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Im Jahre 1505, als Maximilian I. durch seinen großen Sieg in Deutschland zu Ansehen kam und glaubte, eine Reichsreform im kaiserlichen Sinne aufrichten zu können, lud ein 22jähriger Magister in Erfurt seine Freunde ein, den letzten Abend mit ihm zu verbringen, bevor er ins Kloster eintrete. Er hieß Martin Luther und war in Eisleben geboren als Sohn eines Bergmanns, der bald nach des Ältesten Geburt nach Mannsfeld gezogen war und es zu Wohlstand gebracht hatte. Die Freunde waren über den ihnen unbegreiflichen Entschluß betrübt, kannten sie doch Luther als einen fröhlichen Gefährten, der sich zwar von studentischen Ausschweifungen stets zurückgehalten hatte, aber als der Sohn eines vermöglichen Vaters, als angehender Jurist, reich begabt und anziehend, am Anfang einer aussichtsreichen weltlichen Laufbahn stand. Sie wußten wohl, daß er fromm war und sein Morgengebet nie versäumte; doch war das kein Grund für einen Humanisten, zu denen er sich zählen durfte, in die verachtete Niederung des Klosters hinabzusteigen. Martin Luther gab als Grund an, daß er, vom grellen Blitz eines Sommergewitters erschreckt, der heiligen Anna gelobt habe, ins Kloster einzutreten, wenn sie ihn schütze; das hielt er für bindend.
Dem frohen Fest des erlangten Magistergrades folgte nun die Aufnahme ins Kloster; am Ende desselben Jahres wurde er als Novize eingekleidet, im Jahr darauf tat er Profeß und empfing 1507 die Priesterweihe. Die uralten Gebräuche, die Heiligung der Hände durch das Chrisma, der Friedenskuß, die feierlichen Worte des Weihbischofs: Accipe potestatem legendi Evangelii tam per vivos quam per defunctos in nomine dornini erschütterten den jungen Gläubigen. Sein strenger Vater, den der eigenmächtige Schritt heftig erzürnt hatte und dem erst der Tod zweier Söhne und die falsche Nachricht, auch Martin sei als Opfer der Pest gestorben, so weit erweicht hatte, daß er verzieh und zur Feier der Priesterweihe stattlich angereist kam, blieb ungerührt dabei, daß der Gehorsam gegen die Eltern ebensowohl von Gott geboten sei wie das Halten eines Gelübdes. Ohnehin hatte er eine geringe Meinung von den Klöstern.
Es schien nun alles in Ordnung zu sein und Martin den Beruf erwählt zu haben, der seiner religiösen Anlage gemäß war. Worin aber bestand eigentlich dieser Beruf! Damals war er doch nicht viel mehr als ein in umständliche Formen gebrachter Müßiggang. Wenn Luther als Student und Magister sich nach der Einsamkeit des Klosters gesehnt hatte, um einmal ungestört sich in die Abgründe der Seele zu versenken und die Stimme Gottes zu vernehmen, erlebte er nun die Schrecken und Abgründe der Einsamkeit. Wie alle, die eine große Kraft in sich spüren und die es in die Wüste zieht, wo sie die Stimme der Berufung hören können, erfuhr er, daß nicht nur Gott, sondern auch die Dämonen den Einsamen heimsuchen. In Menschen von religiöser Genialität pflegt eine besonders große Spannung zu sein, was wohl darauf beruht, daß die Gegensätze des geistig-körperlichen Lebens da am stärksten sind, wo der höchsten und umfassendsten Steigerung des Menschentums zugestrebt wird. Die vielen, die Luther Herrschsucht, Streitsucht, Hochmut, Rechthaberei vorwarfen, werden nicht unrecht gehabt haben; wieviel mehr als andere mag die zarte, gläubige Kinderseele, die seines Wesens Mittelpunkt war, durch die gewalttätige Nachbarschaft geängstigt worden sein. Die Kinderseele fühlte sich nur glücklich, wenn sie zu Gott emporschauen, beten, loben und danken konnte; war sie zur Strafe einer Schuld an so wilde Gesellen gebunden, daß sie sich nicht erwehren konnte? Die innere Spannung führte in der Stille des Klosters zu Seelenzuständen von schwerer Melancholie bis zu Angst und Verzweiflung. Die Strafen der klösterlichen Zucht, die er sich auferlegte, verschärften seine Qualen, anstatt sie zu mildern; was er hörte und las, schien ihm das Verdammungsurteil Gottes über ihn zu bestätigen. Es kam so weit, daß er nicht nur sich selbst, daß er Gott verfluchte, und wenn er sich durch Fasten und Wachen erschöpft hatte, trat eine Leere ein, die fürchterlicher war als die Empörung. Es gab im Kloster durchaus nicht nur rohe und alberne Menschen, sondern auch fromme und wohlwollende, die für des jungen Luther Seelenqual, wenn auch kein Verständnis, doch Nachsicht hatten. Einer, ein feiner alter Mann, wie Luther selbst ihn bezeichnet, sagte einmal zu ihm: »Was machst du, mein Sohn? Weißt du nicht, daß Gott uns geboten hat zu hoffen?« Zu dem Beichtenden, der sich vom Zorn Gottes verfolgt glaubte, ohne doch einen stichhaltigen Grund dafür angeben zu können, sprach er die tiefsinnigen Worte: »Gott zürnt dir nicht, du zürnst mit ihm.« Das Kinderherz Luthers erbebte in Hoffnung, wenn es die Liebe Gottes verkünden hörte; dann flohen die Teufel und es atmete freier; aber wenn die köstliche Nähe mit dem köstlichen Wort nicht mehr zugegen war, kehrten sie mit verdoppelter Wut zurück. Die Mönche fingen an den Kopf zu schütteln. Sie spürten den feuerknisternden Schritt, der neben dem Bruder Martin hinhuschte. Wenn sie untereinander die Tageschronik des Klosters besprachen, so wurde wohl der Verdacht geäußert, daß Bruder Martin es mit dem Bösen zu tun habe. Er mußte etwas höchst Verruchtes begangen haben, daß das Gewissen ihn dermaßen zerfleischte. Allein dem fast Versinkenden war die göttliche Gnade nahe, wirkend durch einen gütigen, weisen und vielvermögenden Menschen. Johann von Staupitz, aus sächsischem Adel, war ein Mann von ungewöhnlicher Ausgeglichenheit der Bildung. Er war ein guter Theologe und in der großen Welt bewandert, er besaß die Menschenkenntnis eines Staatsmanns und ergründete mit sicherem Blick die Verborgenheiten der Seele. Erledigte er als Generalvikar des Augustinerordens gewandt die praktische Arbeit und verstand er sich auf den Umgang mit den Fürsten und höfischen Kreisen, so vollzog sich doch sein wesentliches Leben in den Bahnen einer aufrichtigen, von der mittelalterlichen Mystik genährten Frömmigkeit. Sein Lehrer war der Theologe Scriptoris gewesen, der sich im Jahre 1502, der Ketzerei verdächtig, durch Flucht der Einkerkerung entzogen hatte und von dem man, als er starb, sich zuraunte, er sei ermordet worden. Staupitz hatte durchgesetzt, daß den Augustinern das Studium der Heiligen Schrift zur Pflicht gemacht wurde. In der Heiligen Schrift und in der Urkirche fand er den Inbegriff des Christentums. Namentlich unter den Patriziern Nürnbergs hatte er Anhänger, die in seinen um die Dogmen unbekümmerten Gedankengängen lebten, ohne sich in offnen Widerspruch zur Kirche zu setzen. Auch Staupitz sagte, als er Luthers Beichte gehört hatte: »Magister Martin, ich verstehe euch nicht, ihr klagt euch der Sünde an und wißt doch keine Sünden aufzuzählen.« Die Mischung von Hingebung und Verstocktheit hätte ihn ungeduldig machen können, aber der blasse Mönch mit den dunklen leidenschaftlichen Augen, dies versiegelte Menschenrätsel, zog ihn an. Er versuchte ihm zu helfen aus Güte und gewann dabei den Kranken lieb. Den schwerfälligen Bekenntnissen desselben begegnete er mit Humor, wofür Luther sehr empfänglich war, und mit der unbekümmerten Gelassenheit des Frommen und Vornehmen. Natürlich könne der Mensch die göttlichen Gebote nicht halten. Der Mensch sei schwach, er gelobe wohl, aber das Halten stehe nicht in seiner Macht. Gott verlange auch keine Vollkommenheit, er verlange, daß der Mensch sich auf seine Barmherzigkeit verlasse. Dazu habe er ja seinen eingebornen Sohn gegeben, daß er unsere Sünde auf sich nähme. Nicht unser Tun, unser Glaube mache uns rein. Solche Worte trafen erleuchtend in die Mitte von Luthers verworrenen Vorstellungen. Mehr aber als die Erkenntnis wirkte auf ihn die Persönlichkeit des Vikars. Wie Gott durch Menschen wirkt, so erlebt der Mensch Gott durch Menschen. Der Mensch ist zum Ebenbild Gottes erschaffen; einem Menschen zu begegnen, der das empfangene Gepräge rein erhalten hat, ist erhebend und beglückend, vollends wenn wir uns ihm in Freundschaft nähern können. Daß er lieben und verehren, sich in Liebe und Verehrung hingeben konnte, das war es eigentlich, was den Versinkenden rettete und was ihm erst das Verständnis eröffnete für die Belehrung, die er empfing. Jener feine alte Mann hatte recht gehabt: er, Luther, hatte Gott gezürnt, inmitten einer quellenden, fühlenden Welt war er kalt geblieben. Im Augenblick, wo er liebte, fügten sich die auseinandergefallenen Teile seines Wesens wunderbar zusammen und gaben wie ein Instrument, das geborsten war und heil wurde, volle, wohllautende Töne. Staupitz war ein zu kundiger Arzt, um seine Aufgabe damit für erfüllt zu halten, daß er den zweifelnden Mönch einer besseren Einsicht in die göttlich-menschlichen Beziehungen zugänglich gemacht hatte; es kam darauf an, seine tätigen Kräfte wirken zu lassen und ihn mit geeigneten Menschen in Wechselverkehr zu bringen. Um das zu erreichen, schickte er ihn nach Wittenberg, um an der im Jahr 1502 dort gegründeten Universität zu lehren. Damit tat er als Dekan der theologischen Fakultät, der für die Besetzung der Lehrstühle zu sorgen hatte, seine Pflicht, nützte der Universität, denn er hatte die hervorragende Bedeutung des jungen Freundes erkannt, und erfreute den Kurfürsten, der für seine Gründung lebhaftes Interesse hatte.
Friedrich der Weise war damals 45 Jahre alt, ein Fürst, der sich in vieler Hinsicht stark von seinen Standesgenossen unterschied. Er hatte die Bestrebungen Bertholds von Henneberg geteilt und blieb nach dessen Tode ihr bedeutendster Vertreter, Kämpfer für ein ständisches Regiment, also Gegner des Kaisers; aber er war zurückhaltender, als der Henneberger gewesen war, ein verschlossener, nicht leicht zu durchschauender Charakter. Darin waren alle einig, ihn wegen seiner Sachlichkeit, seiner Überzeugungstreue, der Reinheit seiner Absichten und Sitten zu achten. Man schrieb es seinen Beziehungen zu einer bürgerlichen Frau zu, daß er nicht heiratete; für die Nachfolge zu sorgen überließ er seinem Bruder Johann, mit dem ihn herzliche Liebe verband und dessen Sohn Johann Friedrich er als seinen eigenen betrachtete. Wenn später ein päpstlicher Legat sagte, er sehe aus wie ein fettes Murmeltier und habe auch dessen schiefen Blick, so wird nicht jeder in diesem Vergleich etwas Herabsetzendes finden, obwohl er ohne Zweifel so gemeint war. Wir kennen sein Äußeres aus den Bildern von Dürer und Cranach; Cranach, der ihm persönlich nahestand, hat mit bewundernswürdiger Kunst die demütige und inbrünstige Frömmigkeit wiedergegeben, die das ungestalte fleischige Gesicht verschönte, zugleich auch etwas ängstlich Zweifelndes im Blick. Mit Staupitz verband den Kurfürsten herzliche Freundschaft. Als sie sich einmal über die Untauglichkeit der scholastischen Prediger unterhalten hatten und daß nur die Heilige Schrift die Herzen zu sich zwinge, ließ sich Friedrich von Staupitz versprechen, daß er nie von dieser Überzeugung weichen werde. Seine Frömmigkeit durchdrang sein Leben, auf ihr beruhte seine Treue, seine Unbestechlichkeit, seine edle Bescheidenheit; aber er blieb im kirchlichen Herkommen und sogar in kirchlichen Äußerlichkeiten, wie er denn eine Sammlung von 5005 Reliquien besaß, die in der Wittenberger Allerheiligenkirche zur Verehrung aufgestellt waren und durch die er sich oft und oft hindurchkniete. Je mehr Abteilungen der Sammlung man kniend verehrte, desto mehr Ablaß erhielt man. Man kann annehmen, daß es zum Teil die dem Menschen eigene Sammelsucht war, die sich hier auf kirchlichem Hintergrunde besonders ausgelassen auswirken konnte, und daß die Haare der heiligen Elisabeth und Finger der heiligen Bobilia, durch kostbare Fassung zu kunstgewerblichen Gegenständen geworden, nicht nur das Gemüt erhoben und das Gewissen erleichterten, sondern auch das Auge belustigten. – Luther, der zwischen Bergen geboren war und seit Jahren in der um ihre majestätischen Dome gruppierten, ansehnlichen Stadt Erfurt gelebt hatte, blickte mit einem leichten Ekel auf die Wittenberger Sandfläche, in der ein paar hundert hölzerne Häuser planlos herumstanden, durch das massive neue Schloß noch mehr ins Armselige gedrückt. Das Augustinerkloster, wo er zu wohnen hatte, war baufällig, die Kirche verglich ein Zeitgenosse einem Stalle, in der Art wie die Maler solche bei der Geburt Christi zu malen pflegen. Die schmackhaften Kerne sitzen oft in harter Schale. Der Beginn der neuen Laufbahn war unerfreulich; es war ein tückischer Zufall, daß Luther gerade über Aristoteles lesen mußte, den er verabscheute. Kaum hatte er recht mit den Vorlesungen begonnen, da trug ihm Staupitz auf, auch zu predigen. Unter einem Birnbaum im Klosterhof saßen sie, als Luther fünfzehn Einwände vorbrachte, um sich dem Befehl zu entwinden. Wie einst Moses sich Gott widersetzte, der ihn berief, so wehrte sich Luther gegen die gefürchtete Aufgabe. »Ehren Staupitz«, sagte er schließlich, »Ihr bringt mich um mein Leben. Ich werde es nicht ein Vierteljahr treiben.« »In Gottes Namen«, erwiderte Staupitz lachend, »unser Herrgott oben hat auch große Geschäfte und kann kluge Leute brauchen.« Es blieb dem Mönch nichts übrig, als zu gehorchen. Anfänglich predigte er nur in der Augustiner Stallkirche, dann, da der Stadtpfarrer erkrankte, auch in der Pfarrkirche. Bald wurde das Predigen seine liebste Tätigkeit, er hatte großen Zulauf; auch der Kurfürst und sein Bruder Johann waren zuweilen unter seinen Zuhörern. Umwälzenden Neuerungen hatte er diesen Erfolg nicht zu danken; noch im Jahr 1512 legte er in seinen Vorlesungen über den Psalter den Text in üblicher Weise aus, so daß z. B. Jerusalem nach dem Buchstaben eine Stadt sei, tropologisch die Tugend, anagogisch die Belohnung. Was die Hörer ergriff, war wohl der tiefe Klang dessen, der erlebt, was er sagt, war die Zauberkraft der genialen Persönlichkeit, die wie Musik unmittelbar ergreift und in geheimnisvoller Übertragung die schaffenden Kräfte der Menschen steigert, so daß sie sich dem Wesen der Dinge näher fühlen. Als eine konservative Natur bildete er sich sehr langsam Überzeugungen und setzte sich noch langsamer zu seiner Umgebung in Widerspruch. Wie er sich in Paulus und Augustinus vertiefte, bestärkte er sich mehr und mehr in der durch Staupitz gewiesenen Auffassung, daß der Frieden der Seele nicht in der Ausübung kirchlicher Vorschriften oder überhaupt im Tun liege, sondern im Glauben, aber es lag ihm fern, sich deswegen im Gegensatz zur Kirche oder zu seinem Klostergelübde zu fühlen. Es quälte ihn, wenn er die vorgeschriebenen Gebete, vielbeschäftigt wie er war, nicht zur festgesetzten Stunde gehalten hatte, und er schadete seiner Gesundheit durch asketische Übungen. Als er durch den sorgsamen Staupitz in Geschäften des Ordens nach Rom geschickt worden war, zog er in die auserwählte Stadt ein mit dem überschwenglichen Gefühl eines gläubigen Pilgers. Der Gedanke, daß er die Erde betrat, die das Blut so vieler Märtyrer betaut hatte, ließ sein Kindergemüt erschauern. Er sah nur den unsichtbaren Schimmer sagenhafter Überlieferung, nicht die leibhaftige Schönheit, die Raffael und Michelangelo erschufen. Was er außer den Heiligtümern in sich aufnahm, war die Eigenart des italienischen Volkes. Aufgeschlossen für alles Menschliche, beobachtete er voll Interesse ihren Fleiß, die Höflichkeit, ihre Lebhaftigkeit im Reden und Bewegen, hielt sie aber für listig und verschmitzt und tadelte sehr ihr vieles Fluchen und das hastige Erledigen der kirchlichen Zeremonien. Den skeptischen Humor der Italiener lernte er kennen, als er eines Tages bei Tisch erzählen hörte, wie es Priester gebe, die beim Messehalten über dem Brot und Wein sprächen: Brot bist du, Brot bleibst du, Wein bist du, Wein bleibst du! Das entsetzte ihn; er hatte eine so freche Gotteslästerung nicht für möglich gehalten. Was er aber auch am kirchlichen Betriebe auszusetzen hatte, an Papst und Kirche machte ihn das nicht irre.
Allmählich begann sich Luther in Wittenberg heimisch zu fühlen. Seine bedeutende Persönlichkeit, sein geistvoll anregendes und zugleich gemütvolles Gespräch, seine musikalische Begabung, seine aufrichtige Herzlichkeit erwarben ihm Freunde und Anerkennung in allen Kreisen. Der erste Rektor der Universität, der berühmte Mediziner Pollich von Meilerstadt, des Kurfürsten Leibarzt, lux mundi genannt, hospitierte gelegentlich seine Vorlesungen und soll einmal beim Verlassen einer solchen gesagt haben: »Dieser Bruder hat tiefe Augen, er wird wunderbare Phantasien haben.« Mit den Räten des Kurfürsten, Pfeffinger, Feilitzsch, dem Kanzler Brück, verkehrte er freundschaftlich, besonders nah stand ihm Georg Burkhard aus Spalt, genannt Spalatinus. Der Erfurter Humanist war Erzieher des jungen Prinzen Johann Friedrich gewesen, kam aber mit seinem Zögling, den er für ein ingenium pingue hielt, nicht recht weiter, worauf ihn der Kurfürst, weit entfernt ihm zu zürnen, zu seinem Kaplan und Geheimsekretär machte, in welcher Stellung er vielfach Gelegenheit hatte, zwischen der Universität und dem Kurfürsten, insbesondere auch zwischen diesem und Luther zu vermitteln. Zu den nächsten Freunden Luthers gehörte der Maler Lukas Cranach und seine Frau; fast alle diese Beziehungen erhielten sich in gleicher Wärme und Vertrautheit durch Luthers ganzes Leben.
An Spalatin schickte Luther im Jahre 1516 ein Büchlein, das er entdeckt hatte, und schrieb dazu: »Wenn es dich freut, eine reine, gründliche, der alten ganz ähnliche Theologie in deutscher Sprache zu lesen, so magst du dir die Predigten des Johannes Tauler vom Predigerorden verschaffen, aus dessen Ganzem ich dir hiermit etwas wie einen Auszug übersende. Denn ich habe weder in lateinischer noch in unserer Sprache eine heilsamere und mit dem Evangelium mehr übereinstimmende Theologie gesehen.« Das Buch, von dem Luther damals ein Fragment gefunden hatte, das er in Wittenberg drucken ließ und das bald darauf nochmals unter dem Titel »Theologia Teutsch« erschien, ist nicht von Tauler, sondern von einem Deutschherren aus dem Frankfurter Ordenshause, man weiß nicht wann, verfaßt. Es enthält Gedankengänge, die Luther durch Staupitz bereits vertraut geworden waren und in so glücklicher Weise auf ihn gewirkt hatten. Liest man jetzt das schlicht und warm geschriebene Buch, so staunt man immer wieder, wie sehr es sich durchweg mit den Schriften Luthers berührt. Man findet sich hier an einer der Quellen, aus denen er geschöpft hat, so tief, daß Tropfen dieses Weines bis zum Ende in seinem Becher sichtbar blieben. Das ist selbstverständlich, da ja auch Staupitz, dessen religiöse Einstellung ihn so entscheidend berührt hatte, die Schriften der Mystiker in sich aufgenommen hatte. Die Fragen, mit denen Luther während seiner ersten Klosterjahre so qualvoll gerungen hatte, wie der Mensch zu Gott komme, wurden in diesem Büchlein an Hand der Heiligen Schrift eingehend behandelt, so als ob eine leichte Hand bisher Verworrenes mit einem Male zu einfacher Klarheit löste. Es ist ganz frei von Dogmatik, es spricht vom Menschen, wie jeder ihn in sich erleben kann, und von Gott, wie er sich in der Heiligen Schrift offenbart hat. Das was den Menschen von Gott trennt ist die Sünde, die auch Teufel oder der alte Adam oder die falsche Natur genannt wird, und sie besteht in Ichheit oder Selbstheit. Solange der Mensch der Selbstsucht verhaftet ist, befindet er sich in der Hölle, je mehr er sich von der Selbstsucht löst und liebend wird, nähert er sich dem Himmelreich. Von der Selbstheit wird der Wille, dessen Art edel und frei ist, geknechtet; aus den Banden der Selbstsucht gelöst, wird er wieder frei. Die Befreiung geschieht nur durch Gnade, Werke können sie nicht erzwingen. Dies sind die Grundgedanken, wie die ›Brüder vom gemeinsamen Leben‹ sie aus der Mystik aufgenommen hatten und die nie ganz vergessen waren. Dieser Strom innerlicher Frömmigkeit, der durch die mittelalterliche Kirche rauschte, gehörte unbestritten zu ihr; Luther freute sich deshalb des Fundes, ohne einen Widerspruch zur Kirche zu fühlen, wohl aber zu einer großen Anzahl von Geistlichen und ihren Auffassungen von der Theologie. Wenn er verschollene mystische Schriften ans Licht zog, verschüttetes Gold, das einst weithin geglänzt hatte, so glaubte er als getreuer Sohn der Kirche zu handeln.
Im selben Jahre, als Luther die Theologia Teutsch veröffentlichte, gab Erasmus das Neue Testament griechisch heraus, damit seinerseits eine verschüttete Quelle eröffnend. Luther, der anfing das Griechische zu lernen, war tief erschüttert, als er entdeckte, daß an Stelle des lateinischen Wortes poenitentia im Urtext, μετάνοια also Umwandlung, Wiedergeburt stand, ein Beweis, daß nicht irgendein gutes Werk, sondern Sinnesänderung das sei, was Gott vom Menschen verlange, zugleich das, was nur Gott geben könne. Als einem Lehrer der Universität lag es ihm nah, Schutt wegzuräumen, und zwar zunächst den, der ihn am meisten ärgerte, weil er ihm gerade an der Universität auf Schritt und Tritt begegnete, die aristotelische Wissenschaft, wie sie im allgemeinen gelehrt wurde. Sie hatte aus dem Glauben eine Reihe von Begriffen gemacht, in deren Besitz man sich durch Erlernen der Logik setzte und mit denen man mittels der Dialektik haarspalterisch hantierte. Sie nahm den Menschen als gut und seinen Willen als frei an, zerstörte also das Fundament, auf welchem Luther im Anschluß an Paulus und Augustin seine Auffassung in dem Verhältnis zwischen Gott und Menschen aufbaute. Entschlossen unternahm er im Jahre 1517 den Feldzug gegen die geheiligte Größe. Wenn er Kandidaten zum Magisterexamen vorzubereiten hatte, ließ er sie gegen Aristoteles disputieren. Franz Günther von Nordhausen war der Student, bei dessen Promotion er die Disputation contra scholasticam theologiam veranstaltete. Die Jugend hatte er für sich, sie stimmte gern in den humanistischen Kriegsruf Ad fontes, zurück zu den Quellen, ein. Die Kollegen zögerten anfangs, bald aber schlossen sich Nikolaus von Amsdorff und Karlstadt begeistert ihm an. An dem schwer gerüsteten Gegner Scholastik stählte sich Luthers kämpferische Anlage. Es dauerte nicht lange, so erfüllte das Kämpfen ihn mit Lust, wurde er zuversichtlicher und rücksichtsloser. Während er noch dabei war, seinen Ansturm gegen den toten Riesen auf andere Universitäten auszudehnen, trat ein Lebendiger auf, dem entgegenzutreten er sich verpflichtet fühlte, der Ablaßprediger Tetzel.