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Der »Hagere« schien ordentlich aufzuleben, seit er im Pfarrhause so freundliches Unterkommen gefunden hatte. Frau Elsner hatte wirklich für alle Tage der Woche Freitische erhalten; sie hatte viele gute Freunde in der Stadt und scheute um einer guten Sache willen keinen Weg. Und dies war etwas Großes, was sie vollbracht hatte. Der arme, junge Mann, dem sehr wenige Mittel zu Gebote standen, hatte bisher sehr kärglich gelebt. Trockenes Brot und ein schmales Mittagessen für geringes Geld waren sein Unterhalt gewesen; nun bekam er nicht nur reichliches, sondern auch kräftiges Essen, und man sah von Woche zu Woche, wie es anschlug, wie sich allmählich das Gesicht rundete und eine gesündere Farbe einnahm. Herr Koch war sehr bescheiden, in keiner Weise aufdringlich; in der ersten Zeit sah man ihn nur sonntags, an welchem Tage er mittags Gast sein durfte. Respektvoll trat er zurück, wenn der »wirkliche Herr Koch«, wie die drei Mädchen den inzwischen eingetroffenen Vikar betitelten, erschien. Dieser war ein untersetzter, stämmiger Herr, der etwas sehr Zurückhaltendes, Abgeschlossenes in seinem Wesen hatte und mit der Pfarrersfamilie noch nicht auf vertraulichem Fuß stand. Emmi, Nanni und Miezi gaben auch entschieden ihrem Schützling den Vorzug, sie wachten alle drei darüber, daß er sich sonntags bei Tische wohl versorgte, und wußten ihm auf geschickte Weise immer die besten Bissen zuzuschieben. »Er sieht schon besser aus«, äußerten sie voller Befriedigung, und sie waren es, die es befürworteten, daß Christiane ihm hin und wieder abends einen Teller Suppe hinauftrug. Er arbeitete sehr emsig, ließ sich kaum Zeit zu einem Spaziergang, und der Aufforderung, bei schönem Wetter abends mit in den Garten zu kommen, hatte er bis jetzt nicht Folge geleistet.
Heute aber, an einem herrlichen Juniabend, erschien er, sich bescheiden verbeugend, auf der Veranda, wo die Familie versammelt war. »Das ist recht«, sagte Großmutter. »Sie müssen nicht immer Bücherstaub schlucken, sondern sich auch an Gottes schöner Natur erfreuen. Sehen sie sich jetzt einmal unsere schönen Rosen an; sie sind wirklich sehenswert.«
»Ich habe eine Bestellung an Fräulein Röschen von Frau von Immenhoff, bei welcher ich heute zu Mittag speiste. Ein Fräulein Tochter wäre sehr krank, ich glaube Fräulein Thea« –
»Thea!« rief Röschen erschrocken, »dann muß ich gleich zu ihr. Wissen Sie etwas Näheres darüber?«
»Sie liegt seit einigen Tagen im Bett; der Arzt kommt täglich.«
Röschen eilte von dannen. Sie wußte seit jenem Abend von Thea weiter nichts, als einige mit Bleistift geschriebene Worte, die sie am folgenden Tage erhielt. Sie lauteten: »Es war nicht mehr nötig, daß ich an Herrn von Langen schrieb; ich fand zu Hause einen Brief von ihm vor, in welchem er mir unter vielen schönen Worten den Abschied gab. Bete für deine arme Thea.«
Jeden Tag wollte Röschen zu ihr, aber allerlei häusliche Geschäfte hinderten sie. Nun, da Thea krank war, säumte sie keinen Augenblick. Als sie an der Wohnung klingelte, öffnete ihr Josepha von Langen. »Du hier, Josepha?« frage Röschen verwundert. »Ich bleibe die Nacht bei Thea; Frau von Immenhoff hat es mir endlich erlaubt, Röschen«, fügte sie traurig hinzu, »ich weiß alles. Jetzt verstehe ich, warum du an jenem Abend so erschrocken warst. Es ist von meinem Bruder unverantwortlich, es ist schlecht von ihm.« »Thea ist wohl sehr krank?« »Leider ja, der Arzt hat Nervenfieber festgestellt. Gott helfe ihr und uns.« Tränen erstickten ihre Stimme.
Die beiden Mädchen betraten leise das Krankenzimmer, wo Frau von Immenhoff am Bett ihrer Tochter saß, ihre fieberglühenden Hände in den ihrigen. Sie stand auf und ging Röschen entgegen, während Josepha zu Thea ging und die linde Hand auf ihre heiße Stirn legte. »Kommen Sie mit mir«, sagte Frau von Immenhoff, »ich erzähle Ihnen alles.« »Wie kommt Josepha hierher?« war Röschens erste Frage. »Sie wundern sich darüber, liebes Röschen, weil Sie in diese traurige Geschichte eingeweiht sind. Oh, hätte ich eine Ahnung davon gehabt, es wäre nie so weit gekommen.« »Wie haben Sie es erfahren?« fragte Röschen.
»Es wurde ein Brief für Thea hier abgegeben, als sie bei Ihnen war. Bei ihrer Rückkehr gab ich ihr denselben, mich wundernd, was er enthalten könnte, und von wem er sei. Als sie ihn gelesen, tat sie einen Schrei, warf den Brief auf den Tisch, schlug sich mit den Händen vors Gesicht und stöhnte: »Also doch!« Dann sank sie in einen Stuhl und ich eilte zu ihr, mit der Bitte, mir zu sagen, was es mit dem Brief auf sich habe. »Lies«, sagte sie mit schwacher Stimme. Ich las und wußte alles. Thea hat ja unrecht getan, daß sie es vor mir verheimlichte, aber ein viel größeres Unrecht liegt auf Herrn von Langens Seite, der sie erst betörte und sie dann zum Schweigen veranlaßte. Ich kann es ihm nie verzeihen. Nun liegt mein armes Kind matt und sterbenskrank darnieder, und ich weiß nicht, ob sie mir erhalten bleibt.«
Röschen fragte noch einmal, wie Josepha hierherkomme, worauf Frau von Immenhoff berichtete, daß selbige einen Tag nach Empfang des Briefes ganz harmlos gekommen sei, um Thea nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren. Thea habe sich nicht sprechen lassen, da sie sich zu elend gefühlt und sie, die Mutter – nun ja – es habe ein Wort das andere gegeben, bis sie zuletzt Josepha das Ganze erzählt habe. Diese sei erschüttert gewesen und sei jeden Tag gekommen, um sich nach Thea zu erkundigen. Diese Nacht habe sie durchaus wachen wollen, sie habe zuerst ihre Zustimmung nicht geben wollen, aber Josepha habe einen festen Willen; was sie sich vorgenommen, das führe sie durch.
Röschen bat nun Frau von Immenhoff auch, ihr zu erlauben, sich soviel wie möglich an der Pflege zu beteiligen; sie würde gern eine Nacht wachen, wenn es nötig sei, oder sonst auf irgendeine Weise behilflich sein.
»Bisher haben Wilhelmine und ich uns abgelöst, aber Wilhelmine ist durch ihre Berufsarbeit am Tage gebunden und darf das Nachtwachen nicht zu lange fortsetzen, damit sie am Tage frisch bleibt. Wilhelmine ist außer mir die einzige, die den Grund von Theas Erkrankung kennt; die andern Schwestern dürfen es nicht erfahren, deshalb dürfen sie auch nicht zur Kranken, da sie in den Fieberträumen sehr viel den Namen Alexander von Langen nennt und von ihrem Kummer spricht.«
Wie schwer mußte unter diesen Umständen die Pflege für Josepha sein. Röschen begriff aber auf der andern Seite, daß es für sie eine Genugtuung war, etwas für Thea leisten zu können. Sie ging diesen Abend betrübt nach Hause und erlangte von der Großmutter gern die Erlaubnis, sich an der Pflege zu beteiligen.
Von nun an war es ein Wetteifern zwischen Josepha und Röschen, wer es am meisten der armen Frau von Immenhoff erleichtern konnte. Es gab viele schwere Nächte, viele trostlose Stunden, aber endlich siegte Theas kräftige Natur über die Krankheit. Die Krisis trat ein; der Arzt erklärte Thea für gerettet. Josepha, die gerade gewacht hatte, empfing Röschen mit der Freudennachricht: »Thea ist besser!« Freude strahlte aus ihrem Angesicht, sie zog die Freundin in ein kleines Zimmer, das leer war, und rief: »Oh, Röschen, wie dankbar bin ich, ich kann es dir nicht sagen. Ich wäre nie wieder froh geworden – wenn – wenn – wenn Thea gestorben wäre. Ich würde immer meinen Bruder als ihren Mörder angesehen haben.«
»Weiß – weiß er von der Krankheit Theas?«
»Er weiß es und ist sehr geschlagen. Meine Eltern wissen es auch, des Vaters Zorn war groß; Alexander hat schlimme Tage durchmachen müssen. Ja, meine Eltern hätten mich sonst wohl nicht hergehen lassen, es hat trotzdem einen Kampf gekostet, da sie sehr ängstlich sind. Aber sie sind natürlich tief betrübt über den Fall.«
»Und – – und – Fräulein von Falter?«
»Wenn die Verlobung nicht schon im stillen vor sich gegangen wäre, so hätten die Eltern es jetzt, unter diesen Umständen, nicht zugegeben. Elsbeth ist bei ihren Eltern und ahnt nichts, ich habe meinem Bruder gesagt, er müsse ihr alles gestehen, es gehöre zu seiner Sühne. Aber ich weiß nicht, ob es wohlgetan ist, vielleicht werden zwei Mädchen dadurch unglücklich.«
»Ich glaube, es ist besser, sie erfährt es nicht«, sagte Röschen, »sie verliert ja sonst auch das Vertrauen zu ihm.«
»Du hast recht«, war Josephas traurige Antwort. »Was ich gelitten habe in diesen Wochen, kann ich nicht sagen. Die Sache wird mir zeitlebens zu schaffen machen, aber es ist ein großer Druck von mir genommen, seit ich weiß, daß Thea genesen wird.«
Alle freuten sich ihrer Besserung. Sie mußte allerdings noch sehr vorsichtig behandelt werden und durfte nicht aufstehen, aber sie schlief sehr viel und hatte Appetit, zeigte auch wieder Teilnahme an dem, was um sie her vorging.
Eines Tages war Röschen wieder an ihrem Bett, während Frau von Immenhoff gegangen war, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Thea schlief und merkte nicht, wer bei ihr saß. Schöne Blumen und Früchte, auch andere Erquickungen standen an ihrem Lager; sie hatte viel Liebe erfahren. Die Schwestern, die sie nun auch wieder sehen durften, dachten darüber nach, womit sie ihr wohl eine Freude bereiten konnten. Josepha aber brachte die auserlesensten, kräftigsten Speisen und Leckerbissen, ließ sich jedoch, seit Thea wieder bei Bewußtsein war, nicht vor ihr sehen.
Röschen las, es war alles still im Krankenzimmer. Da öffnete Thea die Augen und blickte um sich. Plötzlich sagte sie: »Röschen, du bist auch wieder da, habe Dank für deine Liebe«, und reichte ihr die magere, weiße Hand. Röschen legte das Buch weg, beugte sich über Thea und küßte sie.
»Was lasest du eben?« »Ein kleines Lied, soll ich es dir vorlesen?« »Bitte, ja.« Röschen las:
Mache mich einfältig,
Innig abgeschieden,
Sanft und still in deinem Frieden!
Mach mich reinen Herzens,
Daß ich deine Klarheit
Schauen mag in Geist und Wahrheit.
Laß das Herz
Himmelwärts
Wie ein Adler schweben
Und in dir nur leben!
Thea hatte die Hände gefaltet und wiederholte leise die letzten Worte: »Und in dir nur leben.« »Röschen«, sagte sie dann, »ich will es immer mehr lernen, Gott hat mir das Leben wieder geschenkt, es soll mit seiner Hilfe ein neues Leben werden. Glaubst du, daß mein Heiland mir alles vergeben wird?«
»Ja, das glaube ich, liebe Thea. Der gesagt hat: ›Wenn eure Sünden gleich blutrot wären, so will ich sie doch schneeweiß waschen‹ wird diese Verheißung auch an dir erfüllen. Aber nun rege dich nicht auf; du darfst eigentlich noch gar nicht sprechen, sonst muß ich gehen.«
»Ich bin durch den Schlaf sehr erquickt worden und möchte gerne noch etwas sagen. Es steht jetzt alles in einem andern Licht vor mir. Ich möchte alles vergessen, was dahinten liegt, und mein Leben dem weihen, der es mir wieder geschenkt. Womit kann ich das am besten?«
»Ich denke mir, wenn du rechte Treue übst in deinem irdischen Beruf, den Gott dir geben wird.« »Meine Stelle werde ich wohl verlieren, weil ich zu schwach bin, aber vielleicht findet sich später etwas anderes. Sage mir nur noch das Eine. Wer hat mich so treu gepflegt, wer hat mir, wenn der Kopf brannte, kühle Umschläge gemacht und seine weiche Hand auf meine Stirn gelegt?«
Röschen erschrak. »Deine Mutter hat bei dir gewacht, auch Wilhelmine und ich.« »Es war noch jemand da. Sie sah aus wie Josepha, aber ich kann nicht glauben, daß sie es war.« Sie sah Röschen forschend an, so daß diese nicht ausweichen konnte. »War es Josepha?« Röschen nickte. »Die gute, liebe Josepha!« rief Thea; »ich wollte, ich könnte ihr danken. Ob sie wohl noch einmal zu mir kommen mag?«
»Wenn du etwas wohler und kräftiger bist, tut sie es gewiß. Es wird ihr eben selbst schwer sein.« »Das glaube ich, das glaube ich, aber sie wird es mir zuliebe tun.«
Und Josepha tat es ihr zuliebe. Sie kam, als Thea das erste Mal außer Bett war. Sie waren lange allein. Als Josepha ging, standen ihre Augen voll Tränen. Thea hatte sie gebeten, alle Geschenke, die sie vom Bruder hatte, ihm zurückzugeben und ihm zu sagen, daß sie ihm vergeben habe; er solle aber nie daran denken, ihr zu schreiben oder selbst zu kommen. Ferner ließ sie ihn bitten, seiner nunmehr rechtmäßigen Braut nichts von seiner vorherigen Verbindung mit ihr zu sagen, sie wünsche dringend, daß Elsbeths Glück nicht getrübt würde. Aber dafür solle er seiner Braut und zukünftigen Frau zeit seines Lebens die Treue wahren, denn nichts sei trauriger, als getäuscht zu werden.
Gerade jetzt wurde Alexander von Langen in ein anderes Regiment versetzt in eine kleinere Garnisonstadt. Es war für alle Teile gut, so war eine Begegnung ausgeschlossen. Josepha verließ in kurzer Zeit die Stadt, um auf ihr Gut zu gehen. Am liebsten hätte sie Thea mitgenommen und sie herausgepflegt, aber da das unter den obwaltenden Umständen nicht ging, ließ sich vielleicht in anderer Weise etwas für sie tun.