An den kleinen blanken Fenstern stand blühender Goldlack, auch gab es brennend rote Pelargonien und schöne Nelken dort. In dem Vorgarten sah man saubere, mit Buchsbaum eingefaßte Beete, auf denen ein Blumenflor prangte, daß es eine Lust war. Die Mädchen blieben stehen und betrachteten die schönen Blumen. Sie hatten nicht bemerkt, daß schon lange ein Mädchen ihres Alters vor der Tür gestanden hatte und sie die Dorfstraße hatte herunterkommen sehen. Als sie nun aufs Haus zusteuerten, stürzte das Kind in die Stube und rief: »Sie kommen!« »Kommen sie wirklich?« fragte eine sauber gekleidete Frau in einem weißen Häubchen. Sie deckte schnell die Sonntagsdecke über den Sofatisch, glättete sich das Haar und rief in die andere Stube hinein: »Vater, sie kommen!« »Kommen sie wirklich?« sagte der alte Lehrer, der an seinem Schreibpult saß und schrieb. »Mutter, gib mir meinen schwarzen Rock und hole von deinem schönen Honig; hole alles, was du hast.« Die Mutter trippelte davon, ging aber zunächst an die Haustür, wo die drei Mädchen unschlüssig standen und nicht wußten, ob sie nähertreten sollten oder nicht.

»Wollen die drei Fräuleins uns nicht die Ehre erweisen?« sagte die Frau mit einem tiefen Knix. »Wenn Sie es erlauben«, sagten die Mädchen, ebenfalls knixend. »Oh, wie gern«, war die Antwort. »Kommen Sie doch herein; Annchen hat schon immer darauf gewartet, daß Sie kommen sollten.«

Annchen stand verlegen am Fenster, wurde aber ganz rot vor Freude, als nun endlich der ersehnte Augenblick gekommen war, daß sie Emmi, Nanni und Miezi, von denen sie schon so viel gehört hatte aus den Briefen ihres Bruders, ganz in der Nähe, in ihrem eigenen Hause sehen sollte.

»Setzen Sie sich aufs Sofa, bitte, meine kleinen Fräuleins; ich bringe eine Tasse Kaffee und frischen Honig dazu.« Die Mädchen sahen sich an und wußten gar nicht, wem sie diesen freundlichen Empfang zu danken hatten. Nun kam der alte Lehrer in seinem schwarzen Sonntagsrock und begrüßte sie. »Wer ist nun Emmi?« sagte er lächelnd, »und wer Nanni und Miezi?« Woher wußte er nur so genau ihre Namen? »Sie sind so gut gegen meinen Georg«, sagte der alte Mann, »wir können es Ihnen nie genug danken. Wir wissen recht gut, daß er durch Sie in Ihr Haus gekommen ist, wo er sich so sehr wohl fühlt –« »Ja, so sehr wohl«, bestätigte Frau Koch; »welche Erleichterung ist es für uns, er kostet uns nicht halb so viel.« Jetzt war das Staunen über die Mädchen gekommen. »Unser – unser Herr Koch – ist wohl Ihr Sohn?« »Natürlich«, war die Antwort, »er hat uns geschrieben, daß Sie auf dem Schloß in Tiefensee wären; seitdem hat Annchen jeden Tag aufgepaßt, ob sie Sie wohl sehen würde, und ob Sie uns wohl besuchen würden.«

»Ja, wir wußten es gar nicht, daß dies Buchenau sei«, rief Emmi, »warum hat uns Herr Koch nicht gesagt, daß seine Eltern hier wohnten?« »Er hat es erst am letzten Tag von Ihrer Reise gehört«, sagte Frau Koch entschuldigend, indem sie den Kaffeetisch deckte. »Er wollte auch nicht aufdringlich sein.« »Ach nein, er ist so sehr bescheiden«, sagte Miezi, die immer für ihn eintrat. »Wir haben ihn alle so gern, viel lieber als den wirklichen Herrn Koch, der Vikar bei Vater ist.«

»Es freut mich, es freut mich«, sagte seine Mutter; »er ist auch ein guter Junge, der Georg.« »Nur so furchtbar hager«, fügte Miezi mitleidig hinzu. »Aber ein wenig dicker wird er schon«, schaltete Nanni ein; »das machen die guten Freitische, die Großmutter ihm verschafft hat.« »Ach, die liebe Großmutter, mein Sohn verehrt sie aufs höchste, wenn ich ihr nur einmal eine rechte Freude machen könnte.« »Warten Sie, Honig ißt sie sehr gern«, riet Nanni. »Gut, sie soll eine große Büchse mit Honig haben; aber nun essen Sie auch, meine lieben Fräuleinchen, essen Sie auch; ich freue mich ja so, wenn es Ihnen schmeckt.« – Die alten Leute wußten gar nicht, was sie ihnen alles zulieb tun sollten.

»Auf dem Schloß ist freilich alles viel schöner und besser, bei uns ist es nur sehr einfach. Die Schulstelle ist nur klein, und das Studieren kostet viel Geld, aber der Georg war so sehr klug, da riet uns der Pfarrer selbst, ihn studieren zu lassen.« »Er ist auch sehr fleißig«, bemerkte Miezi.

»Jetzt wird es uns ja sehr erleichtert, weil Georg bei Ihnen wohnt und die schönen Freitische hat. Ich habe mir immer gewünscht, ich könnte einmal zu Ihnen kommen und der Großmutter und auch dem Herrn Vater danken, aber die Reise ist zu weit und zu teuer.« So plauderte die Alte, während die Mädchen sich das schöne Landbrot mit dem Honig wohlschmecken ließen. Der alte Herr brachte eine schöne Bilderbibel und Photographien, um den Besuch zu unterhalten, bis dieser erklärte, sie müßten zurück, Fräulein von Langen erwarte sie. »Nur unsere weißen Täubchen müssen wir noch zeigen, nicht wahr, Vater?«

»O wie reizend, solche Täubchen haben wir uns immer gewünscht, wie wunderhübsch, wie entzückend!« »Sie bekommen welche! Wenn Sie abreisen, gebe ich sie Ihnen mit.« »Nein, Mutter, wir geben sie Georg mit, für die kleinen Fräuleins ist es zu lästig. Georg kommt ja, wenn das Semester zu Ende ist.« »Aber zum Herbst muß er wieder bei uns wohnen.« »Wenn er Ihnen nicht lästig wird«, sagte Frau Koch. »Nein, im Gegenteil«, sagte Emmi höflich, »er ist uns sehr angenehm.« Sie nahmen Abschied mit dem Versprechen, bald wiederzukommen.

»O Josepha, was wir erlebt haben!« riefen alle wieder zu gleicher Zeit und erzählten nun mit Feuer und Eifer, daß sie Herrn Kochs Eltern kennengelernt hätten, und wie freundlich sie aufgenommen worden seien.

»Ich dachte es mir schon«, lachte Josepha. »Wußtest du es?« »Nun ja, ich wußte, daß Kantors einen Sohn haben, der studiert. Daß er bei euch wohnt, habe ich erst gestern erfahren, darum schickte ich euch heute hin.«

Am nächsten Morgen ging Josepha, während die Mädchen bei Tante Agnes blieben, in die Pfarre. Die alten Leutchen saßen miteinander in der Weinlaube beim Abendbrot. »Lassen Sie sich nicht stören; ich wollte nur gratulieren«, sagte Josepha. »Danke, danke, mein liebes, gnädiges Fräulein«, sagte der Pfarrer. »Nicht so, Herr Pfarrer, für Sie bleibe ich immer ›Josepha‹, Sie habe mich ja konfirmiert. Ist Albrecht – wollte sagen Herr Professor, schon auf der Reise?« »Ja, gestern ist unser Sohn abgereist nach Italien in Begleitung zweier Freunde. Wir gönnen ihm diese Erholung nach der anstrengenden Arbeit. Aber es ist ja alles wohlgelungen und die Ernennung zum Professor ist vor acht Tagen erfolgt.« »Kommt er noch zu Ihnen in diesem Jahr?« »Vor Weihnachten wohl nicht, aber dann gewiß.«

»Dann gewiß«, wiederholte Josepha, als sie langsam nach Hause ging. Warum kam er nie mehr im Sommer, wenn sie auf dem Gut waren? Sie hatten sich immer so gut verstanden, sie hatte hoch aufgesehen zu dem klugen, geistreichen Mann, der noch so jung war und schon so bedeutend. Wie schade, daß er nicht kam, sie hätte ihm so gerne selbst gratuliert zu seiner neuen Würde.

Die Mädchen saßen mit Tante Agnes im Mondschein auf der Terrasse und warteten mit Sehnsucht auf Josepha. Sie eilten ihr entgegen, umschlangen sie und baten stürmisch um eine Gondelfahrt auf dem Wasser im Mondschein. Josepha hatte es immer versprochen und war freundlich bereit, ihr Versprechen zu erfüllen.

Sie meinten beim Schlafengehen, ein Tag sei immer schöner als der andere; sie wünschten, die Ferien möchten gar kein Ende nehmen.


 << zurück weiter >>