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Die hohe Flut des dramatischen Jahrhunderts versiegte, die leidenschaftlichen Gespräche mit Gott verstummten. In einem unvergleichlichen Aufschwung war das Gewölk aufgerissen, das die Erde vom Himmel trennt, und die Völker fühlten sich angerufen von der Stimme des Ewigen. Nachdem der Himmel sich wieder geschlossen hatte, blieb die Erinnerung des großen Erlebnisses zurück, aber sie ging nicht mit der Kraft des Wirklichen in die Herzen ein. Die Tatsache Gott erfüllte noch das Bewußtsein; aber es war für viele nicht der persönliche Gott, zu dem Luther betete, der Vater und Richter, dessen Antlitz über seinem Volke leuchtet. Auf den protestantischen Kanzeln tobte die Schlacht der Theologen, die sich wegen der Ubiquität oder wegen der Verderblichkeit der guten Werke gegenseitig verdammten; für sie war Gott eine von ihnen zu lösende Streitfrage. Von den Denkenden, die Gott glaubten und Gott suchten, begriffen ihn viele als die Weltseele, die Harmonie des Weltalls, die Musik der Dinge, die sie zum Ganzen fügt, nicht als Person. Das war eine geistige Ermattung; aber es war auch das Bedürfnis, das Bild dessen, den keine Namen nennen, nach einer Richtung zu ergänzen, die die vorausgegangenen Geschlechter übersehen hatten. Jene hatten den Herrn angebetet, der zum Menschen spricht: du sollst heilig sein, denn ich bin heilig, der fordert und richtet; nun sehnte man sich nach dem Gott, den man im Rauschen der Bäume, im Zuge der Wolken, in der Ordnung der Sterne anschauend ahnt. Der Pantheismus griechischer Naturphilosophie wurde begierig ergriffen. Spinoza, der klassische Philosoph des Pantheismus, ging von der metaphysischen Gottesidee aus, der er zwei Eigenschaften zuschrieb, das Denken und die Ausdehnung, in die er insofern die Natur einbezog. Die Laien folgten in der Regel den strengen, mathematisch bedingten Gedankengängen des einsamen jüdischen Scholastikers nicht, ihr Pantheismus war eine Vergöttlichung der Natur. Nachdem Gott lange als sittliche Macht im Gewissen verherrlicht worden war, wollten sie in der göttlich-mütterlichen Natur ruhen, sich eins mit ihr fühlen, in ihr untergehen.
Als eine wundervolle Frucht dieses gefühlsmäßigen Pantheismus entstand um die Wende des 16. Jahrhunderts die Landschaftsmalerei; es ist kein Wunder, daß sie hauptsächlich in Holland, der Heimat Spinozas, gepflegt wurde. Zuerst erschien die Landschaft als eine Beigabe zu dargestellten Menschen. Auf den Porträts des 15. und 16. Jahrhunderts blickte man wohl am Antlitz des Mannes oder der Frau vorüber durch ein Fenster auf einen ein Tal durchströmenden Fluß oder auf eine einen Felsen krönende Burg, die auf des Dargestellten Beziehung zur heimischen Erde deutete. Auf den Bildern des 1578 in Frankfurt geborenen Adam Elsheimer, Wunderwerken kleinen Formats, die die Zeitgenossen entzückten, war die Landschaft der hauptsächliche Gegenstand, den der Mensch begleitete. Ob er die Predigt des Täufers oder eine mythologische Szene, eine antike Idylle malte, die Personen waren gleichmäßig verschlungen in Wäldern und Gewässern und bläulicher Ferne. Die handelnden Figuren seiner Geschichte sind eigentlich die Bäume, Urväter der Menschen, ehrwürdige Häupter, die überwunden haben, was jene noch quält. Der feierliche Choral ihrer Stimme voll unaussprechlicher Weisheit rauscht über dem bunten Geschick der Menschen hin, ihre Drangsal beschwichtigend, ihre Lust und Freude auslöschend. Das Aufblinken eines Teiches, eine Blume, die aufblüht oder sich entblättert, das Lodern einer Flamme ist wesentlicheres Geschehen als die Tragödien der Menschheit. Daß die Menschen auf diesen Bildern oft mit leichtem Fuß vorübereilen wie Joseph und Maria auf der Flucht nach Ägypten oder Tobias mit dem Engel, scheint darauf hinzudeuten, daß die Natur das Dauernde, der Mensch etwas Unstetes, Vorübergleitendes ist. Architektur kommt auf Elsheimers Bildern fast nur in Gestalt von Ruinen vor, Menschenwerk, das allmählich wieder in die Natur zurückbröckelt.
Manchmal, besonders wenn auf der Wiedergabe die Farbigkeit dieser Bilder wegfällt, möchte man Elsheimer einen Vorläufer Rembrandts nennen, jenes großen germanischen Künstlers, der vier Jahre vor Elsheimers Tode geboren wurde, obwohl er, ganz verschieden von Elsheimer, der sublimste Maler des Protestantismus war. Aber auch er malte das Unendliche, die Geheimnisse der Natur, alles was dahinflutet, nachdem die Feste, die den Erdenmenschen im Mittelalter umschloß, durchbrochen war. Auch er malte den Menschen als etwas Fließendes im Äther, das Innerliche löst bei ihm das Äußere auf. Und so sieht man doch den Anteil, den Luther an dieser Kunst hat. Ohne daß Luther vorausgegangen wäre, hätte Rembrandt die Tragödie der Menschheit, wie das Alte und das Neue Testament sie schildern, nicht so darstellen können, wie er getan hat. Das frühe Mittelalter konnte Gott und die Heiligen überirdisch darstellen, indem es die Form dem Menschlichen entrückte; Rembrandt tat es auf eine neue Weise, indem er die Gestalten von innen verklärte. Er malte das Fleisch, wie es von der Flamme des Göttlichen verzehrt wird.
Der rauschende Baum und die schwimmende Wolke auf den Bildern Elsheimers, Rembrandts schmelzender Umriß, sie leiten über zur Musik, der größten Offenbarung des 17. Jahrhunderts, derjenigen Kunst, die, von allen Künsten am innigsten mit der Religion verbunden, in Deutschland ihre höchste Vollendung erreicht hat. Mathematik und Magie, auf diesen beiden Gebieten schrieb man im 16. Jahrhundert den Deutschen die Meisterschaft zu; zu ihnen gesellte sich die Musik, mit beiden verwandt, vielleicht ein Ergebnis beider, Bezauberung erwachsen aus der Mathematik. In Italien, Frankreich, England und den Niederlanden war Musik in den verflossenen Jahrhunderten erfolgreich gepflegt worden, eine Kunstübung, die fast wissenschaftlich durchdacht und erlernbar war. Von den Musikkapellen, die Fürsten hielten, um kirchlichen und weltlichen Festen Glanz zu verleihen, waren die des Kaisers Maximilian und des Kurfürsten Friedrich von Sachsen die berühmtesten. Sie bezogen die Musik hauptsächlich aus Flandern, doch gab es nun auch schon namhafte deutsche Komponisten. Sie arbeiteten ganz im flandrischen oder italienischen Stil; die folgenreiche Wendung zu deutscher Eigenart kam der Musik aus dem Luthertum.
Die bibelgläubigen Sekten, Waldenser, Wiclifiten, Hussiten, verwarfen das Erbauen und besonders das prächtige Schmücken von Kirchen, teils aus Entrüstung über den Aufwand, während arme Brüder Hunger litten, teils im Hinblick auf gewisse Bibelstellen, die darauf hinwiesen, daß Gott zu groß, zu unfaßbar sei, als daß er in Häuser gebannt und dort angebetet werden wolle. Diese Einstellung hatte auch Luther: die Liebe des Nächsten sei wichtiger als Kirchenbauen, sagte er, wenn es auch nicht böse sei, und er erinnerte an die Worte des Jesaias: »Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fußbank; was ist's denn für ein Haus, das ihr mir bauen wollt!« Andererseits war er viel zu konservativ, um etwa die Verehrung Gottes in Gotteshäusern abschaffen zu wollen; aber er hat doch, ohne sich das zum Ziel zu setzen, eine neue Kirche gebaut oder doch den Grund dazu gelegt, eine unsichtbare, eine Kirche aus Musik. Nicht das Gesicht, das Gehör, sagte er, sei das eigentliche Organ des Christen, das Organ für die unsichtbaren Dinge. Er hat sich viel mit den Geheimnissen der Musik, die er so sehr liebte und die so große Gewalt über ihn hatte, beschäftigt. Um ihr Wesen zu bezeichnen, wies er ihr den Platz gleich neben der Theologie an, und wenn sein Freund, der Kantor Walther, mit dem zusammen er die deutsche Messe ausarbeitete, gelegentlich schrieb, die Musik gehöre eigentlich und erblich der heiligen Theologie, ja sie sei so in sie eingewickelt und verschlossen, daß, wer die Theologie begehre und studiere, auch die Musik darunter verstehe, so war das gewiß ein Nachklang seiner Gespräche mit Luther. Luthers Auffassung der Musik hat sich seiner Umgebung so eingeprägt, daß sie sogar in amtlichen Dokumenten erschien. Als der Kurfürst Johann Friedrich der Kantorei einen Zuschuß versprach, führte er als Begründung an, daß der Ehrwürdige und Hochgelahrte, Doktor Martin Luther, ihn mündlich und schriftlich höchlich ermahnt habe, die Musik, die vor allen anderen Künsten der Theologie nahe sei, erhalten zu helfen, und der Rektor der Universität Wittenberg sagte in einem Ausschreiben, Gott habe den Sinn für Harmonie, die Gesänge und die Kunst des Singens dem menschlichen Geschlecht darum gegeben, weil der Gesang die himmlische Lehre verbreite und erhalte. Im Verein mit Walther hat Luther die Musik zu einem erheblichen Teil des evangelischen Gottesdienstes gemacht. Von dem protestantischen Historiker Sleidan stammt die Nachricht, Luther habe die Melodie zu seinem Liede: »Ein feste Burg ist unser Gott« selbst gefunden; es ist nicht unmöglich, wie es auch möglich ist, daß ihn eine volkstümliche Weise des Mittelalters dabei beeinflußt hat. Auch auf dem Gebiete der Musik war er Bewahrer der mittelalterlichen Überlieferung. Er liebte sowohl den einstimmigen gregorianischen Gesang wie die volkstümlichen Weisen deutscher Lieder, die hier und da in den Kirchen gesungen wurden, wie auch, und zwar ganz besonders die von den Niederländern gepflegte Kunstmusik, den sogenannten Figuralgesang. Die Eigentümlichkeit desselben bestand darin, daß eine Stimme, nämlich der Tenor, die Choralmelodie führte, den Baß, Diskant und Alt mit verschlungenen Figuren umspielten, was Luther selbst mit inniger Freude an dem labyrinthischen Vielklang anschaulich geschildert hat. Trotz manchen Widerspruchs behielt Luther den Figuralgesang als Teil des Gottesdienstes bei und sorgte dafür, daß er in den sächsischen Kantoreien, die es bald fast in jeder Stadt, ja in manchem Dorfe gab, gepflegt wurde. Es ließ sich dagegen einwenden, daß es der Gemeinde nicht möglich war mitzusingen, weil die Tenorstimme, der sie sich hätte anschließen müssen, in der Umschlingung der figurierenden Stimmen versteckt war; vierzig Jahre nach Luthers Tode hat man deshalb die Führung auf den leichter herauszuhörenden Diskant übertragen. Für die Gemeinde sorgte Luther durch Einführung des Gemeindegesanges, zu dem er nicht selten die Melodien weltlicher Volkslieder benutzte. Obwohl die Gemeinde sich mancherorts das Mitsingen erst allmählich aneignete, so haben wir doch Zeugnisse dafür, daß gerade der gemeinsame Gesang das Volk unwiderstehlich zum protestantischen Gottesdienst zog. Auch den Gegnern fiel das auf, und von katholischen Obrigkeiten wurde verboten, die evangelischen Lieder zu singen, die wie ein Zaubertrank die Seelen mit der neuen Lehre durchfluteten. Es wird berichtet, daß der Bischof von Paderborn seinen Kaplan nach Lemgo schickte mit dem Auftrage, die Bürger in der Marienkirche vom Singen der neuen Lieder abzuhalten; indessen wurde der Bote wider Willen von der magischen Musik so ergriffen, daß er plötzlich in den Gesang einstimmte. Da schickte der altgläubige Bürgermeister einen Ratsdiener in die Kirche, damit er die Namen derer, welche die verbotenen Lieder sängen, zum Zwecke der Bestrafung aufnotiere. Er kam zurück und meldete, daß sie alle miteinander sängen. »Ei, alles verloren«, soll der Bürgermeister ausgerufen und die musikverzauberte Stadt verlassen haben. In diesen Gesängen, so scheint es, wurde dem deutschen Volke faßbar, was Umwälzendes und doch mit seiner Seele Übereinstimmendes im evangelischen Glauben war.
Das Wesen dieses Neuen, soweit es von der Musik ausging, beleuchten vielleicht einige Urteile Luthers über zeitgenössische Komponisten, wenn er zum Beispiel meinte, der Autor habe wohl die Regeln beobachtet, aber Lieblichkeit und Freiheit fehle, auch in der Musik gebe es Gnade und Gesetz, Musik müsse daher ungezwungen daherfließen, wie der Fink singe. Er lobte den Niederländer Josquin, der die Noten meistere, nicht von ihnen beherrscht werde. Zu den mathematischen Berechnungen, auf denen die von Luther hochgeschätzte, wesentlich konstruktive Musik des Mittelalters beruhte, sollte die Inspiration kommen, die Eingebung göttlicher Gnade, die keine Kunstfertigkeit erzwingen kann. Der Zusammenhang der evangelischen Musik mit der Bibel ist nicht nur dadurch gegeben, daß die Bibel die Quelle des evangelischen Glaubens ist, sondern daß auch hier Inspiration die schaffende Kraft ist. Sie mußte sich musikalisch im stärkeren Hervortreten und freierer Beweglichkeit der Einzelstimme, in einer Art von musikalischem Individualismus äußern. Diese Neuerung ging zwar von Italien aus; aber die Deutschen, die dort lernten, erfüllten die dramatische Spannung mit der Inbrunst, die das Wagnis persönlicher Überzeugung, der Durchbruch unmittelbarer Beziehung zum Göttlichen verlieh. Das Mysterium der Persönlichkeit, die Verwurzelung des einzelnen Ich im Ewigen entfaltete sich in Musik. Das Eingewickeltsein der Musik in die Theologie, von dem Walther sprach, zeigte sich in der protestantischen Musik des 16. und 17. Jahrhunderts, wie sie den Gehalt der Heiligen Schrift Satz für Satz, man kann sagen Wort für Wort ausschöpfte und durchleuchtete. Heinrich Schütz, dessen ernste und ehrwürdige Erscheinung neben den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges einhergeht, war fast ebensosehr Theologe und Lehrer wie Musiker; wie Luther die Bibel ins Deutsche, hat er sie in Musik übersetzt.
Nunc opus Uranie sonitu maiore – nun, Urania, bedarf es vollerer Töne! schrieb Kepler, als er auf der harmonischen Sternbewegung dahin aufsteigen wollte, wo die Uridee des Weltgebäudes verborgen ist, und die Tonsetzer aufforderte, ihm zu folgen, weil ihrem Geist das harmonische Weltall in Gleichnissen offenbart sei. Kepler hatte von der Musik dieselbe Auffassung wie Luther und wie der Kantor Walther, wenn er ausmalt, wie die seligen Geister sich gleichsam in Musik auflösen. Es ist die Vorstellung von einer jenseitigen Musik, die irdischen Ohren nicht vernehmbar ist, die aber Begnadete ahnen, und von der sie uns Gleichnisse in Erdentönen schaffen. Einst besuchte Luther ein niederländischer Musiker katholischer Konfession und traf den großen Ketzer, wie er mit mehreren Schülern ein Lied sang. Der Gast war von der Schönheit des Gesanges so ergriffen, daß ihm Tränen in die Augen traten, worauf ihm Luther, der es bemerkte, gleichfalls gerührt, die Hand reichte. Ich nahm sie, erzählt der Altgläubige, mochte es immer eine Ketzerhand sein. Die beiden Tonsetzer, die Luther am meisten verehrte, waren der Niederländer Josquin und der Kapellmeister am bayrischen Hofe, Ludwig Senfl, beide Katholiken. Aus den Briefen, die Luther an Senfl schrieb, spricht eine betonte, beinah zärtlich scheue Achtung. Da ist nichts mehr von dem zornigen Haß auf Papst und Papsttum, nichts mehr von dem Luther, der sagen konnte: Verflucht sei die Liebe bis in den Abgrund der Hölle, die erhalten wird mit Schaden und Nachteil der Lehre. Die Musik hat eine Region geschaffen, wo auch die bittersten Gegensätze ausgeglichen werden, wo sie kein Dasein mehr haben. In dieser unsichtbaren Kirche wohnt der offenbarte und wohnt auch der verborgene Gott, über den Worte nichts aussagen können. Ihr Fundament ist die Kirche des Mittelalters, von da schwingt sie sich auf und überströmt alle Grenzen. Geschlechter von Musikern, fromme, rüstige Baumeister, widmeten sich dem Bau des tönenden Gewölbes. Es erfüllte die unscheinbaren, nüchternen protestantischen Kirchen mit dem gespiegelten Glanze des Schauens von Angesicht zu Angesicht.
Im katholischen Süden trugen die Jesuiten dem dramatisch-tragischen Hang, der im deutschen Volke lebt, durch großartige Aufführungen Rechnung, die sie mit ihren Schülern veranstalteten. Es wurden alle erdenklichen Mittel aufgewendet, um das Schauspiel rauschend und zur Augenweide zu gestalten: wechselnde Dekorationen, Donner und Blitz, Aufzüge in phantastischen Kostümen, Chöre von Engeln, Musik und Gesang, obwohl die Musik in der Schule von den Jesuiten grundsätzlich abgelehnt wurde. Der Text mußte lateinisch sein. Trotz des Hineinspielens der oberen und unteren Welt in das Irdische, trotz reichlicher Mitwirkung des Wunders war der Charakter dieser Dramen eher rationalistisch. Hier wurde das Überirdische greifbar, sinnenfällig; in den Oratorien wurde auch das ganz Diesseitige und Gemeine zum Mysterium. Es handelte sich hier nicht um Befriedigung der Schaulust, die theatralische Darstellung würde sogar den aus Wort und Ton aufgebauten ätherischen Dom des Oratoriums zerstören.
In den Passionen Bachs und den Oratorien Händels ist die Musik-Tragödie zu einer Vollendung gelangt, die nicht übertroffen und nicht wieder erreicht werden kann. Der eigentümliche Umstand, daß die Schöpfer der neuen Musik, Luther, Praetorius, Schütz, Händel, Bach, in einem kleinen Stück deutschen Landes, in Thüringen und seiner nächsten Umgebung, geboren sind, drängt die Vermutung auf, es könne etwas von slawischer Musikalität in die deutsche eingeströmt sein. Zugleich aber erinnert er daran, daß von diesem Lande die Erneuerung des Glaubens ausgegangen ist. In den beiden Heroen der Musik, Bach und Händel, die im gleichen Jahre nicht weit voneinander geboren wurden, hat sich der Strom des lutherischen Protestantismus gleichsam in zwei Arme geteilt, so daß Händel vornehmlich das Kriegerische, das glorreiche Bewußtsein der Unüberwindlichkeit in Gott ausprägt, Bach vornehmlich die Innigkeit und den unergründlichen Tiefsinn der Gottverbundenheit. Händels Musik läßt an eine kursächsische Schulordnung des Jahres 1580 denken, die bestimmt, es sollten nur solche Gesänge geübt werden, die herrlich und tapfer seien; er beschwört die Helden des Alten Testaments, läßt ihren Harnisch blinken, krönt sie mit dem Lorbeer ruhmreicher Schlachten und reiht ihnen zuletzt den Erlöser an, der ungerüstet seinen heiligen Leib opfert. Aber auch der Messias ist dem Jesaias entnommen und schreitet in prophetischer Gewalt. In der Bachschen Passion erleben wir das Urgeheimnis von der Fleischwerdung des Wortes, von der tragischen Verschmelzung von Geist und Fleisch. Wie eine himmlische Antwort auf das Ringen Luthers um das Sakrament erklingen die Einsetzungsworte des Herrn, ein fremder Klang von jenseits der Sterne, der die schaudernde Erde berührt.
»Durch die Verderbnis des eisernen Jahrhunderts, in welchem wir leben, stürmen wie durch zwiefach geöffnete Pforten drei Ungeheuer herein: Atheismus, Barbarei und Sklaverei.« Es ist ein Ausspruch des württembergischen Theologen Johann Valentin Andreae, der den Dreißigjährigen Krieg miterlebt hat; grausame Worte für einen Angehörigen des Luthertums, dessen Begründer mit dem gereinigten Glauben ein reineres, schöneres Zeitalter hatte herbeiführen wollen. Die Barbarei sah er nicht zum wenigsten in der Verknöcherung der protestantischen Theologie, der unfruchtbaren Streitsucht und Gehässigkeit der Theologen, die Sklaverei in der Knechtung der Religion durch den Staat. Das Summepiskopat der Fürsten hatte die Cäsaropapie verwirklicht, die Melanchthon vorausgesehen und so sehr gefürchtet hatte; Andreae pflegte sie den leidigen Apap zu nennen, das umgekehrte Papsttum. Die Mehrzahl der Theologen war nur allzubereit, sich unter das Joch zu bücken; sie brauchten die Fürsten nicht mehr zu ermuntern, daß sie sich als Götter erwiesen: sie waren überzeugt, es zu sein.
In der Tat, als das dreißigjährige verheerende Feuer erloschen war, blieb ein aschenfarbenes Deutschland zurück. Von dem guten Samen, den Luther ausgestreut hatte, war mancher nicht aufgegangen und mancher verkümmert. Anstatt der verheißenen Freiheit war Gebundenheit und Enge gekommen. Sein freudiges Ergreifen des wirklichen Lebens hatte teils zu verantwortungslosem Genießen, teils zu moralisierender Engherzigkeit geführt; man ließ sich gehen oder man beherrschte sich mit zusammengebissenen Zähnen. Im Mittelalter hatte die Weitherzigkeit mit den menschlichen Leidenschaften, Torheiten und Lastern viel Geduld gehabt, Versöhnung und Ablenkung dafür gefunden; da die Schranken ihnen gesetzt waren, konnten sie sich sorglos ausleben. Die Schranken, die der Staat aufrichtete, waren unnachgiebiger, willkürlicher. Der Staat und der moralische Trübsinn des Protestantismus vernichteten die bunte Lust der Volkssitten, die Umzüge, Tänze und Spiele. Man war im protestantischen Norden stolz darauf, daß man in der Kirche nicht vor Bildern kniete und nicht den Rosenkranz durch die Finger zog; anstatt dessen hörte man lange und langweilige Predigten an, und über alles Tun und Treiben legte sich ein Überzug von Grämlichkeit. Bei den Katholiken erhielten sich zwar durch die Kirche gewisse Anlässe zum Zusammenströmen des Volkes, das immer Belustigungen mit sich brachte, Wallfahrten und Kirchweih; aber der zunehmende Absolutismus suchte doch auch hier die Unbändigkeit des Volkes zu zügeln. Die prächtigen Feste der Höfe schlossen die Teilnahme des Volkes mehr und mehr aus. Der protestantische Hoftheologe und der jesuitische Fürstenbeichtvater waren verschieden untereinander, aber im allgemeinen gleich unerfreulich.
Dennoch, trotz des Elends und trotz vielfacher Entartung und Erschlaffung, gab es im ganzen Reiche treue Führer und gläubiges Volk. Das Vorbild von Luthers Persönlichkeit, seine kraftvolle und gütige Führung der Herde, seine unermüdliche Tätigkeit nach allen Seiten, sein Verantwortungsbewußtsein, seine freie Offenheit für alle Erscheinungen des Lebens hat in der protestantischen Geistlichkeit segensreich gewirkt.
Unter den Pfarrern der bäuerlichen und kleinstädtischen Gemeinden Deutschlands im 16. und 17. Jahrhundert, namentlich während des Dreißigjährigen Krieges, waren Helden. Ohne sich um die Streitigkeiten der Lehre zu kümmern, waren sie gute Hirten, erfinderisch, dem Volke beizustehen in seiner Not, bereit, ihnen voran zu sterben. Geistliche Führer solcher Art gab es auch unter den Katholiken. Die protestantischen konnten sich durch ihre Kinder ins Volk verzweigen, die die ihnen eingepflanzte Gesinnung in Familie und Öffentlichkeit betätigten. Jahrhunderte hindurch hat das evangelische Pfarrhaus durch seine Führung und Seelsorge und nicht zuletzt durch seine Söhne und Töchter Kultur und edles Menschentum verbreitet. Gewiß sind mehr als die Hälfte aller bedeutenden und guten Männer und Frauen im protestantischen Deutschland aus Pfarrhäusern hervorgegangen. Aber auch außerhalb des geistlichen Standes wirkte Luthers Geist fort, er wirkte durch das unendlich feine Geäder, das geistige Kräfte sich bilden, und durch die Bibel, das Lesebuch der protestantischen Deutschen, für viele Kreise das einzige Buch. Generationen protestantischer Deutscher wuchsen mit diesem Buch auf, erfüllten sich bewußt und unbewußt mit seinem Geiste, wurden von ihm geprägt. Dieser kräftige Strom ließe sich gewiß sowohl in den Erzeugnissen protestantischer Denker, Dichter und Künstler, wie im Leben und Treiben der Bauern und Handwerker, des ganzen protestantischen Teils der Nation nachweisen.
Das Größte an Luthers Wirksamkeit scheint mir doch das zu sein, was ihm unter seinen Zeitgenossen viel Gegnerschaft bereitete und wenig Verständnis fand, daß er, obwohl er selbst zum Entstehen wissenschaftlicher Theologie und Kritik beitrug, dem Eindringen des Rationalismus widerstand. Er ist dazu gekommen, die Mystiker zu bekämpfen, deshalb weil er die dem christlichen Glauben innewohnende Mystik unangetastet und unverwirrt haben wollte. Er hielt dafür, daß die Geheimnisse des menschlichen Daseins im Gleichnis des Christentums so weise gefaßt seien, daß es nicht erlaubt sei, sie in träumerischer und meist stümperhafter Weise weiter auszuspinnen. Andererseits hielt er dafür, daß die Geheimnisse des Glaubens sich dem Verstande entziehen und daß sie nicht durch den Versuch verstandesmäßiger Auflösung entkräftet werden sollen. Das Sakrament sollte nicht etwas Begreifliches bedeuten, da vielmehr das Unbegreifliche im Sakrament erlebt wurde.
Wie für die Malerei Rembrandts ist für die Musik Bachs und Händels der evangelische Glaube Luthers Voraussetzung. Sein Mittelpunkt ist der Bund Gottes mit den Gläubigen des Alten Testaments, den Gott im Neuen Testamente besiegelt durch die Hingabe seines Sohnes. Die Menschheitstragödie, zusammengefaßt in der Tragödie des Gottmenschen, das einmalig-ewige, irdisch-überirdische Ereignis, war der Gegenstand der mittelalterlichen Kirchenkunst und ist der Gegenstand der Musikkunstwerke des 17. Jahrhunderts. Einst in schweren Stein und lichte Farben übertragen, ist er nun vollends durchsichtig geworden im sublimen Mittel der Musik. Es ist schön und tröstlich, zu denken, daß die erhabenen Visionen der lutherischen Musik auch von den Katholiken, von allen gläubigen Christen ohne Zwiespalt aufgenommen werden können. Sie können es von allen Menschen, die an das Göttliche über den Menschen und in den Menschen glauben.