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»Nun geht Herr Bruger fort«, rief Philipp den drei Schwestern zu, »nun gerade, da ich ihn lieb habe und wir uns so gut verstehen.«
»Der Herr Vikar geht fort, oh, wie schade«, klagte Emmi, »ich bin ihm immer gut gewesen.« – »Nein, ich hab' ihn am liebsten«, sagte Miezi. »Schweig doch«, warf Nanni ein, »ich habe immer gesagt, als Philipp ihn nicht mochte, er wäre ganz gut. Er war nur streng, weil Philipp so fürchterlich faul war.« »Bitte den Mund zu halten, Mamsell Naseweis«, versetzte der Tertianer mit Nachdruck, »wir wollen uns hier nicht streiten, wer ihn am liebsten hat, sondern alle gleichmäßig bedauern, daß er uns verlassen muß.« »Wer soll denn Ball mit uns spielen und im Winter Salta, Halma oder Mühle«, rief Miezi verzweifelt. »Der neue Vikar«, versetzte Philipp ruhig.
»Kommt denn ein neuer?« »Natürlich, der Vater kann nicht ohne Hilfe durchkommen.« »Ein neuer!« – wiederholten sie alle drei nacheinander und schwiegen dann, als ob sie Zeit brauchten, diesen Gedanken zu fassen. »Aber wo will denn Herr Bruger bleiben«, unterbrach endlich Nanni das Schweigen. »Er wird eine Pfarrstelle bekommen, er kann doch nicht immer Vikar bleiben.«
Als Herr Bruger zu Tisch erschien, bestürmten sie ihn, ihnen doch zu sagen, wo er Pfarrer würde. Er lächelte und sagte: »Wahrscheinlich ganz in der Nähe«, nannte aber den Ort nicht.
Ob er denn Sachen habe, ein Pfarrhaus einzurichten, und ob er denn eine Frau Pfarrerin habe, fragten die vorwitzigen Mädchen, worauf Herr Bruger antwortete und sagte, die würde sich schon finden, es gäbe ja genug Mädchen auf der Welt. Ja, wenn die Mutter lebte, meinte Miezi, dann könnte Röschen mitgehen und ihm die Wirtschaft führen, die sei alt genug, aber sie müsse der Großmutter helfen und könne nicht von den Kleinen fort.
Röschen trat eben mit der Suppenschüssel ein, hörte das letzte und fragte harmlos: »Wohin soll ich gehen?« »Schweigt und redet keinen Unsinn«, fuhr Herr Bruger die Mädchen an, die, solche Strenge von Herrn Bruger gegen sie nicht gewöhnt, erschrocken den Mund hielten und still ihre Plätze aufsuchten. Der Vater erschien eben mit der Großmutter, ein Zeichen, daß das Mittagessen seinen Anfang nahm. Die Rede kam bald wieder auf Herrn Brugers Fortgehen, das die Großmutter besonders lebhaft bedauerte. Sie hatte immer gut mit dem Vikar gestimmt und seine Vorzüge erkannt.
»Also nach Beckedorf gehen Sie als Pfarrer, mein lieber Vikar«, rief sie mit Wärme. Sie hätte am liebsten hinzugefügt: »Mein liebes Beckedorf«, unterließ es aber, da niemand erfahren sollte, was für eine Bedeutung der Ort für sie hatte.
Herr Bruger hatte heute ein besonderes Auge auf Röschen. Wie war sie so anmutig und hübsch, wie geschickt stellte sie sich an beim Austeilen der Suppe, wie sehr hatte sie gewonnen seit dem Tode der Mutter! Ja, die drei hatten recht, Röschen konnte mit ihm gehen und seine Pfarrfrau werden, das Röschen, für das er schon lange ein stilles Interesse gehabt. Könnte er nur erfahren, wie sie selber darüber dächte? Aber die Großmutter war seine Freundin, ihr wollte er sich anvertrauen, sie sollte für ihn um Röschen werben.
So vergingen einige Tage. Da rief Großmütterchen ihre älteste Enkeltochter hinauf in ihre Stube. Es war Dämmerstunde, zu welcher Zeit gewöhnlich alle Kinder kommen durften und sich um den Stuhl der Großmutter scharen. Heute hatte Frau Elsner Emmi, Nanni und Miezi mit den drei Kleinen zu Frau Lina geschickt. Diese freute sich, wenn die Kinder ihrer früheren Herrschaft bei ihr hereinsahen, und die Kinder waren sehr beglückt, wenn sie Erlaubnis dazu bekamen.
»Großmütterchen, warum hast du alle Kinder fortgeschickt, du bist so ernst, so feierlich, habe ich etwas nicht recht gemacht, willst du mich schelten?«
»Nein, mein liebes Kind, ich will eine wichtige Angelegenheit mit dir beraten. Du weißt, Herr Bruger geht fort –« »Ach Vater hat wohl einen andern Vikar in Aussicht –« »Darüber weiß ich nichts, mein Kind. Es ist eine andere Sache, die ich mit dir besprechen möchte, du weißt, Herr Bruger verläßt uns in den nächsten Tagen, um Pfarrer in Beckedorf zu werden. Möchtest du mit ihm ziehen, mein Kind, und seine Frau werden?« Ihre Stimme zitterte, als sie dieses sagte, obwohl sie sich zwang, ruhig zu sein. Röschen sollte nicht merken, wie schwer ihr das Opfer wurde, sie hinzugeben. Sie hatte ihre Hand gefaßt und strich mit der andern über den blonden Scheitel des Mädchens. Diese sah die Großmutter erschrocken an. Dann schlang sie beide Arme um Frau Elsner und rief: »Nein, Großmutter, verlassen kann ich weder dich noch den Vater, dazu habe ich euch viel zu lieb, wenigstens viel, viel lieber als Herrn Bruger.« »Hast du ihn denn gar nicht ein wenig lieb?« fragte die Großmutter, halb erleichtert, wenn sie an sich dachte, halb betrübt, wenn sie sich die Enttäuschung des jungen Pfarrers vorstellte. »Ob ich ihn lieb habe?« wiederholte Röschen sinnend. »Nun ja, ein wenig, weil er unser Hausgenosse ist, aber erst kommt ihr alle, das ist doch natürlich.« Nun wußte die Großmutter, daß für Herrn Bruger nichts zu hoffen war. Röschen sagte traurig: »Ja, bitte, liebe Großmutter, sage es ihm; er kann sich ja leicht eine andere Frau nehmen, es gibt so viele Mädchen.« Damit war die Sache äußerlich abgetan, und Röschen schien wenig davon berührt. Anders war's, als sie abends zu Tisch gingen und es hieß, Herr Bruger könne nicht erscheinen, er habe arge Kopfschmerzen. Da errötete Röschen, und der Gedanke, daß sie Herrn Bruger vielleicht betrübt habe, war ihr schmerzlich.
Als sie am andern Morgen mit den Kleinen im Wohnzimmer war, öffnete sich die Tür, der Vikar trat ein. Sonst würden sie harmlos miteinander geplaudert haben. Heute grüßte er nur, gab den Kleinen, die ihm die Händchen entgegenstreckten, die Hand, und verließ das Zimmer schnell, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Das war ein ungemütlicher Zustand, ob das nun so bleiben würde? dachte Röschen. Doch übermorgen ging ja schon der Vikar, dann war überhaupt der Verkehr mit ihm zu Ende. Der Vater hatte gestern gesagt, einen so tüchtigen Mann würde er nie wieder bekommen, er würde bei seiner Begabung, seiner Treue und Gewissenhaftigkeit ein ausgezeichneter Pfarrer werden. Sie war immer sehr gleichgültig gegen seine Vorzüge gewesen, hatte sich früher, als halberwachsenes Mädchen, vorgenommen, ihn um seiner Strenge gegen Philipp willen zu hassen, und hatte sich bemüht, alles Tadelnswerte an ihm herauszufinden. Seit dem Erlebnis mit Philipp hatten sich ihre Ansichten über ihn geändert; sie fand ihn liebenswürdiger und zugänglicher, aber ans Heiraten hatte sie nie gedacht; sie war ja noch so jung und er so alt, wenn auch nicht dreißig, so doch achtundzwanzig Jahre, wie sie kürzlich erfahren hatte.
Die ganze übrige Familie trug ihr Bedauern über Herrn Brugers Fortgang offen zur Schau. Emmi, Nanni und Miezi halfen ihm eifrig beim Büchereinpacken, trugen ihm ihre Alben hin, damit er zur Erinnerung hineinschriebe, Eva wollte ihm ihre liebste Puppe schenken, Lieschen aber und Trudi behaupteten, sie wollten mit Herrn Bruger gehen und gar nicht wiederkommen. Bei dem allen wurde Röschen jedesmal sehr verlegen, sie wünschte fast, der Tag der Abreise wäre erst vorüber.
Am Nachmittag vor diesem Tag hatte sie eine Besorgung in der Vorstadt, da kam Thea auf sie zugeeilt. »Wie gut, daß ich dich treffe, Röschen, ich muß dir etwas Wunderschönes erzählen, aber du mußt es als strengstes Geheimnis bewahren.« Röschen, sehr begierig, dies große Geheimnis zu erfahren, versprach, alles für sich zu behalten, und hörte nun zu ihrem Erstaunen, daß Thea sich verlobt habe, und zwar mit Josephas Bruder. Sie gratulierte ihr herzlich und fragte, wann die Verlobung veröffentlicht werde und was Josepha dazu gesagt. »Josepha ahnt nichts davon, und unsere Eltern ebenfalls nicht, nur dir habe ich es anvertraut, weil du meine Freundin bist. Ich hoffe, du wirst uns nicht verraten.« Röschen starrte sie erschrocken an. »Du hast dich verlobt, und deine Mutter weiß nichts davon«, sagte sie endlich, »das ist ja unrecht, Thea, ich hätte es dir nicht zugetraut.« »Nun kommst du wieder mit deinen strengen Ansichten. Wir haben uns beide lieb, und Alexander hat versprochen, mich zu heiraten – aber er kann seinen Eltern noch nichts davon sagen, da ich kein Vermögen habe und die Sache Schwierigkeiten hat. Meine Mutter soll es deshalb auch noch nicht wissen, und nun laß das gut sein, wir sind glücklich.« »Wie kann man glücklich sein hinter dem Rücken der Eltern, Thea, das hättest du nicht tun sollen; ich wollte, du hättest es mir gar nicht gesagt.«
»Ich glaubte, du würdest als Freundin dich mit mir freuen über mein Glück, früher warst du anders.« »Ich habe in dem letzten Jahre seit dem Tode meiner lieben Mutter viel gelernt, und Fräulein Hochbergs Lehren und Ermahnungen stehen mir immer deutlich vor Augen und im Herzen. Denkst du nicht auch daran?«
Thea warf ihr Köpfchen zurück und sagte: »Man bleibt doch nicht immer auf der Schulbank.« »Wie wird es denn mit deiner Stelle, die du im Sommer annehmen wolltest?« »Die sage ich nicht ab, wir können noch nicht gleich ans Heiraten denken. Aber weißt du, wir kennen uns schon so lange und sind uns immer gut gewesen. Diesen Winter haben wir uns oft getroffen, und gestern, als wir vor der Stadt ein wenig spazieren gingen, hat er es mir gesagt. Und nun schweige, verrate mich nicht.«
Röschen kam sehr nachdenklich nach Hause. Es war ihr so bange ums Herz, am liebsten hätte sie der Großmutter alles gesagt, der treuen Großmutter, die mit ihrem klaren, wahren Gemüt immer das Rechte zu sagen und zu raten wußte. Wie prächtig war sie gewesen, als sie ihr die Sache mit Herrn Bruger gesagt hatte. Ja, es mußte wohl ganz schön sein, wenn zwei sich so lieb hatten, daß sie sich fürs Leben verbanden, aber ohne den elterlichen Segen nie.
Zu Hause wurde sie empfangen mit den Worten: »Röschen, du gehst spazieren, und wir schwitzen hier bei der Arbeit. Wir haben Herrn Bruger so schön geholfen, und du kümmerst dich um gar nichts.« »Fräulein Röschen mag mir nicht helfen«, sagte Herr Bruger, der gerade dazu kam, und sah sie traurig an. »O doch, Herr Bruger«, versetzte Röschen verlegen, und dunkle Glut färbte ihre Wangen. »Röschen geht in die Küche und bereitet unserm Vikar das letzte Abendbrot, da tut sie auch etwas für ihn«, entschied die Großmutter, und Röschen, dankbar, daß die Großmutter wieder das rechte Wort gefunden hatte, ging hinaus, froh, der schwierigen Lage enthoben zu sein.