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Es war ein großes Wundern und Staunen gewesen, als es hieß: »Das Röschen will Lehrerin werden.« Alles andere hätte man eher geglaubt. Nicht als ob es ihr an Gaben fehlte, im Gegenteil, sie war sehr klug und aufgeweckt, aber ihr ganzes Wesen schien sich nicht mit der Würde einer Lehrerin zu vertragen. Sie selbst aber war fest entschlossen, den Versuch zu wagen. Ein Lehrerinnenseminar war in der Stadt, so konnte sie daheim bleiben und die Anstalt besuchen. Die Reihe der Schwestern war groß, es mochte ganz gut sein, daß die älteste sich zu einem bestimmten Beruf entschlossen hatte, zumal Fräulein Linchen der Familie noch erhalten blieb und sich nach wie vor als vortreffliche Stütze erwies. Ein eigenes Zimmer hatte Röschen, die nötigen Bücher wurden angeschafft, so finden wir sie im schönen Monat Mai in ihrem Zimmer sitzen, eifrig lernend und studierend. Zuerst hatte sie Stellen aus den Klassikern auswendig gelernt, nun schrieb sie einen Aufsatz ab, der ihr, wie sie meinte, recht gelungen war. Jetzt war sie fertig, und das war gut, denn lange hätte sie das Stillsitzen nicht mehr ausgehalten. Die fröhlichen Stimmen der Schwestern ertönten schon lange im Garten, Philipp hatte schon etliche Male kleine Steinchen zum Fenster hineinspediert, eine Aufforderung zum Hinunterkommen. Nun lief sie ans offene Fenster und rief: »Ich komme!« Die Bücher wurden in den Schrank geworfen, ein wenig ordentlicher hätte eine angehende Lehrerin sie zusammenpacken müssen, und wie der Wind war das Röschen draußen, küßte die kleinen Schwestern, die vergnügt getrippelt kamen, und dann ging das Spielen los. Bald ertönte die Luft von Lustgeschrei und Jubel, selbst der große Philipp spielte Haschen und Verstecken mit der Schwesternschar.
Vater und Mutter traten in die Veranda und sahen dem munteren Spiel zu. »Du meintest kürzlich, Röschen würde ein Blaustrumpf«, wandte sich der Oberpfarrer an die Großmutter, die in der Veranda mit Strümpfestopfen beschäftigt war. »Sieh nur, so gebärdet sich kein gelehrtes Frauenzimmer, sie ist voller Lebenslust und Frohsinn.« »Ich bin schon etwas ausgesöhnt mit ihrem zukünftigen Beruf«, versetzte die alte Dame. »Wenn ich mir denke, daß noch sechs Mädchen bei uns heranwachsen, da ist es wohl gut, einige wählen sich einen Beruf; doch müssen sie etwas ergreifen, was ihren Anlagen und Fähigkeiten entspricht. Es bleiben ja immer noch genug, die im Haushalt helfen können. Aber, es mag nun eine jede werden, was sie will, versprecht mir nur das eine, daß sie alle sieben einen Kursus im Haushalten durchmachen müssen, daß sie alle lernen, eine gute Suppe kochen und einen Braten machen, ohne ihn anbrennen zu lassen.« »Was ich dabei tun kann, soll geschehen«, versetzte der Oberpfarrer heiter und schaute vergnügt auf die spielende Jugend. Da wurde plötzlich oben ein Fenster geöffnet, eine unwillige Stimme rief: »Philipp, komm herauf, deine Arbeiten sind noch nicht gemacht.« Mit Heftigkeit wurde das Fenster wieder zugeschlagen. »Störenfried«, kam es schmollend von Röschens Lippen, und Philipp, der eben aus seinem Versteck geschlüpft war und unwillkürlich nach oben geblickt hatte, war den Blicken des Herrn Bruger begegnet und konnte nicht entrinnen. Der Vater hob warnend den Finger. »Ei, ei, wieder faul gewesen, mein Sohn, komm mir nicht wieder, bevor du gearbeitet hast.«
Philipp verschwand von der Bildfläche, die Mutter sah ihm bekümmert nach. »Ich fürchte, er wird uns noch viel Not machen, er läßt sich stets zum Arbeiten treiben; in den oberen Klassen sollte das nicht mehr sein.«
»Und er ärgert immer Herrn Bruger mit Absicht«, fiel Nanni ein. »Gestern hat er ihm« – Mariechen, die nichts auf Philipp kommen ließ, hielt ihr den Mund zu: »Nanni, wie unrecht, wir haben Philipp versprochen, es nicht zu sagen.« Das Mädchen erschien in der Tür und meldete Besuch an, was die Eltern veranlaßte, ins Haus zu gehen. Die Kleinen waren erhitzt und müde. Röschen versprach, ihnen eine Geschichte zu erzählen, dann bekamen sie ihre Milch und wurden zu Bett gebracht.
Nachdem auch die Eltern mit den größeren Kindern ihr Abendbrot verzehrt hatten, ging der Vater wie gewöhnlich in sein Studierzimmer; die Mutter trug einer Kranken eine Erquickung hin, und Röschen saß allein mit der Großmutter auf der Veranda.
Es war nach dem Getöse des Tages ganz still geworden. Der Duft der Blüten und Blumen erfüllte die Luft, aus dem nahen Gebüsch ertönte von Zeit zu Zeit der liebliche Gesang der Nachtigall; es war ein köstlicher Maienabend.
»Wie erinnert mich dieser Abend an die in meiner Jugend verlebten«, begann plötzlich die Großmutter, die sehr selten ihre Jugendzeit erwähnte. »Es ist mir oft«, fuhr sie fort, »als könnte es noch gar nicht lange her sein, als ich selbst als junges Mädchen in unserm schönen, großen Garten dem holden Gesang der Nachtigallen lauschte. Da war mein Herz so froh, ich schaute mit fröhlichen Hoffnungen ins Leben, und dann kam alles Schwere.«
»Großmütterchen, du hast schon oft Andeutungen gemacht von dem Schweren, was du erlebt hast. Nun bin ich erwachsen, jetzt könntest du mir einmal etwas aus deinem Leben erzählen. Bitte, tue es doch!«
»Gerne spreche ich nicht davon, doch will ich es dir erzählen, mein liebes Kind«, sagte die würdige Frau und ergriff Röschens Hand. »Setze dich zu mir, aber so, daß du den Blick auf den im Frühlingsschmuck prangenden Garten hast. Ein solcher Abend wie der heutige war gerade einmal vor etwa vierzig Jahren. Ich war wohl acht Jahre älter als du, Braut eines jungen Kaufmanns, der sich eben ein Geschäft gründen wollte. Er saß neben mir, wir schmiedeten Zukunftspläne.
Meine Eltern waren beide tot, auch mein Stiefvater, der mich so innig liebte, wie nur ein rechter Vater sein Kind lieben kann. Ich hatte nur einen Bruder, oder vielmehr Stiefbruder, wir hatten eine Mutter, aber verschiedene Väter. Mein zweiter Vater war sehr reich, er hatte sich als Rechtsanwalt ein bedeutendes Vermögen erworben. Wir bewohnten ein großes, schönes Haus und hatten einen prächtigen Garten in – doch der Name tut nichts zur Sache. Ich war ein sorgloses Kind gewesen, hatte mich bisher nicht um Geld und Geldeswert gekümmert, nun aber, da mein lieber Verlobter einer Geldsumme bedurfte zur Gründung seines Geschäftes, erinnerte ich mich der deutlichen Worte meines Stiefvaters, die er in seinen letzten Tagen zu mir gesprochen hatte. »Therese«, sagte er zu mir, als ich neben ihm saß und ihm die magere Hand streichelte, »Therese, höre mich an. Du bist mir stets eine liebe Tochter und treue Pflegerin gewesen. Mein Vermögen geht in zwei Teile, du sollst mit deinem Bruder gleiche Rechte haben, hörst du, ganz gleiche Rechte, ich habe alles in meinem Testament niedergeschrieben.« Nach dem Tode des Vaters kam mein Bruder, der lange im Auslande gewesen war, nach Hause, nahm Besitz von Haus und Hof, und ich führte ihm selbstverständlich die Wirtschaft. Er gab mir, was ich brauchte; ich glaubte, alles sei geordnet, und kümmerte mich nicht um Geldangelegenheiten. Da lernte ich einen jungen, strebsamen Mann kennen von gediegener Bildung und frommem Sinn. Als er mich begehrte, konnte ich mit vollem Vertrauen meine Hand in die seine legen. Wir waren glücklich wie die Kinder; diese Frühlingszeit ist mir unvergeßlich, wenn wir Hand in Hand durch den schönen Garten gingen, hinunter an den Bach, der zu Füßen des Abhanges vorüberrauschte, und uns erzählten von zukünftigen, rosigen Tagen, wenn wir an seinem Rand Blümlein pflückten und mein Verlobter mich damit schmückte.
Nun aber kamen ernste Stunden. Er wollte sich selbständig machen, und es fehlte am nötigen Gelde. Natürlich nahm ich die Sache nicht schwierig. »Wir sind ja reich«, rief ich, »du kannst von mir Geld bekommen so viel du willst, ich will es dem Bruder sagen.« »Dein Bruder«, sagte er ernst, »ist dafür bekannt, daß er nicht gern gibt.« »Er soll es nicht geben«, fiel ich ihm in die Rede, »von dem meinigen soll es genommen werden.« Noch an demselben Tage ging ich zu meinem Bruder und trug ihm die Bitte vor. Verwundert sah er mich an und sagte kalt: »Ich dachte, du wüßtest, daß du keine Ansprüche auf Vermögen hast, dein Vater hat nichts hinterlassen, von dem meinigen stammt alles.« »Aber«, unterbrach ich ihn, »dein Vater, der auch mir stets ein gütiger, lieber Vater war, hat mir selbst gesagt, daß ich zu gleichen Teilen mit dir erben solle, daß er es also in seinem Testament bestimmt habe.«
»Ein Testament ist nicht vorhanden, folglich bin ich der einzig berechtigte Erbe, ich habe brüderlich an dir gehandelt, indem ich dich alle diese Jahre bei mir gehabt, dich genährt und gekleidet habe, auch will ich ein Übriges tun und dir eine Aussteuer geben, weiteres hast du nicht zu fordern.« Ich war sprachlos vor Staunen, ich konnte ihn nur ansehen. Ich weiß nicht, was in meinem Blick gelegen haben mag; er senkte die Augen. Ich aber verließ sein Zimmer und flüchtete in mein eigenes, wo ich den Sturm, der in mir tobte, niederkämpfen mußte. Hatte ich nicht treu gesorgt für meinen kaum drei Jahre jüngeren Bruder, hatte ich ihm nicht den Haushalt geführt, so daß er die Wirtschafterin sparen konnte? Und ich sollte es als Wohltat ansehen, daß er mich ernährt und gekleidet hatte! Ich war zu unerfahren in Geldsachen, hatte mich bisher zu wenig darum gekümmert, auch wohl zu viel Vertrauen gehabt zu meinem Bruder, den ich leider wohl als geizig kannte, dem ich aber nie eine unehrenhafte Handlung zugetraut haben würde.
Nun war mit einem Schlag alles anders. Mein Verlobter war empört über die Handlungsweise meines einzigen Verwandten. Er wußte durch mich, daß der Vater Teilung des Vermögens zwischen uns gewünscht habe, und wollte nun meine Rechte vertreten. Er suchte Rat bei einem Rechtsanwalt, der ihm sagte, wenn kein Testament da sei, wäre der rechte Sohn des Verstorbenen alleiniger Erbe. Das Testament fand sich nicht. Es kam zu heftigen Auftritten zwischen meinem Verlobten und dem Bruder. Das Ende war, daß ersterer mich zu seiner alten Tante brachte, die in einer entfernten Stadt wohnte. Dort wurde später unsere Hochzeit in der Stille gefeiert, mein Bruder und ich waren fortan geschiedene Leute.«
»Du hast nie wieder von diesem Bruder gehört, liebste Großmutter?« fragte Röschen, ihre weichen Hände streichelnd und sie mit gespanntester Aufmerksamkeit ansehend.
»Gehört wohl in der ersten Zeit, später nie. Wiedergesehen habe ich ihn nicht. Mein Mann hatte mir jeglichen Verkehr verboten; ich sehnte mich auch nicht danach, wieder mit meinem Bruder in Verkehr zu treten, der so wenig den Willen seines verstorbenen Vaters ehrte, der so wenig Liebe zu seiner einzigen Schwester hatte, daß er ihr das väterliche Erbteil, auf das sie gehofft, vorenthielt. Mein Mann mußte natürlich darauf verzichten, sich ein eigenes Geschäft zu gründen, er erlangte nach vielem Suchen endlich eine gute Anstellung in einem alten, soliden Geschäft in Amsterdam. Wir mußten freilich unsere Heimat verlassen; aber der Segen Gottes ging mit uns, er ruhte auf der Arbeit meines geliebten Mannes. Wir waren nicht reich, aber wir hatten unser Auskommen und haben nie Mangel gehabt. Dein Großvater und ich waren glückliche Leute. Als du, liebes Röschen, sieben Jahre zähltest, wurde ich Witwe, und da mein seliger Mann mir nur wenig irdische Güter hinterlassen hatte, so nahm ich das Anerbieten deines Vaters, zu ihnen ins Pfarrhaus zu ziehen, dankbar an. Kam ich doch dadurch wieder in mein Heimatland und blieb meinem Kind nahe.«
Röschen schlang ihren Arm um die Großmutter und rief unter Küssen: »Das war das beste, was die Eltern tun konnten, was wären wir ohne dich, Großmütterchen!«
Sie schwiegen beide eine Weile. Es war wonnig schön im Garten, der Mond war aufgegangen und leuchtete durch die blühenden Bäume; die Nachtigall schlug im Busch; die Grillen zirpten. Sonst war es stille in der Natur.
»Wie schön ist der Abend«, brach Röschen das Schweigen, während Frau Elsner tief in Erinnerungen versenkt dasaß. »Nun sage mir noch das eine«, bat die Enkelin liebkosend, »lebt dein Bruder noch und wo?« »Ich vermute, daß er noch lebt, gewiß weiß ich es nicht. Wenn er noch lebt, so weilt er nicht allzufern von hier. Den Ort will ich nicht nennen, ebenso bitte ich dich, Schweigen zu bewahren über das, was ich dir jetzt anvertraut habe.«
Es klingelte an der Haustür, die Mutter kehrte heim. »Noch auf, Mütterchen«, rief sie verwundert, als sie auf die Veranda trat. »Es ist so schön hier, liebe Tochter, setze dich ein wenig zu uns. Ich habe Röschen eben aus meiner Vergangenheit erzählt.« »Ich seh' es euch beiden an, daß ihr ernste Gespräche hattet. Ja, liebes Röschen, von Großmutter können wir alle lernen, wie man Ungerechtigkeiten trägt.« »Ich würde ihn gehaßt haben, Großmutter«, rief Röschen voller Unmut.
»Hätte ich dann die Lehren unseres Heilandes befolgt, der da sagt: Die Rache ist mein, ich will vergelten. Nein, mein liebes Kind, ich habe den armen Bruder nur bemitleiden und für ihn beten können. Hätte ich mein Erbe, das mir durch die Bestimmungen des Vaters zukam, erhalten, so wäre ich jetzt eine reiche Großmutter, vielleicht hätte ich mein Herz an irdisches Gut gehängt und wäre nicht so glücklich, wie ich es jetzt bin in eurem gesegneten Familienkreise.« Mutter und Tochter umschlangen beide die Großmutter, versicherten ihr, wie glücklich sie seien, daß sie bei ihnen wohne, sie wollten Gott bitten, sie ihnen noch lange zu erhalten.
Nun kam auch der Oberpfarrer dazu, begehrte noch einen Rundgang durch den Garten mit seiner Gattin, und als das geschehen, suchte man die Ruhe auf. Röschen geleitete die Großmutter auf ihr Zimmer. Sie war so bewegt von allem, was sie gehört hatte, noch manche Frage lag ihr auf dem Herzen. Frau Elsner schnitt aber alles ab mit den Worten: »Heute nicht mehr, mein liebes Kind; ich bin müde, für alte Leute taugt es nicht, abends trübe Erinnerungen wachzurufen.«
Als Röschen am folgenden Morgen aus dem Seminar kam, sah sie ein junges Mädchen im Reisekostüm auf ihr Haus zugehen. Dasselbe ging zögernden Schrittes, als ob sie nicht wage, näherzutreten. Röschen kam die Erscheinung bekannt vor; sie stutzte einen Augenblick, dann jubelte sie: »Meta, du bist es! Das ist recht von dir!« Meta, denn sie war es wirklich, antwortete, daß sie auf der Durchreise sei, hier einige Stunden Aufenthalt habe und diese Zeit benutzen wolle, um ihrem Versprechen, Röschen zu besuchen, nachzukommen. Diese bat Meta hereinzukommen und versicherte der noch immer Zögernden, die Eltern würden sich sehr freuen, eine ihrer Mitpensionärinnen kennenzulernen. Bald war Meta heimisch in dem gastlichen Hause, sie mußte sich mit zu Tisch setzen, und zwar neben den Oberpfarrer, der sich freundlich nach ihrer Heimat und Familie erkundigte. Sie war von Röschen als Fräulein von Wrede vorgestellt, es war den Eltern ein unbekannter Name. Als sie ihren Wohnort nannte, zuckte es eigen um den Mund der Großmutter, sie sah das junge Mädchen mit mehr Interesse an, als man sonst für Fremde an den Tag legt. Meta beantwortete die Fragen nach ihrer Familie dahin, daß die Mutter Witwe sei und mit ihren kleinen Geschwistern ein Häuschen in Beckedorf bewohne; den Großvater erwähnte sie nicht, da sie vor Fremden nicht die traurigen Verhältnisse berühren mochte.
Nach Tisch ging Röschen mit dem jungen Mädchen in ihr Zimmer, fragte sie, wohin sie zu reisen beabsichtige, und war sehr erstaunt zu hören, daß Meta im Begriff sei, eine Stelle anzunehmen, da sie ihr doch gesagt, sie werde zu Hause bleiben, um der Mutter zu helfen. Meta sagte, daß sie das letztere sehr gewünscht habe, nun aber doch gezwungen sei, fortzugehen. »Wer zwingt dich denn, liebe Meta?« Meta sah Röschen unendlich traurig an mit ihren schönen Augen, ergriff ihre beiden Hände und sagte mit Tränen: »Willst du meine Freundin sein, Röschen? Darf ich offen und rückhaltlos mir dir sprechen?« »Wie gern«, war Röschens Antwort. »Ich hielt dich immer für kalt und unnahbar, fühlte aber beim Abschied an deinem Händedruck, daß du eines tieferen Gefühls fähig bist.« »Ich habe dich immer besonders lieb gehabt, Röschen, fühlte mich von Anfang an zu dir hingezogen.« – »Aber du sonderbares Mädchen, warum warst du stets zurückhaltend, ich bin doch nicht so abstoßend.« Metas Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Nein, an dir hat es nicht gelegen, an mir auch nicht, es sind die traurigen Verhältnisse schuld, in denen wir leben. Wenn du nicht zu andern davon reden willst, sage ich dir alles. Ich bedarf jemandes, dem ich mein Vertrauen schenken kann, den ich lieb haben darf. Röschen, kannst du, willst du mir ein wenig gut sein?« Röschen wurde ganz weich und gerührt. Sie schloß gerne Freundschaften und war ebenso beglückt durch Metas Anerbieten, als diese es war durch Röschens freundliches Entgegenkommen. Bald saßen die jungen Mädchen vertraulich auf dem kleinen Sofa zusammen, und Meta erleichterte ihr Herz, indem sie Röschen alles anvertraute, was sie drückte und quälte. Und doch schonte sie, wo sie konnte, den Großvater, hob immer wieder hervor, daß sie ihm dankbar sein müßten, weil er sie erhielt; aber daß sie ihn nicht lieb haben konnte, fühlte Röschen wohl heraus. Sie tröstete sie, so gut sie konnte, sprach ihr Mut ein zu der neuen Stelle, so daß Meta um vieles leichter war, als vorher. Sie bewunderte Röschens reizendes Stübchen, konnte sie fast beneiden, daß es ihr vergönnt war, weiter zu studieren und dabei im Elternhause zu bleiben. Röschen ging dann mit der Freundin in den Garten, in die belebte Kinderstube und sagte endlich, nach der Uhr sehend: »Nun haben wir noch eine halbe Stunde Zeit, jetzt zeige ich dir das Beste, was wir haben, Großmütterchens Stube.« »Aber stören wir die alte Dame nicht?« fragte Meta zaghaft. »Stören?« lachte Röschen, »das gibt's bei Großmutter nicht, sie ist immer für jeden da. Ist sie in ihrer Stube, dann sind immer einige von den Kleinen unterwegs zu ihr.« Ein leiser Seufzer entquoll Metas Brust. »Wie gut ihr es habt!« sagte sie, als sie die breite, eichene Treppe hinaufstiegen. Röschen klopfte; ein freundliches »Herein« war die Antwort. Die Mädchen betraten eine große, geräumige Stube, deren Fenster auf den Domplatz gingen. Die alte ehrwürdige Kirche lag dem Hause unmittelbar gegenüber; der Blick darauf stimmte feierlich und andächtig.
»Da kommen meine lieben, jungen Mädchen wohl auch noch ein wenig zur alten Großmutter, das ist recht, Kinder, ich möchte deine Freundin, Röschen, gern ein wenig näher kennenlernen.« Sie deutete auf einen Stuhl neben dem großen Lehnstuhl, in welchem sie saß, und sagte: »Setzen Sie sich hierher, liebes Kind; Sie haben da gerade den Blick auf die Kirche. Sie ist meine Freundin, die mir viel gibt. Sonntags finde ich in ihr Kraft, Rat und Trost für die ganze Woche; die schönen Glocken, die Freude oder Leid verkünden, stimmen mich fröhlich oder wehmütig, der helle Schlag der Uhr lehrt mich, daß meine Zeit dahineilt und ich sie treulich auskaufen muß. Morgens ist die teure Kirche die erste, die mich grüßt, und abends die letzte, die mir eine gute Nacht zuwinkt.« »Aber Großmütterchen sitzt nicht immer bei ihrer Freundin; sie hilft Mutter den ganzen Tag in der Wirtschaft oder bei den Kindern, nur nach Tisch gönnt sie sich ein wenig Ruhe in ihrem Stübchen«, ergänzte Röschen.
Frau Elsner sprach sehr herzlich und freundlich mit den jungen Mädchen, zeigte ihnen Bilder und verschiedene, aus Holland mitgebrachte Sachen, so eilte die Zeit schnell dahin.
»Wir haben nur noch Frist, Kaffee zu trinken«, rief Röschen, »dann müssen wir an den Bahnhof.« »Hole deiner Freundin den Kaffee herauf, ich behalte sie gern noch ein bißchen hier«, bat Großmutter. Röschen flog davon; Frau Elsner benutzte die Zeit, da sie mit Meta allein war, einige Fragen zu tun, die ihr auf dem Herzen lagen.
»Sie sind aus Beckedorf?« begann sie, »leben Sie mit der Mutter allein?« Meta konnte nicht anders als der Wahrheit gemäß sagen, daß sie mit dem Großvater zusammen lebten. Nun kam die Hauptfrage. »Wie heißt Ihr Herr Großvater?« »Sein Name ist Goldewein.« Meta sah nicht, wie die alten Hände der Großmutter zitterten; sie legte das Strickzeug darüber und fragte weiter: »Haben Sie den Großvater lieb?« Metas Augen füllten sich mit Tränen. »Wir sollten es wohl – aber er ist so wunderlich, die Mutter hat es schwer mit ihm.« »Ist Mutter die einzige Tochter?« »Ja.« »Lebt die Frau noch?« »Großmutter ist lange tot, ich habe sie gar nicht gekannt.«
Jetzt kam Röschen mit dem Kaffee; sie rief Meta an den Tisch, so daß sie beide die starke Bewegung der alten Dame nicht bemerkten. Als sie sich zum Fortgehen rüsteten, war sie ihrer Gefühle Herr. Sie konnte nicht umhin, einen Kuß auf die reine Stirn des jungen Mädchens zu drücken, ging sie sie doch viel näher an, als sie ahnte. »Gott segne Sie, mein liebes Kind, wo Sie auch hingehen, sei er mit Ihnen!« »Oh, welche Großmutter«, rief Meta aus, als sie auf der Treppe waren. »Welch gesegnetes Haus! Ich habe noch nie in meinem Leben so schöne, ungetrübte Stunden verlebt.«
Ja, die arme Meta hatte in den wenigen Stunden hier viel Liebe geatmet und empfunden; sie hatte sich aussprechen dürfen und hatte eine Freundin gewonnen. Das gab ihr Mut und Kraft, den unbekannten Weg zu gehen, der vor ihr lag. Röschen nahm ihr das Versprechen ab, bei ihrer jedesmaligen Durchreise Aufenthalt im Pfarrhause zu nehmen, was Meta nur zu gern versprach. Sie winkten sich noch einmal zu; fort brauste der Zug in die Ferne.
Die Großmutter blieb heute zu aller Verwunderung recht lange oben. Sie saß mit gefalteten Händen in ihrem Lehnstuhl und sagte immer nur von Zeit zu Zeit: »Er lebt also wirklich noch! Er ist verheiratet gewesen und hat eine verheiratete Tochter! Wird das viele Geld ihm zum Segen oder zum Fluch geworden sein? O mein Gott, erbarme dich seiner, gehe nicht mit ihm ins Gericht.«
Sie sann und sann; plötzlich tauchte das Bild der Fremden, die sie damals im Schnee aufgelesen hatte, vor ihrer Seele auf. Nun war ihr alles klar. Die Dame war des Bruders Tochter und Metas Mutter! Sie wollte nach Beckedorf zum Vater mit den beiden jüngsten Kindern; das älteste Töchterchen, das sie Meta nannte, war bei einer Freundin in der Stadt. Wie verschlungen sind die Wege der Menschen; sie begegnen sich und trennen sich, und nach Jahr und Tag treffen sie unvermutet wieder zusammen. Ob sie wohl auch einmal noch mit dem Bruder zusammenkommen würde? Sie wollte und konnte nichts dazu tun; sie wollte alles Gott befehlen, wenn er es so fügte, wollte sie sich nicht in Bitterkeit abwenden, sondern auch hier Liebe üben; die Liebe, die nicht das Ihre sucht. Was sie heute erfahren hatte, darüber wollte sie vor der Hand nicht reden, es würde die ihrigen nur unnötig aufregen, und der Verkehr mit Meta würde fernerhin nicht mehr so harmlos sein können.
Sie stand auf und ging hinunter; niemand merkte, was die Großmutter da oben im Herzen durchgekämpft hatte.