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Eine Strecke konnten die Mädchen alle zusammen fahren. Sie waren froh darüber, daß sie ein Abteil für sich hatten, so konnten sie plaudern nach Herzenslust. Sie sprachen viel von Thea, die nun so traurige Tage verlebte. Josepha meinte, sie würde sie bald wiedersehen, ihre Güter grenzten aneinander, und die Eltern verkehrten zusammen. Röschen wußte dies. Thea hatte ihr oft erzählt, daß sie mit Josepha von Langen und ihrem Bruder Alexander schon von Kindheit an befreundet gewesen sei, doch schien es immer, als ob die beiden Mädchen nicht gut zueinander paßten, in der Pension waren sie nie intim gewesen. Röschen dagegen hatte sich immer sehr zu der lustigen, etwas leichtlebigen Thea hingezogen gefühlt, sie bedauerte heute, daß sie die Reise nicht zusammen machen konnten; sie verstanden sich sehr gut und hatten immer etwas zu beraten. Mit Olga, der »Polizeimeisterin«, wie sie allgemein in der Pension genannt wurde, hatte sie nicht viel gemein, es mochte wohl daher kommen, daß sie stets etwas an ihr zu tadeln fand, daß sie immer verstand, Röschens Fehler in ein grelles Licht zu setzen. Auch jetzt, da sie ihr gegenübersaß, musterte sie sie mit Kennermiene. »Röschen, an deiner Jacke ist unten ein Knopf lose, den hättest du dir festnähen können; auf deinem Hut liegt etwas Staub.« – »Olga, laß jetzt nur das Tadeln, du bist nicht meine Gouvernante, wir wollen uns die letzten Stunden des Beisammenseins nicht verbittern.« »Das denke ich auch«, sagte die sanfte Josepha, die eigentlich der Liebling der ganzen Pension war. Aber weil sich alle um ihre Gunst bewarben, hatte Röschen sich ihr bisher wenig genähert, gefallen hatte sie ihr jedoch immer, und als Vorbild nahm sie sie lieber als die selbstgerechte Olga, die sich gern mit ihrem Wissen und Können über alle erhob. Meta war, wie immer, die stillste; sie war die am wenigsten Gekannte in der Pension, weil sie sich stets zurückzog und viel allein war. So fiel es auch heute nicht auf, daß sie still und gedrückt in einer Ecke saß und träumerisch zum Fenster hinaussah.
»Ich werde nun bald einen andern Weg einschlagen, ihr Lieben«, sagte Olga. »An der nächsten Station muß ich aussteigen, dort habe ich Aufenthalt. Hoffentlich sind meine Verwandten an der Bahn, geschrieben habe ich.« Sie packte ihre Sachen zusammen, und nach kurzer Zeit hielt der Zug an einem Kreuzungspunkt der Bahn. Olga schüttelte allen kräftig die Hand, man wünschte sich gegenseitig glückliche Heimkehr – da riefen schon ein paar Damen: »Olga, liebe Olga, da bist du ja.« Die eine, ziemlich umfangreich, mit kurzem Atem, konnte nicht so schnell herbeilaufen, während die jüngere, Olgas Kusine, diese bereits abküßte und ihr die Sachen abnahm. Nun gesellte sich noch ein Herr dazu, wahrscheinlich der Onkel. Man ging ins Restaurant, sich zu erfrischen – da wurden auch schon die Türen zugeschlagen, der Zug ging weiter und unsere drei Mädchen fuhren unaufhaltsam weiter, der Heimat entgegen.
»Nun werde ich wohl die Erste sein, die aussteigt«, sagte Josepha, »unser Gut liegt nicht weit von der Station Tiefensee, dort werde ich abgeholt.« »Dann bleiben nur wir beide übrig, Meta«, sagte Röschen freundlich. »Wie weit fährst du?« – »Bis Beckedorf«, war die Antwort. »Beckedorf? Das ist ja ein Städtchen in unserer Nähe, sieh, da wohnen wir gar nicht weit voneinander. Man fährt von Beckedorf bis A. nur eine Viertelstunde. Du bist gewiß schon oft in der Residenz gewesen, willst du mich nicht einmal besuchen; wir wohnen der Nikolaikirche gegenüber.« Meta wurde wieder, wie immer, rot und antwortete befangen: »Ich weiß nicht, ob ich nach A. kommen werde.« »Nun, dann werde ich einmal nach Beckedorf kommen und dich besuchen, ist es dir recht?« Meta antwortete nicht, sondern errötete noch tiefer. Die häuslichen Verhältnisse mochten wohl eigentümlicher Art sein. Röschen beachtete Metas Verlegenheit nicht weiter. Sie wußte, Metas Mutter war Witwe und lebte bei ihrem Vater; vielleicht liebte der letztere keinen Besuch, dann wollte sie natürlich nicht lästig fallen.
»Röschen, meine Eltern gehen nächsten Winter nach A., dann können wir beide uns mitunter sehen«, sagte Josepha freundlich. »Oh, liebe Josepha, das wäre wunderschön«, rief Röschen erfreut, »dann habe ich doch eine Pensionsfreundin in der Nähe.« Josepha und Röschen unterhielten sich jetzt eifrig, keine bemerkte, wie sich über Metas Wange eine Träne stahl.
Nach mehrstündiger Fahrt war man in Tiefensee. Nun war es an Josepha, auszusteigen. Röschen wollte ihr eben ihre Sachen hinausreichen, da eilte ein Diener herbei, der das junge Fräulein ehrfurchtsvoll grüßte und sich mit ihrem sämtlichen Gepäck belud. Die beiden Zurückgebliebenen sahen dann, nachdem Josepha sich freundlich verabschiedet hatte, wie ein eleganter, offener Wagen an der Seite des Bahnhofsgebäudes hielt, wie ein junger Leutnant auf Josepha zueilte und sie brüderlich begrüßte, wie sich Josepha hurtig in den Wagen schwang und mit ihrem Bruder davonfuhr.
»Wie ist sie reizend«, fuhr es Röschen heraus, »ich glaube, ich könnte sie sehr lieb haben!« »Und ich könnte dich lieb haben«, hätte Meta sagen mögen, wenn alles gewesen wäre, wie es hätte sein müssen. So schwieg sie, und Röschen schwieg natürlich auch, was ihr schwer wurde, denn sie redete gern, aber sie mochte nun nicht noch einmal anknüpfen. Es hätte so hübsch sein können, wenn sie beide sich nun, als die nächst Wohnenden, recht eng aneinander hätten anschließen können, aber wenn Meta einmal nicht wollte, – es gab ja schließlich in A. Freundinnen genug. So sahen sie beide zum Fenster hinaus, jede in einer Ecke des Wagens, ihren Gedanken nachhängend. Ab und an wurde eine kurze Bemerkung gemacht über gleichgültige Gegenstände, oder man verzehrte eine Semmel, bis endlich der Schaffner Metas längst ersehnte Station abrief. Sie erhob sich, als die Tür geöffnet wurde, und Röschen konnte, als sie ihr die Handtasche hinausreichte, nicht unterlassen, zu sagen: »Ich hoffe, Meta, wir sehen uns doch einmal.« »Ich hoffe es auch«, war die von einem leisen Seufzer begleitete Antwort, dann ergriff sie plötzlich Röschens beide Hände und drückte sie so warm und innig, wie nur jemand tun kann, der viel Gefühl hat. Ein inniger Blick aus den schönen, tiefblauen Augen traf Röschen, daß diese ganz überrascht war. Dann schlüpfte sie davon. Neugierig sah die Zurückgebliebene ihr nach, sie hätte gern gewußt, wer wohl zu Metas Abholung gekommen sei. Diese schritt allein ihres Weges, ohne sich umzublicken. Sie schien nicht erwartet zu werden. Röschen schüttelte den Kopf. Ein seltsames Mädchen, so scheu und unnahbar, und doch lag in dem letzten Blick etwas Anziehendes, Fesselndes! Sie beschloß, sie gelegentlich doch aufzusuchen, sie hätte zu gerne einen Blick in die häuslichen Verhältnisse getan.
Röschen war nun allein. Sie ließ das eben verlebte Jahr noch einmal an sich vorübergehen, gedachte aller Pensionsfreundinnen, besonders ihrer lieben Vorsteherin und deren liebevoller Ermahnungen und Lehren. Beim Andenken an die letzteren stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Sie mochte so vieles, was sie nicht durfte, hatte aber seit gestern den Entschluß gefaßt, alles zu lassen, was für ein junges Mädchen nicht wohlanständig war. Nun, Großmutter würde schon mit dafür sorgen, daß alles einen guten Gang ging, und wenn sie das ausführte, was sie sich gestern nach der Unterredung mit Fräulein Hochberg vorgenommen hatte, dann mußte sie in Kürze ein ganz gesetztes Frauenzimmer werden. Wie gut, daß sie es Olga nicht gesagt hatte, sie würde sie recht verspottet haben. Nun dachte sie an das liebe Elternhaus, was würden sie alle sagen, wenn sie, die Älteste nach einjähriger Abwesenheit nach Hause kam. Das Herz fing an mächtig zu schlagen. Jetzt pfiff es ja schon, nun rollte der Zug langsam in die Bahnhofshalle, jetzt hielt er. Ehe sie sich's versah, wurde die Wagentür aufgerissen von der kräftigen Hand eines etwa fünfzehnjährigen Gymnasiasten, und mit den Worten: »Guten Tag, Röschen, bist du glücklich da, Alte«, bemächtigte er sich ihres Handgepäcks und schritt dann an der Seite der erwachsenen Schwester der Stadt zu. Er mußte von daheim erzählen, und tat es nach Art der Brüder nur, indem er die rasch hintereinander von Röschen gestellten Fragen kurz und knapp beantwortete. »Wie geht's in der Schule, Philipp, du bist doch nicht heruntergekommen?« »Seit Weihnachten nicht«, war die Antwort. »Wie schön«, rief Röschen, »da werden sich die Eltern freuen.« Philipp machte ein etwas verlegenes Gesicht, als ob die Freude der Eltern zweifelhaft sei. »Warum sind denn Emmi, Nanni und Miezi nicht zum Abholen gekommen?« »Weil sie noch mit Empfangsfeierlichkeiten zu tun hatten, du weißt, sie tun immer alle drei dasselbe.« Nach einem viertelstündigen Gang waren sie bei der Nikolaikirche angelangt, in deren Schatten das traute Pfarrhaus lag.