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Acht Weihnachten waren vergangen, und nun war's Ostern. Der Pfarrer von Dornburg weilte längst nicht mehr dort; er war schon seit mehreren Jahren in die Hauptstadt berufen, als Oberpfarrer an der Nikolaikirche. Das Röschen war ein großes, schlankes Mädchen geworden; das urwüchsige, kräftige Wesen hatte sie behalten. Sie hatte einen feinen Kopf zum Lernen, war in der höheren Töchterschule immer eine der Ersten gewesen und wußte auf alles zu antworten, wenn sie gefragt wurde. Sie war überhaupt nicht um Antworten verlegen, konnte keck und vorlaut sein, so daß die Mutter oft klagte: »Ihr Wesen ist nicht wie es sein muß, sie ist für ihre Jahre zu naseweis, wo lernt sie nur Sittsamkeit und Bescheidenheit?« Die Großmutter gab den Rat, sie ein Jahr in eine Pension zu geben, weit fort. Es sei jedem jungen Mädchen gut, in andere Verhältnisse zu kommen, sie lerne das Elternhaus schätzen und nehme in der Fremde leichter an, was ihr fehle, als daheim. So wurde hin und her überlegt, bis schließlich das Pensionat von Fräulein Hochberg in A., das in einem sehr guten Ruf stand, für Röschen auserwählt wurde. Sie sollte nach ihrer Konfirmation ein Jahr dort zubringen, man hoffte das Beste davon. Das Pensionat in A. lag fern von der Heimat, es gab viele Tränen zum Abschied. Aber ein Jahr eilt schnell dahin, ehe Röschen es sich versah, war Ostern vor der Tür, und die Aussicht, wieder in die Heimat zu kommen, belebte sie sehr. Wir müssen nun einkehren in Fräulein Hochbergs Pensionat.
Ein großes, schönes Haus, umgeben von einem hübschen wohlgepflegten Garten, liegt in einem der Vororte von A. Nach der Rückseite zu ist das Haus von Bergen begrenzt, nach vorn hat man einen freien, weiten Blick über den Strom, über Felder, Gärten und Wiesen. Aus einem der geräumigen Erdgeschoßzimmer dringt lautes, fröhliches Geplauder, und doch sind bereits zehn der Pensionärinnen abgereist, um die Osterferien daheim zu verleben oder, wenn die Erziehung vollendet, das Pensionat für immer zu verlassen. Nur die fünf letzten, die eine längere Fahrt haben, werden erst mit dem Frühzug des nächsten Tages die Heimreise antreten. Werfen wir einen Blick in das Zimmer. In der Mitte stehen mehrere lange Tische mit Tintenfässern, Büchern und Schreibmaterialien bedeckt. An den Wänden hängen große Landkarten, auch einige Schränke stehen dort zum Aufbewahren von Schreibgeräten. Die Fenster sind mit grauen Zuggardinen versehen, große, hochlehnige Stühle stehen um die Tische herum oder sind daruntergeschoben. An einem der Tische sitzen fünf Mädchen, anscheinend mit einer schriftlichen Arbeit beschäftigt. Die Schule war allerdings schon geschlossen, aber da die Aufsichtslehrerin erkrankt war und verschiedene andere hatten Pensionärinnen begleiten müssen, so sah sich Fräulein Hochberg veranlaßt, diesen Fünfen noch eine kleine Arbeit zuzuerteilen, um so die allzugroße Aufregung und Munterkeit zu dämpfen. Plötzlich springt die eine auf und läuft, den Federhalter in der Hand, ans Fenster. Mit den Worten: »Kinder, ich halt' es nicht mehr aus in der dumpfen Stube«, zieht sie den Fensterknopf in die Höhe, ein Ruck – und der Flügel ist geöffnet.
»Herrliche Luft da draußen, Thea, komm bitte, stecke die Nase einmal hinaus, es ist köstlich, sage ich dir.« – Sofort war die Gerufene, ein kleines schwarzäugiges Mädchen von untersetzter Gestalt, an ihrer Seite. »Es ist ja Unsinn, daß wir hier noch arbeiten müssen«, riefen sie beide wie aus einem Munde. »Ich schreibe keinen Federstrich mehr – da!« Mit diesen Worten warf Röschen, denn sie war es, den Federhalter aus dem Fenster. »Aber Röschen! Nun kannst du ja deine Arbeit nicht mehr machen«, sagte ihre Nachbarin, und eine Stimme vom Tisch her rief: »Pfui, Röschen, die letzte Arbeit bei Fräulein Hochberg! Überhaupt deine letzte Arbeit hier in der Pension, du solltest dich schämen.« »Unüberlegt wie immer«, lachte eine andere. Ja, unüberlegt war es, das mochte wohl unser Röschen selbst einsehen, doch – Federhalter gab es ja noch genug im Schulzimmer, um dieses kleinen Gegenstandes willen wollte sie sich den schönen Frühlingstag nicht verbittern lassen. »Komm, Thea, laß uns die schöne Frühlingsluft genießen.« Mit diesen Worten umschlang sie ihre Gefährtin. Beide beugten sich weit aus dem Fenster und plauderten von allem Schönen, was sie daheim erleben würden. Thea vom Immenhoff kehrte auf das Gut ihrer Eltern zurück und träumte von den Sommervergnügungen, denen sie entgegengehen würde. Röschen erzählte von dem großen Geschwisterkreis, wie sie mit den Schwestern in den nahen Wald gehen wollte und mit Philipp, dem ältesten und einzigen Bruder, umherstreifen. Das Leben lag vor ihnen so rosig und schön, sie ahnten nicht, daß es auch sein Schweres haben konnte.
»Was denkt ihr beide euch eigentlich bei der unvollendeten Arbeit, wollt ihr wirklich Fräulein Hochberg mit einem Bruchstück unter die Augen treten?« sagte dasselbe Mädchen, das erst schon gewarnt hatte. »Das laß unsere Sorge sein, Frau Polizeimeisterin« war Theas schnelle Antwort, doch ein Blick auf die Uhr mochte ihr zeigen, daß es höchste Zeit sei, zur Pflicht zurückzukehren, denn sie sagte halblaut zu Röschen: »Wir müssen eilen, in einer Viertelstunde kann Fräulein Hochberg hier sein.« Mit einem Satz sprang Röschen vom Fensterbrett und ging an den Tisch zurück. Ihr wurde keine Arbeit schwer, so war es auch mit dieser schnell vorwärts gegangen, aber ein Stück, der Schluß, fehlte noch. Sie eilte an die Schulschränke, um sich dort einen beliebigen Stahlfederhalter zu holen. Aber, o weh! sie waren verschlossen, einer nach dem andern. »Könnt ihr mir nicht aushelfen?« bat sie kleinlaut die Mitschülerinnen, die alle nicht in der Lage waren. Sie hatten zufällig nur einen Halter, und den brauchten sie selber. »Warum bist du so unvernünftig«, schalt Olga, die schon zweimal gewarnt hatte, »nun sieh, wo du bleibst.« Traurig ging Röschen ans Fenster zurück und sah hinaus. Ja, da lag der Halter mitten im Wege. Wenn sie doch winken könnte. Oder wenn doch jemand käme, der ihn hinaufreichen könnte! Es war niemand zu sehen – ein schneller Entschluß – weg war sie! »Wo ist Röschen geblieben?« fragte eben Thea, und sah verwundert nach dem Fenster. Da tauchte der blonde Kopf eben über der Fensterbrüstung auf; der Federhalter flog in die Stube und ihm nach das Mägdlein. Schnell schloß sie das Fenster, eilte an ihren Platz, und als sie eben das Buch aufschlug, um weiterzuschreiben, öffnete sich die Tür. Die Vorsteherin des Pensionats trat ein. Sie hatte etwas Hoheitsvolles, Achtunggebietendes in ihrem Wesen, ein Blick aus ihren dunklen, ausdrucksvollen Augen erzielte sofortige Ruhe, wenn sie in die Klasse trat. »Es war so laut hier«, sagte sie mit ernster, wohlklingender Stimme. Sie trat näher an den Tisch und sah die schreibenden Mädchen der Reihe nach an. Ihr Blick blieb auf Röschen haften, die in fliegender Eile das Versäumte nachzuholen suchte. »Mein liebes Kind«, fragte sie dieselbe, »warst du eben im Garten?«
Röschen senkte tief den Blick, ihr Gesicht war wie in Glut getaucht, sie stammelte ein leises »Ja.« »Was veranlaßte dich, auf diesem ungewöhnlichen und für dich unpassenden Wege dorthin zu gehen?« »Ich wollte meinen Federhalter wieder holen.« »Ich begreife nicht, wie der Federhalter, mit dem du hier am Tisch beschäftigt warst, durch die geschlossenen Fenster in den Garten gekommen ist, erkläre es mir.« Röschen rang die Hände krampfhaft unter dem Tisch, endlich stieß sie hervor: »Ich ging ans Fenster, öffnete es und sog die schöne Frühlingsluft ein und da – – da – – warf ich die Feder hinaus vor – lauter Übermut. «
»Und tatest weit mehr in deinem Übermut, sprangst selbst zum Fenster hinaus und klettertest wie ein wilder Junge wieder hinein.« – »Den Sprung habe ich aus Angst getan, nicht aus Übermut.« »Kind, Kind«, sagte Fräulein Hochberg kopfschüttelnd, »solche Streiche machst du am Vorabend deiner Entlassung, das tut mir sehr leid.«
»Wie weit seid ihr Mädchen mit euren Arbeiten?« »Gerade fertig«, riefen die vier. Fräulein Hochberg ließ sich die Hefte geben und sah sie durch. »Es ist gut, Kinder. Ich kam eigentlich, um euch zu sagen, daß ihr heute abend den Tee bei mir im kleinen Balkonzimmer trinken sollt, Fräulein Korff hat uns kleine Kuchen dazu gebacken.« Die jungen Mädchen ließen ein freudiges »O« hören und Röschen, die inzwischen mit ihrer Arbeit fertig geworden war, stand eilends auf, beugte sich zur Vorsteherin hernieder, küßte ihr die Hand und bat, ihr nicht böse sein zu wollen. »Ich möchte noch mit dir sprechen«, war die Antwort. »Jetzt kommt Fräulein Winter, sie wird ein Stündchen mit euch spazieren gehen. Du, Röschen, bringe mir dein Buch auf mein Zimmer.« Fräulein Hochberg ging, Röschen folgte mit traurig gesenktem Blick. Nun ging ihr der wunderschöne Spaziergang auch noch verloren!
»Jetzt wird es noch etwas geben!« »Warum ist sie aber auch so wild.« »Und so dumm! Fräulein Hochberg kann von ihrem Balkon aus alles sehen, was an unsern Fenstern vorgeht.« So schwirrte es durcheinander. Dann liefen die Mädchen, holten ihre Hüte und Jacken, und wanderten mit Fräulein Winter munter zum Gartentor hinaus. »Nach der Stadt, liebstes Fräulein Winter«, bat Thea, »ich möchte noch so gern einige Kleinigkeiten einkaufen für Eltern und Geschwister.« »Wir auch, wir auch«, stimmten die übrigen bei, »wir können ja mit der Pferdebahn fahren.« »Da es nun einmal ein Spaziergang sein soll, so werden wir gehen«, bestimmte Fräulein Winter. »Aber wie schade, daß Röschen nicht dabei ist, wo steckt sie denn?« fügte sie verwundert hinzu. »Da kommt sie schon«, rief Josepha von Langen, eine schlanke Blondine, »oh, wie mich das freut!« Thea aber lief ihr entgegen, und da sie die verweinten Augen von Röschen sah, fragte sie ängstlich, was es gegeben. »Gar nichts«, sagte Röschen, und dabei perlten ihr wieder die Tränen aus den Augen. »Fräulein Hochberg war so lieb und gut; sie hat mich so schön ermahnt, daß ich fest entschlossen bin, anders zu werden. Weißt du, Thea, dir will ich es anvertrauen, was ich zu meiner Rettung tun will. Ich will Lehrerin werden.« Thea brach in ein schallendes Gelächter aus. »Du, Lehrerin? Nein, Röschen, das kann wohl dein Ernst nicht sein.« »Doch, doch«, flüsterte Röschen, »beim Studieren kommt der Ernst des Lebens, da vergißt man alle Torheiten und wird, ohne daß man es merkt, ernst und gesittet. Ich möchte so gern Fräulein Hochberg ähnlich werden, das ist mein Ideal.« »Du sprichst ja weise wie ein Professor, nun komm aber, die andern sind uns weit voraus.« Mit schnellen Schritten hatten sie Fräulein Winter bald eingeholt, und lachend und plaudernd schritten die jungen Mädchen nun vor der Lehrerin her der nahen Stadt zu.
Das Pensionshaus hatte eine günstige Lage, in schöner lachender Gegend, von Bergen und Wald begrenzt. Die Kinder atmeten frische, reine Bergluft ein und konnten dabei die Vorzüge des Stadtlebens genießen. Das Einkaufen in der Stadt machte den jungen Mädchen immer großes Vergnügen, besonders heute, wo sie für die Ihrigen etwas mitzunehmen gedachten. Bald sah man sie in einem reich ausgestatteten Schmuckladen einkehren und dort allerlei Sachen aussuchen, womit sie Eltern und Geschwister zu erfreuen gedachten. Thea von Immenhoff und Josepha von Langen mußten über reiche Mittel verfügen, denn es kam ihnen nicht darauf an, wieviel die ausgewählten Gegenstände kosteten. Röschen und Olga mußten schon rechnen und überlegen, die fünfte aber, Meta, ein feines blasses Mädchen mit ovalem Gesicht, tiefblauen Augen und lichtblondem Haar, das in Flechten um den Kopf gewunden war, stand in der Ladentür und sah auf die Straße hinaus mit halb traurigem, halb verlegenem Ausdruck. »Nun, Meta«, sagte Fräulein Winter freundlich und trat zu ihr: »Willst du denn gar nichts kaufen?« Meta errötete, Tränen traten ihr in die Augen, als sie sich abwandte und sagte: »Ich darf nicht, mein Großvater hält so etwas für unnötig.« »Dein Großvater muß ein« – »Thea«, sagte Fräulein Winter verweisend und legte ihre Hand auf Theas Mund, »nicht so!« Thea schwieg, aber die andern Mädchen, die mit ihren Einkäufen fertig waren, flüsterten sich leise etwas zu, was weder Fräulein Winter noch Meta, die mit dieser ging, hörten. Sie besuchten noch mehrere Läden in der Stadt, in allen wurde etwas gekauft, nur Meta blieb entweder draußen und sah sich die Bilder an, oder sie stand abseits im Laden und betrachtete gleichgültig die schönen Sachen.
Auf dem Balkon des schönen Landhauses stand Fräulein Hochberg und schaute nach den Mädchen aus. Die Ruhe, die für gewöhnlich auf ihrem Angesicht lag, hatte einer Unruhe, ja einer gewissen Angst Raum gemacht. Sie hatte ein soeben eingetroffenes Telegramm in der Hand. Ruhelos ging sie vom Balkon durch die geöffneten Flügeltüren in das Zimmer zurück, das, mit aller Bequemlichkeit ausgerüstet, einen äußerst geschmackvollen und behaglichen Eindruck machte. In der Mitte war der Teetisch gedeckt; hier gedachte Fräulein Hochberg mit den fünf Mädchen den letzten Abend zu speisen und dann noch einige Stunden mit ihnen zu verleben. Und nun kam dies Telegramm, das Schrecken und Verwirrung brachte. Wenn doch Fräulein Winter mit den Mädchen käme! Sie hatte schon einen Boten nachgeschickt; aber er konnte sie nicht gefunden haben, sonst hätten sie längst hier sein müssen. Jetzt kamen sie plaudernd durch den Garten. Sie waren in fröhlicher, lebhafter Stimmung. Thea ging an Fräulein Winters Arm, sie schien etwas Lustiges zu erzählen, denn diese lachte sehr und rief: »Thea, höre auf, du machst es heute zu arg, sieh doch, Fräulein Hochberg wartet schon und winkt.« Die Vorsteherin stand wieder auf dem Balkon und bat Fräulein Winter, als sie näher kam, schnell zu ihr zu kommen. Es mußte etwas in Fräulein Hochbergs Blick und Haltung die letztere erschreckt haben, denn sie wandte sich an die Mädchen und sagte ernst: »Geht ins Klassenzimmer, legt eure Sachen ab und wartet, bis ich euch rufe. Ich glaube, Fräulein Hochberg will mich allein sprechen.« Die Mädchen gehorchten und standen schon lange bereit, als Fräulein Winter mit verstörter Miene eintrat und Thea winkte, ihr zu folgen. Befremdet sahen die vier andern Mädchen ihnen nach, sie wunderten sich, warum Thea allein zu Fräulein Hochberg gerufen wurde. Plötzlich ertönte ein lauter Schrei, dann war wieder alles still. Das Lachen und Schwatzen verstummte nun auch im Klassenzimmer; die Pensionärinnen sahen sich ängstlich an, eine sagte zur andern: »Es muß etwas passiert sein.« Bangigkeit durchzog die jungen Herzen, es herrschte eine gedrückte Stimmung, wie etwa bei einem heranziehenden, schweren Gewitter. Nun näherten sich Schritte; die Tür wurde geöffnet, Fräulein Winter erschien mit verweinten Augen. »Kinder, wollt ihr mir schnell helfen, unsere arme Thea muß in einer halben Stunde mit dem Schnellzug abreisen, ihr Vater ist plötzlich gestorben, wir wollen für sie einpacken.« Die betroffenen Mädchen waren natürlich zur Hilfe bereit. Wie plötzlich war nun die Freude in Trauer verkehrt! Alle wußten, mit welcher Liebe Thea an ihrem Vater hing, wie sie noch heute mit besonderer Sorgfalt Geschenke ausgesucht hatte, mit welchen sie ihm eine Freude zu machen gedachte. Nun sollte sie ihn nie wiedersehen. Wie ernst konnte doch das Leben sein. Und wie dankbar mußten sie sein, daß sie selber noch ihre Eltern hatten, außer Meta, die ihren Vater schon früh verloren hatte.
Thea hatte mit dem Packen ihrer Sachen heute schon fröhlich begonnen, nicht ahnend, daß andere Hände es für sie vollenden würden. Fräulein Winter nahm das schwarze Kleid, in welchem Thea im vorigen Jahr konfirmiert worden war, wieder aus dem Koffer und brachte es in Fräulein Hochbergs Zimmer, in welchem Thea, in eine Sofaecke gedrückt, schluchzend und weinend saß. Fräulein Hochberg veranlaßte sie, mit ihr ins Nebenzimmer zu gehen, um sich dort anzukleiden. Sie erhob sich, die Vorsteherin schlang ihren Arm um sie und suchte sie mit linden Worten zu trösten, während Fräulein Korff, die nimmer rastende Wirtschafterin der Anstalt, damit beschäftigt war, ein schwarzes Band um Theas runden Hut zu befestigen. Jetzt ließ sich der bestellte Wagen hören; Fräulein Winter erschien reisefertig; sie sollte auf der Vorsteherin Wunsch Thea begleiten. Diese war nun auch unter vielen Tränen zur Abfahrt bereit. Die Freundinnen standen traurig im Hausflur und streckten der Tiefbetrübten die Hände entgegen. Zu langem Abschied war keine Zeit. Auch konnte Thea nichts sagen, nur weinen. Die jungen Mädchen sahen die schwarze Gestalt in den Wagen eilen und davonfahren. »Kommt, Kinder«, sagte die Vorsteherin, als der Wagen außer Sicht war.
Sie folgten der Dame des Hauses langsam, ohne ein Wort zu sprechen, ins Balkonzimmer. Dort brannte eine helle Lampe auf dem Teetisch, es sah alles so freundlich und behaglich aus, und wenn nicht die traurige Botschaft dazwischen gekommen wäre, so wäre es nun ein vergnügter Abend gewesen. Fräulein Hochberg pflegte an solchen Abenden den Kindern als ältere Freundin zu begegnen und in ungezwungener Weise mit ihnen zu verkehren. Heute herrschte natürlich eine gedrückte Stimmung, es war zu jäh und unvorbereitet gekommen. Wie ganz anders hatte sich auch Thea den Empfang im elterlichen Hause vorgestellt.
Fräulein Hochberg sah sehr blaß und erregt aus, obwohl sie sich äußerlich zusammennahm. »Meine lieben Kinder«, sagte sie, »das ist ein trauriger Abschluß unseres Zusammenlebens. Ihr habt manche fröhliche Stunde miteinander verlebt, nun habt ihr mit der Freundin auch den Schmerz empfunden.« Dann sprach sie mit jeder eingehend über ihre Heimat und Angehörigen, fragte die Mädchen im allgemeinen, wie sie künftig ihre Zeit anzuwenden gedächten, und ermahnte sie alle, die Zeit nicht zu vertändeln, sondern etwas Nützliches zu schaffen, zur Ehre Gottes und zur Wohlfahrt des Nächsten.
»Und wenn ihr unsicher seid, wozu euch wohl Gott berufen, in welcher Art ihr ihm am besten dienen könnt, so seht auf das, was euch zunächst liegt, seht das als euren euch von Gott zugewiesenen Beruf an. Es werden jetzt oft die nächstliegenden Pflichten vergessen über dem Streben nach fernliegenden Dingen, in denen wir Ehre und Ansehen vor den Menschen suchen. Alles zur Ehre Gottes, nichts zum eigenen Ruhm, wollt ihr mir das versprechen? Wie die Blumen sich der Sonne verlangend entgegenstrecken, um von ihr Licht, Wärme, Wachstum und Gedeihen zu erlangen, so sollt ihr als Blumen im Garten Gottes euch der Sonne zuwenden, von der ihr täglich Licht und Leben empfangt, ohne welche ihr innerlich nicht wachsen und gedeihen könnt. Ihr wißt, wer unseres Herzens Sonne ist; wollt ihr eurem Heiland treu bleiben und ihn in eurem Leben bekennen?« Die Herzen waren heute weich, sie versprachen es alle; sie versprachen, der treuen Lehrerin und Erzieherin zu schreiben, auch wenn es möglich sei, sie einmal zu besuchen. Sie mußten sie alle lieb haben, auch die, welche ihre Strenge erfahren hatten, sie hatte etwas in ihrem Wesen, das jedem Liebe und Vertrauen einflößte.
Am andern Morgen frühzeitig war viel Leben und Bewegung im Pensionat. Koffer und Reisetaschen wurden von den Dienstbeflissenen ins Haus gebracht. Endlich erschienen auch die vier Mädchen reisefertig und verabschiedeten sich von Fräulein Hochberg, ihr nochmals dankend für alles empfangene Gute. Fräulein Korff geleitete die Jugend an den Bahnhof.
Fräulein Hochberg aber stand auf dem Balkon ihres Hauses und winkte den Scheidenden mit dem Taschentuch. Diese erwiderten die letzten Grüße der teuren Lehrerin auf das herzlichste, ehe sie die Gartenpforte durchschritten. Nun waren sie hinaus, ihren Blicken entschwunden. Sie blieb sinnend eine Weile stehen. Wieder vier, die ins Leben hinaustraten. Wie würde eine jede ihren Weg gehen? Würden sie fest bleiben in dem, was ihnen verkündigt war? Würden sie einen guten Kampf kämpfen, wenn die Versuchungen und Prüfungen des Lebens über sie kommen würden? Sie faltete ihre Hände und bat Gott, daß er sie alle segnen wolle und sie behüten auf ihrem Wege. Dann ging sie langsam in ihr nun vereinsamtes Haus zurück, um sich in den nächsten Wochen zu erholen von ihrem nicht leichten Beruf, und dann in frischer Kraft den neuen Kursus mit so und so viel neuen Pensionärinnen und Schülerinnen zu beginnen.