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29. Kapitel. Bruder und Schwester

»Meine liebe Frau Elsner, Sie noch immer hier«, sagte Frau von Wrede traurig, als sie aus dem Krankenzimmer trat und die Großmutter am Fenster stehend, fand. »Ich bleibe auch hier und helfe Ihnen bei der Pflege.«

Frau von Wrede sah überrascht und ängstlich aus. »Ich glaube, da das Bewußtsein wiedergekehrt ist, wird niemand außer mir das Krankenzimmer betreten dürfen.« »Liebe Frau von Wrede, ich stehe Ihrem Vater fast ebenso nahe wie Sie ich bin seine Schwester! Lassen Sie mich bei ihm; es ist mir vielleicht vergönnt, dem armen Mann Beruhigung und Frieden zu bringen.« Frau von Wrede stand da und konnte kein Wort hervorbringen, so überrascht und erschrocken war sie über das, was Frau Elsner sagte. Diese legte ihre Hände auf die Schultern der schwergeprüften Frau. »Es ist so, wie ich sagte, meine liebe Nichte, denn das sind Sie, und als solche habe ich Sie schon lange angesehen. Ihr Vater hat an mir nicht recht gehandelt, weiter will ich jetzt nichts über die Angelegenheit sagen; es soll vergeben und vergessen sein; ich bin nicht gekommen, ihn zu ängstigen, sondern ihm Liebes und Gutes zu erweisen. Lassen Sie mich zu ihm.« Frau von Wrede konnte nach dem, was sie eben gehört hatte, der Großmutter den Eintritt nicht verwehren, doch war sie natürlich voll Besorgnis, wie die Begegnung ablaufen werde.

Frau Elsner betrat leise das Gemach, in dem der Kranke lag. Ein dumpfes Stöhnen ließ sich vernehmen. Beim Geräusch, das die Tritte verursachten, wendete er langsam das Haupt. Eine Seite war gelähmt, aber die Sprache fand sich nach und nach wieder. »Therese«, murmelte er. »Du hast mich erkannt, lieber Bruder.« Sie stand jetzt vor ihm und ergriff seine Hand. »Ich bin nur hier, um dir zu sagen, daß alles, was zwischen uns gestanden hat, vergessen ist, daß ich, die ich früher die Hüterin deiner Kindheit war, nun hier bin, um dich in deiner Krankheit pflegen zu helfen.« Er antwortete nur durch ein abermaliges Stöhnen, machte aber keine abwehrende Bewegung, ließ es sich auch gefallen, die von der Schwester ihm gereichte Medizin einzunehmen. Sie mochte wohl etwas Betäubendes haben, denn er verfiel bald darauf in einen festen Schlaf.

Es war unterdes Abend geworden, und die beiden Frauen saßen beim Schein der Lampe in Frau von Wredes Wohnzimmer. Die Türen zu Herrn Goldeweins Zimmer waren alle geöffnet, so daß sie hören konnten, wenn der Kranke etwas bedurfte.

Frau Elsner erzählte ihrer Nichte von ihrem Leben in Holland, von ihrem Gatten und seinem frühen Ende, von der einzigen Tochter, durch deren Heirat mit einem Deutschen sie wunderbarerweise wieder nach Deutschland gekommen sei. Und wie sie nun hier einen weitumfassenden Beruf gefunden habe im Hause ihres Schwiegersohnes. Frau von Wrede erzählte von ihren Schicksalen, und so kam es, daß die beiden sich innerlich immer nähertraten und die förmliche Anrede bald dem vertraulichen »Du« wich.

Ihre Mitteilungen wurden unterbrochen durch Herrn Pfarrer Bruger, der versprochen hatte zu kommen. »Hier finden Sie es traurig, Herr Pfarrer«, sagte Frau von Wrede, »mein armer Vater –«

»Ich weiß, ich weiß«, war Brugers ernste Antwort, »eben deshalb komme ich.« Er begrüßte Frau Elsner, seine alte Freundin, herzlich und fragte, ob Herr Goldewein bei Bewußtsein sei, ob man wünsche, daß er ihn einmal besuche. Frau von Wrede wollte es wohl gern, aber vorderhand war nicht daran zu denken; der Kranke mußte darauf geführt werden und selbst das Verlangen aussprechen. Frau Elsner reichte Bruger die Hand: »Heute abend bedürfen wir des Trostes und des geistlichen Zuspruchs, lieber Bruger, ich habe Ihnen viel zu sagen.«

Frau von Wrede mußte nach dem Kranken sehen; als sie das Zimmer verlassen hatte, sprach Bruger sein Befremden darüber aus, daß die Großmutter hiergeblieben sei, worauf ihm diese offenbarte, in welchem Verhältnis sie zu dem Kranken stehe. Bruger war natürlich ebenso erstaunt wie es Frau von Wrede gewesen. Er sagte nur: »Zwei Geschwister – und so verschieden!«

Frau Elsner hielt es für angemessen, dem Geistlichen des Ortes alles zu sagen, was sich zwischen ihr und dem Bruder zugetragen hatte. »Für mich«, schloß sie ihre Erzählung, »hat das mir zugefügte Unrecht nur Segen gebracht, ich bin durch alles Schwere, das mir daraus erwuchs, immer mehr zu Gott geführt worden, habe in Ihm volle Genüge gefunden und mich nicht nach den Schätzen dieser Welt gesehnt. Für die Meinen hätte ich gern etwas mehr gehabt, und jetzt, da die heranwachsenden Kinder viel kosten und es meinem Schwiegersohn oft schwer wird, für alles aufzukommen, da möchte Großmutter gern mitunter in den vollen Säckel greifen, aber es ist besser so. Für die Kinder ist es auch gut, wenn sie einfach und bescheiden erzogen werden. Meine Hauptsorge und mein Gebet zu Gott ist jetzt, daß mein armer Bruder sich noch in der letzten Stunde zu dem wenden möge, der Erbarmung und Gnade für den Sünder hat, der sich zu Ihm bekehrt.«

Pastor Bruger zuckte die Achsel. »Wer sich in seinem ganzen Leben mutwillig von Gott abwendet, für den ist oft kein Raum zur Buße gelassen. Aber wir wollen und dürfen nicht richten, sondern alles Gericht dem überlassen, der barmherzig und gnädig ist.« Sie sprachen lange ernst zusammen; zum Schluß fragte Frau Elsner den jungen Mann, wie es ihm gehe, ob er Freude an seinem Beruf habe und ob er gern seines Amtes walte. Der Pfarrer bejahte alle diese Fragen, auch sein leibliches Wohlbefinden rühmte er, nur das Haus sei so groß und öde, er fühle die Einsamkeit so sehr.

Die Großmutter ergriff seine Hand und sah ihm in die Augen. »Mein lieber Freund«, sagte sie mit mütterlichem Ton, »mögen Sie sich denn nicht zum Heiraten entschließen; sollte sich hier in Beckedorf nicht eine Jungfrau finden, die tüchtig und geschickt wäre, Ihnen als Pfarrfrau zur Seite zu stehen? »Wenn ich die, welche meinem Herzen teuer ist, nicht zu erringen vermag, will ich die Einsamkeit weiter ertragen«, sagte er traurig. »Also immer noch! mein lieber Bruger, Ihre Liebe ist echt.« Sie ergriff wieder seine Hand. »Wenn mich meine Beobachtungen nicht trügen«, fuhr sie fort, »so dürfen Sie nicht alle Hoffnung aufgeben, harren Sie noch ein wenig. Ich glaube, es ist in dem Herzen meiner Enkelin etwas erwacht, das Sie zu Hoffnungen berechtigt.« »Glauben Sie, meine teure Frau Elsner?« Mit diesen Worten zog er ihre Hand an seinen Mund. »Wenn dem so ist, so will ich gern warten.« »Tun Sie das, lieber Bruger, Gott der Herr wird Ihnen Zeit und Stunde offenbaren und dann – fragen Sie noch einmal an in Gottes Namen.«

In den Augen des Pfarrers leuchtete es auf. »Ich danke Ihnen, Großmütterchen«, sagte er leise, denn eben trat Frau von Wrede ein und winkte Frau Elsner, in das Krankenzimmer zu kommen. Bruger verabschiedete sich mit dem Versprechen, morgen wieder einzusehen.

Es war nicht mehr nötig. Die Nacht war so schwer, daß die beiden Frauen nicht mehr allein fertig werden konnten.

»Wenn wir nur noch eine Hilfe hätten«, seufzte Frau von Wrede. Plötzlich kam der Großmutter ein Gedanke.

»Kannst du einen Augenblick allein bleiben bei deinem Vater? Ich hole jemand zum Beistand.«

»Du bist hier fremd, ich lasse dich nicht in der Dunkelheit hinaus, auch hat mein Vater sich hier keine Freunde erworben; ich glaube schwerlich, daß sich jemand dazu verstehen wird, dir zu folgen«, flüsterte Frau von Wrede.

»Ich bin nicht so fremd, wie du denkst; ich kenne sogar eine Frau in der Nähe, die mir meine Bitte nicht abschlagen wird.«

Mit diesen Worten verschwand Frau Elsner. Sie eilte über den Hof, gelangte durch die kleine Pforte auf die Straße, und wenn es auch finster war, so erkannte sie doch die dunklen Umrisse des kleinen Häuschens von drüben. Es kam sogar, obgleich es in der zwölften Stunde war, noch der Schein eines Lämpchens aus den kleinen Fenstern; dicht aneinander gestellte Blumentöpfe verwehrten den Einblick durch dieselben. Frau Elsner klopfte an die verschlossene Haustür, es hörte niemand. Sie wollte ungern die Alte erschrecken, aber da die Angst ihres Herzens groß und keine Zeit zu verlieren war, so pochte sie herzhaft gegen die Fensterscheiben. Sie hörte das Rücken eines Stuhles, sah wie die Blumen vor dem ersten Fenster vorsichtig auseinander gebogen wurden und ein Frauenantlitz sichtbar wurde.

»Machen Sie auf«, bat die Großmutter, »ich möchte mit Ihnen sprechen.« Als die Alte sah, daß sie es mit einem weiblichen Wesen zu tun hatte, schwand die Furcht aus ihren Mienen, langsamen Schrittes ging sie zu öffnen.

»Gute Frau«, bat nun Frau Elsner, »Frau Hauptmann von Wrede möchte gern einen Beistand. Ihr Vater, der Herr Goldewein, liegt schwer krank, unsere Kräfte reichen nicht aus, ihn zu handhaben.«

»Wenn Herr Goldewein krank liegt, so habe ich nichts bei ihm zu schaffen. Seitdem er mir die Tür gewiesen, als ich ihm vor vielen, vielen Jahren einmal die Wahrheit sagte wegen der Schwester, überschreite ich seine Schwelle nicht mehr. Seine Tochter, die fast nie zum Vorschein kommt, kenne ich wenig.« Damit ging sie in ihr Stübchen, hoffend, daß der unliebsame Gast, der ihr fremd war, sich um so eher entfernen werde und sie das Haus wieder schließen könne. Doch Großmutter ließ sich nicht abweisen. Sie folgte ihr ins Zimmer und stand einen Augenblick regungslos in der Tür, weil sie auch hier von Erinnerungen aus der Kindheit umgeben war. Da stand das steifbeinige, mit schwarzem Leder überzogene Sofa, ihm gegenüber der braun angestrichene Schrank mit den Glastüren, hinter denen buntbemalte Tassen, Töpfe und Teller, zierlich aufgestellt, zu sehen waren. Zwischen den beiden Fenstern befand sich ein derber Tisch aus Tannenholz, auf dem eine kleine Lampe brannte. Eine aufgeschlagene Bibel, mit einer Hornbrille daneben, bewies, daß das Mütterchen eben ihren Abendsegen gelesen hatte. Beim Schein der Lampe bemerkte Frau Elsner alle die ihr wohlbekannten Gegenstände, und je mehr sie der Alten ins Gesicht sah, desto mehr erkannte sie die Spielgefährtin ihrer Kindheit wieder.

Mißtrauisch sah die Alte zu ihr, die ein großes Tuch um den Kopf geschlungen hatte, auf, und sagte in mürrischem Ton: »Daß ich auch gerade heute solange aufbleiben mußte! Sie haben das Licht gesehen und dachten, Sie wollten den ersten Besten zu Hilfe rufen. Nein, gehen Sie nur, Frau, in das Haus tragen mich meine Füße nicht mehr, vollends nicht zur Nachtzeit.«

Da nahm Frau Elsner das Tuch ab, ergriff der Alten Hand, sah ihr fest in die Augen und sagte in ihrem weichsten Ton: »Kathrinlein, wenn ich dich bitte, gelt, dann kommst du mit?«

»Kathrinlein« hatte sie scherzweise nur eine genannt, das war ihre Jugendfreundin, das Thereschen von drüben gewesen – halt! Sie sah sie prüfend an. Diese Augen! Waren es nicht alte Bekannte? Ihre eigenen Augen wurden immer größer, es war, als wollte sie Zug um Zug prüfen, ob es möglich sein könnte! – »Thereschen?« sagte sie fragend, noch immer halb zweifelnd. »Thereschen, die den Elsner geheiratet hat und mit ihm in die weite Welt gehen mußte, weil – Barmherziger Gott, ist es möglich oder kommt ihr Geist in dieser Nacht, um sich an dem Alten zu rächen?«

»Die Rache ist mein, Ich will vergelten, spricht der Herr. Es ist nicht mein Geist, Katharina, ich lebe noch und bin es selber«, sagte Frau Elsner ernst. »Gottes Wege sind wunderbar. Ich meinte in der Fremde zu sterben, nun bin ich durch meine Tochter, die einen deutschen Pastor heiratete, wieder ins Land gekommen, und zwar in die Nähe von Beckedorf. Wie ich mit der Familie meines Bruders zusammengekommen bin, erzähle ich dir ein anderes Mal, wenn wir Zeit zum Plaudern haben werden. Heut wiederhole ich nur die Bitte: ›Begleite mich und hilf uns, den alten Herrn in seiner schweren Krankheit zu pflegen, willst du?‹«

»Wie können Sie da noch fragen. Ich müßte ja geprügelt werden, wenn ich mein Thereschen im Stich ließe. Für Sie gehe ich durch Feuer und Wasser, das ist doch gewiß!«

»Gute Katharine, ich wußte es ja. Dann mache dich schnell fertig.« Die Alte trippelte in die Kammer, holte sich eine neugewaschene Schürze und ein Tuch, schüttelte dabei fortwährend den Kopf und sagte vor sich hin: »Wie ist es möglich! Wie ist es möglich! Ich sag' es immer, es geschehen noch Wunder. Ach, mein Thereschen, ich komme ja schon; es geht nicht mehr so schnell die Stufen hinunter wie damals! Wissen Sie noch?«

»Katharine, bist du denn immer dein Leben lang in Beckedorf geblieben?« fragte die Großmutter, als sie miteinander nach drüben gingen.

»Behüte, Frau Elsner. Ich habe gedient, lange gedient, immer bei einer Herrschaft, weit von hier. Als meine Eltern starben und mir das Häuschen hinterließen, bin ich heimgekehrt und habe mir im Städtchen etwas verdient mit Waschen und Plätten, Kochen und Krankenpflege, nun nehmen die Kräfte allmählich ab, und ich danke Gott, daß er mir soviel gegeben hat, daß ich auf meine alten Tage nicht Not zu leiden brauche.«

Sie waren drüben und begaben sich leise ins Krankenzimmer. Es war gut, daß sie kamen; der Kranke war sehr unruhig, man konnte ihn kaum im Bett halten. Frau von Wrede war dankbar, daß die Großmutter eine so gute Stütze herbeigeholt hatte, denn wenn Katharine auch alt war, hatte sie doch über mehr Kräfte zu verfügen als die Damen. Herr Goldewein erwachte nicht wieder zum Bewußtsein. Um sechs Uhr morgens war alles vorüber.

Frau Elsner war tief erschüttert. Das war das Ende des Bruders, an den sie immer mit Wehmut gedacht, von dem sie seit einigen Jahren wußte, daß er noch lebte, aber leider mit denselben Gesinnungen, die er ihr gegenüber geltend gemacht hatte. Nun war er dahin, ohne Liebe gesäet und geerntet zu haben. Was hatte es ihm genützt, daß sein Lebenszweck gewesen war, Geld zu hüten und die Seinigen zu quälen. Es war, als ob mit seinem Tode eine große Last sich löste von dem Herzen der gepeinigten Tochter. Sie hatte fast keine Tränen für den Vater; ebenso erging es Meta und Martin.

Frau Elsner hatte den Wunsch, jetzt abzureisen, versprach aber, heute noch wiederzukommen und bei Frau von Wrede zu bleiben, bis die Bestattung vorüber sei.

Der gestrige Sturm hatte nachgelassen, es war ein schöner, sonniger Herbsttag. Als Großmutter nach Hause kam, war alles wie ausgestorben, aber dort vom Hofe her tönte fröhliches Lachen. Sie kam aus dem düstern Hause des Todes; hier herrschte frisches Leben. Die Kinder, groß und klein, waren um ein paar weiße Täubchen versammelt, die Herr Koch, der Hausfreund, aus Buchenau von den Eltern mitgebracht hatte. Die größeren Mädchen hatten ein Körbchen mit Futter und streuten es den kleinen, scheuen Tierchen hin, um sie kirre zu machen. Die Kleinen klatschten in die Hände und freuten sich, sogar der Vater stand und schaute zu, während Philipp im Stall beschäftigt war, um ein Unterkommen für sie herzurichten. Niemand merkte das Kommen der Großmutter; sie setzte sich unter den Akazienbaum, um auszuruhen, denn sie war müde.

Welch ein freundliches Familienbild; wie war hier alles dazu angetan, die düstern Schrecken des Todes zu verwischen, der warme Sonnenschein, die fröhlichen Kinder, selbst der Schwiegersohn, der gewöhnlich in Bücher Vergrabene, wie herzlich konnte er lachen über die Freude der Kinder, wie behaglich saß er dann in dem bequemen Gartenstuhl, seine lange Pfeife rauchend.

»Großmütti!« rief auf einmal eins der Kinder; im Nu verließ alles die Täubchen, die aufgescheucht davonflogen, und Frau Elsner war umringt von der ganzen Kinderschar, die auf ihren Schoß kletterten, sie liebkosten und riefen: »Nun darfst du nicht wieder fort, Großmutter.« »Es ist gar nicht hübsch, wenn du nicht da bist.« »Bitte, mir auch einen Kuß, Großmütterchen.«

Sie hatte Liebe gesäet und erntete Liebe, wie glücklich war sie.

Auch das kleine Mariechen war dem Beispiel der Pfarrerskinder gefolgt und hatte sich herangedrängt an die Großmutter. »Mein liebes Kind«, sagte diese und zog sie näher an sich heran; »ich habe dir etwas Trauriges zu sagen, dein Großvater ist gestorben.« Statt betrübt zu sein, rief die Kleine: »Oh, dann braucht Mutti nicht mehr so viel zu weinen, nun kann er nicht mehr schelten.« Nach einem Weilchen äußerte sie: »Kann denn Mutti nicht auch herkommen, hier ist es so schön.« »Du kannst noch ein wenig hier bleiben, aber Großmutter geht auf ein paar Tage nach Beckedorf zurück, dann kommt sie mit Mutti, die dich holt.«

Der Oberpfarrer hatte, nachdem die Kinder sich zerstreut hatten, viel zu fragen. Es war ihm neu, daß Frau Elsner, die einzig und allein für seine Familie gelebt hatte, noch andere verwandtschaftliche Beziehungen hatte. Er beklagte mit seiner Schwiegermutter das schnelle Ende ihres Bruders, dessen Bewußtsein nicht wieder so klar geworden war, daß ein Geistlicher ihn hätte auf das Ende vorbereiten können. Nur soviel hatten die beiden Frauen wahrgenommen, daß er gern etwas hatte sagen wollen, aber nicht dazu imstande war, da die Zunge aufs neue gelähmt war. Nur die eine Hand hatte er erhoben und mit derselben nach dem Eckschrank gezeigt, ein paarmal; dann hatte er eine stumme Gebärde nach Frau Elsner gemacht, so daß beide Frauen überzeugt waren, es müsse in dem Schrank etwas sein, das Bezug auf die Großmutter habe. Doch mochten sie vorderhand nicht an eine Räumung des Schrankes denken; es würde ja alles zu seiner Zeit offenbar werden.


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