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20. Kapitel. Herr Koch

Am nächsten Morgen war die um den Kaffeetisch versammelte Familie in größter Spannung auf die Erscheinung des mutmaßlichen Vikars. »Er schläft aber lange«, sagte Philipp und lachte, während Röschen die Mädchen fragte, wie er denn eigentlich aussehe. »Schön nicht«, behauptete Emmi entschieden, aber die andern beiden nahmen ihn in Schutz und sagten, er müsse nur etwas gepflegt werden, er sei so sehr mager; er habe gewiß recht dürftige Kost gehabt. Philipp meinte, dann könnten die Schwestern ihn ja in Kost nehmen, vielleicht würde er in vier Wochen ein schöner Mann sein, wenn es nur daran läge.

Ein schüchternes Klopfen an der Tür ließ sich vernehmen. »Da ist er«, flüsterten die drei aufgeregt, und auf das »Herein« des Vaters betrat ein lang aufgeschossener, außerordentlich magerer, dürftig gekleideter Jüngling das Zimmer. Röschen platzte bei seinem Anblick beinahe heraus, doch nahm sie sich zusammen. Der Gedanke, diesen Mann für einen geistlichen Herrn zu halten, kam ihr zu komisch vor. Auf des Oberpfarrers Gesicht malte sich sichtliches Erstaunen; es war ihm sofort klar, daß hier ein Irrtum obwaltete. Großmutter aber, welche die große Verlegenheit des an der Tür Stehenbleibenden wahrnahm, ging ihm in ihrer Herzensgüte entgegen und sagte: »Wie haben Sie denn in Ihrem neuen Heim geschlafen, Herr Koch?« »Ausgezeichnet, gnädige Frau, ganz ausgezeichnet.« Es wurde ihm ein Platz am Kaffeetisch eingeräumt, und nachdem er sich gesetzt, begann der Oberpfarrer, der die Hauptsache gleich zu erledigen wünschte: »Meine Töchter sagen mir, daß Sie sich hier gestern in meinem Hause als Vikar eingeführt haben, ich muß gestehen« –

Der arme junge Mann wurde über und über rot und stotterte verlegen: »Das ist ein gewaltiger Irrtum von den jungen Damen, ich habe nur gesagt, daß mein Name Koch sei. Ich bin ein armer Student, der erst zwei Semester hinter sich hat.« Großes Erstaunen auf allen Gesichtern. Philipp machte den drei Schwestern verstohlen eine tiefe Verbeugung, die seine Hochachtung vor ihrer Menschenkenntnis ausdrücken sollte; der Oberpfarrer schien erleichtert über des Jünglings offenes Bekenntnis, Großmütterchen schüttelte ernst ihr Haupt, Röschen aber konnte sich nicht mehr halten, sie kicherte leise vor sich hin; die Lage war zu spaßhaft. Emmi, Nanni und Miezi machten so furchtbar dumme Gesichter, daß man nicht ernst bleiben konnte.

»Was – was hat Sie denn in aller Welt veranlaßt, sich hier bei uns einzufinden?« fragte der Oberpfarrer ernst.

»Ich suchte ein Stübchen, weil ich hier ein Semester zu studieren beabsichtige. Man hat mir gesagt, in der Kirchgasse seien einige billig zu haben, so geriet ich in dieses Haus. Als ich meinen Namen nannte, nahmen mich die jungen Damen so freundlich auf, sagten mir, ein Zimmer sei für mich bereit, und als ich nach dem Preis fragte, sagte man mir, dafür würde nichts bezahlt. Ich mußte glauben, daß ein hoher Gönner von mir, ohne daß ich es wußte, für mich gesorgt habe, und ließ es mir gefallen, da ich sehr müde und hungrig war.«

»Woher stammen Sie denn?«

»Aus dem Dorfe Buchenau. Mein Vater ist dort ein armer Schulmeister, der es sich als höchste Aufgabe gesetzt hat, mich studieren zu lassen. Nun sind aber die Gelder knapp, ich bin auf Schusters Rappen hierher gelaufen und wollte mir ein ganz bescheidenes Dachstübchen mieten, war natürlich sehr angenehm überrascht, hier ein so herrschaftliches Unterkommen zu finden.«

»Leider können wir Ihnen die Stube nicht lassen, da der wirkliche Vikar Koch jedenfalls heute eintreffen wird.« »Ich gehe, mir sofort ein anderes Lokal zu suchen. Verzeihen Sie, daß ich so frei war, aber die Liebenswürdigkeit der Damen ...« – »Die Kinder haben sich geirrt«, sagte Großmutter und fügte freundlich hinzu: »Essen Sie sich nur satt, lieber Herr Koch, und beeilen Sie sich nicht, wir werden nicht so unchristlich sein, Sie gleich wieder hinauszustoßen. Vielleicht findet sich in unserm Hause noch ein Stübchen für Sie; wir wollen einmal nachdenken. Sollten Sie kein Ihren Wünschen entsprechendes Zimmer finden, kommen Sie noch einmal wieder. Jedenfalls geben wir Ihnen einen oder zwei Freitische, nicht wahr, lieber Sohn?« Der Oberpfarrer nickte zustimmend.

»Mehr können wir nicht tun«, fuhr Frau Elsner fort. »Sie sehen, hier ist eine große Kinderschar, die versorgt sein will.« Der Student verbeugte sich dankend und verließ, nachdem er gegessen und getrunken hatte, unter vielen Bücklingen das gastliche Pfarrhaus.

»Euch kann man aber nicht wieder allein lassen«, neckte Philipp, »wenn ihr den ersten, besten Menschen, der euch in den Weg läuft, mit offenen Armen aufnehmt.« Die Schwestern verteidigten sich damit, der Vater habe gesagt, der neue Vikar käme wahrscheinlich, und sein Name sei »Koch«.

»Ja, ich bin wieder an allem schuld«, meinte dieser. »Hättest du uns nur gesagt, daß Herr Vikar sich für die nächsten Tage angemeldet hatte, dann wären wir gestern daheim geblieben«, sagte Röschen.

»Ich hatte es vergessen, liebe Kinder. Ihr wißt ja, ich stecke immer tief in der Arbeit und –«

»Wir kennen dich schon, lieber Sohn. Der Vater darf auch einmal etwas vergessen«, fügte Großmutter zu den Kindern gewandt, hinzu, »aber Kinder dürfen nie etwas vergessen, besonders nicht die ihnen aufgetragenen Pflichten.« Hier sah sie Emmi, Nanni und Miezi ernst an, so daß diese erröteten. »Ihr drei kommt dann einmal nach oben; ich möchte noch mit euch sprechen.«

Als die Schwestern dem Befehl nachkamen, saß Großmütterchen an ihrem Fensterplatz mit ernster Miene.

»Kinder, ich möchte euch nur dies sagen: Wenn euch etwas übertragen wird, so richtet das Wenige pünktlich und gewissenhaft aus. Übernehmt aber nebenbei nichts, was über eure Kräfte geht, was ihr nicht durchführen könnt. Ihr wolltet Bewunderung und Ruhm ernten für die Reinigung der Speisekammer, statt dessen müßt ihr Tadel haben dafür, daß ihr des Vaters Kaffee vergessen habt, daß ihr allerlei Schaden draußen angerichtet, und daß ihr Trudi nicht gut versorgt habt. Ihr habt keine eurer Pflichten erfüllt, ein andermal müßt ihr's besser machen. Woher hustet Trudchen so? Sie ist doch nicht draußen gewesen ohne Jacke?«

»Sie ist uns weggelaufen, als der Vikar – als der – Mensch kam. Frau Wegner brachte sie wieder«, stotterte Emmi. Und Nanni fügte offenherzig hinzu: »Es war schon Abendluft, da hat sie sich vielleicht erkältet.«

»Es ist gut, daß ihr mir die Wahrheit sagt, wie leicht hätte Trudchen ein Unglück zustoßen können auf der Straße, der liebe Gott hat sie behütet, dafür wollen wir ihm danken. Ihr aber müßt gewissenhafter werden, wollt ihr mir das versprechen?«

Die drei, denen die Tränen schon sehr lose saßen, umarmten schluchzend die Großmutter und versprachen, pünktlicher in der Ausübung ihrer Pflichten zu werden. Dann schlichen sie davon.

Zu Tische erschien der hagere Magere wieder. Großmutter hatte ihm beim Weggehen noch zugeflüstert, heute solle er jedenfalls hier essen. Er schien gedrückt; das Resultat der Wohnungssuche war kein günstiges; die Mieten waren hier viel höher, als er sich hatte träumen lassen. »Sie können ein kleines Giebelzimmer bei uns haben«, sagte der Oberpfarrer, »es ist sehr einfach möbliert, aber wenn Sie zufrieden sein wollen –« Der Jüngling wurde rot vor Freude, eine Träne glänzte in seinem Auge. »Oh, ich danke Ihnen, wenn das meine Eltern wüßten.« »Sehen Sie es sich nur einmal an, Philipp kann mitgehen, es ist neben dem seinigen.« Der junge Mann kam sehr befriedigt herunter. Es sei eigentlich noch viel zu schön für ihn, meinte er, aber was er denn zu zahlen habe.

»Im Pfarrhause vermietet man keine Zimmer für Geld. Sie können es ruhig annehmen, wir entbehren es augenblicklich nicht«, sagte der Oberpfarrer. »Und sonntags sind Sie unser Gast«, fügte die Großmutter hinzu. »Außerdem will ich mich bemühen, für die Wochentage bei guten Freunden Freitische zu erlangen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar, gnädige Frau.« »Nennen Sie mich nicht so, ich bin Frau Elsner, nichts weiter. Nun erzählen Sie mir etwas von den Ihrigen.« Das tat der junge Mann gern, denn er hing am Elternhause, und Großmütterchen erkannte an der Art und Weise, wie er erzählte und was er erzählte, daß er ein braver Sohn und ein solider Mensch war, und war fest entschlossen, etwas für ihn zu tun. Schon am Abend konnte sie ihm mitteilen, daß sie bereits drei Familien für ihn interessiert habe, und daß sie hoffe, ihm für jeden Tag einen Freitisch zu verschaffen.

Wenn sie doch nur ein wenig reicher wäre, wie gern würde sie diesen strebsamen Jüngling wirksamer unterstützen oder für Martin von Wrede etwas tun. Der Enkel des Bruders konnte nicht einmal ein Gymnasium besuchen, weil der Großvater sich nicht entschließen mochte, etwas Geld zu opfern. Lieber sah er, daß der Knabe nichts lernte, als daß er sein geliebtes Geld aus dem Schrank nahm und es für die Erziehung des Knaben anlegte. Da kam der Großmutter ein guter Gedanke. Sie schrieb ihrem lieben Pfarrer in Beckedorf, daß sie sich für die Familie von Wrede interessierte, legte die Verhältnisse dar, und fragte bei ihm an, ob er dem begabten und fleißigen Knaben nicht lateinische Stunden geben wolle. Sie wußte im voraus, daß sie keine Fehlbitte tun würde. Herr Bruger schrieb sehr bald, daß er Frau von Wrede besucht habe, und daß er sich des Knaben annehmen würde. Wie glücklich und dankbar war Frau Elsner hierfür. Aus einem Brief von Meta an Röschen erfuhr sie dann, daß Martin die erste Stunde beim Herrn Pfarrer gehabt habe, und daß er vor Glück strahle, weil ihm sein Lieblingswunsch, Latein zu lernen, erfüllt wurde.

Philipp und die Mädchen wetteiferten in den neuen Klassen, wer es dem andern an Fleiß zuvortun wollte, Röschen war die treue Stütze der Großmutter. Eines Abends stand sie sinnend am Fenster. Wieviel hatte sich in dem verflossenen Jahr zugetragen. Sie erinnerte sich noch genau des Tages, an dem sie aus der Pension zurückgekehrt war, da hatte sie am Abend auch mit der geliebten Mutter hier gestanden, und das Leben im Elternhause war ihr verlockend schön erschienen. Wieviel Schweres hatte es schon gebracht; sie kannte sich fast selbst nicht wieder. Aus dem übermütigen, unfertigen Mädchen war eine ernste, gereifte Jungfrau geworden. Der Tod der Mutter und manches andere hatte einen tiefen, bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie dachte weiter zurück an ihr Pensionsleben, an die vielen, jungen Mädchen, mit denen sie zusammen gelernt und gearbeitet hatte. Wo waren sie alle? Mit einigen stand sie in Briefwechsel; einige lebten hier in der Stadt, aber mit diesen war es zu inniger Herzensfreundschaft nicht gekommen. Josepha schätzte und liebte sie sehr, aber sie kamen nur wenig zusammen, sie war ihr jetzt viel sympathischer als Thea, die sich sehr an sie anschloß, fast zu sehr, und sie mit ihren Herzensgeheimnissen ängstigte. Ja, es machte ihr Kummer, daß Thea sie zu ihrer Vertrauten erkoren hatte. Heute sogar hatte sie Thea mit Herrn von Langen im Tannenwäldchen gesehen, wohin sie die kleinen Geschwister spazieren geführt. Das Paar hatte sie glücklicherweise nicht bemerkt, da sie sich sofort mit den Schwestern zurückgezogen hatte. Aber wohin sollte dies geheime Verlöbnis, wovon die Eltern nichts ahnten, führen? Wenn sie es doch ihrer Großmutter sagen dürfte; sie würde gewiß mit ihrem klaren Verstand das Rechte treffen. Jede Falte ihres aufrichtigen Herzens war der Großmutter bekannt, aber das Geheimnis einer Fremden mußte sie doch wahren! Ihrem Herzen am nächsten stand Meta, jetzt noch näher, seit sie wußte, daß zwischen ihnen verwandtschaftliche Beziehungen bestanden. Welche schwere Jugend hatte die Arme gehabt, wie still und demütig ging sie den Weg der Pflicht. Aber Baron Uhdens erkannte den Schatz jetzt, den sie an ihr besaßen. Wie würde Fräulein Hochberg sich freuen, wenn sie sie in ihrem treuen, zielbewußten Wesen hätte beobachten können. Sie sollte auch ihr zum Vorbild dienen, und sollte sie einst Pfarrerin in Beckedorf werden, dann wollte sie sich mit ihr freuen!

Jetzt kamen die kleinen Schwestern, die nach Röschen verlangten. Es war Zeit, daß sie ihre Milch bekamen, und dann mußten sie zur Ruhe gebracht werden. Emmi, Nanni und Miezi machten Schularbeiten, und Philipp saß oben und schwitzte bei lateinischen und griechischen Übersetzungen. Alles war tätig; auch Röschen durfte ihren Gedanken nicht länger nachsinnen, wenn die Pflicht rief.


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