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Als Karl V. im Frühling 1530 nach Deutschland kam, um nach neun Jahren zum ersten Male wieder einen Reichstag selbst zu leiten, kam er als Sieger. Mit Frankreich, England, Venedig hatte er Frieden geschlossen. Der Papst, Clemens VII., hatte den Gehaßten, dessen Truppen Rom verwüstet hatten, in Bologna, nicht ohne tiefe Seufzer auszustoßen, mit der Kaiserkrone gekrönt. Die Protestanten hatten Ursache, besorgt zu sein: der Kaiser hatte die Hände frei, um sie gewaltsam zu unterwerfen. Das Gerücht, das bei der Langsamkeit und Unsicherheit der Nachrichten sich nach Lust ergehen und mehr als heute wirken konnte, flüsterte von gewaltigen Rüstungen des Kaisers und seinen blutdürstigen Absichten; es schien angezeigt, sich zur Wehr zu setzen. Des jungen Landgrafen Kriegslust flammte auf; er hielt den Augenblick für gekommen, mit dem Schwerte zu protestieren. Darin verstand er sich gut mit Zwingli, der großartige, die ganze evangelische Welt ins Auge fassende Pläne ausgearbeitet hatte. Beide glaubten im Besitz der wahren Religion zu sein und wollten sie so weit wie möglich ausbreiten, wenn dadurch auch Brüder voneinandergerissen würden. Das religiöse Bewußtsein beherrschte mit solcher Energie die Gemüter, daß alle anderen Bindungen dagegen zurücktraten. Capito und Oekolampad, die angesehenen Reformatoren von Straßburg und Basel, waren der Ansicht, ein Bündnis unter religiös Gleichgesinnten gewähre stärkeren Schutz als jede politische Verbindung, und angesichts der Religionsgefahr hätten alle anderen Bünde zurückzutreten. Hatten doch auch die katholischen fünf Orte der Eidgenossenschaft sich nicht gescheut, ein Bündnis mit Österreich einzugehen, dessen Spitze sich gegen die evangelischen Eidgenossen kehrte. Philipp von Hessen und Zwingli richteten den Blick nicht nur auf die evangelischen Reichsstände, sondern auch darüber hinaus auf Dänemark und sogar auf Frankreich; Zwingli glaubte gern an das Gerücht, Franz I. neige, durch seine Schwester beeinflußt, zum Evangelium. Auflehnung gegen den Kaiser hatte für beide nichts Erschreckendes. Philipp, so warmherzig er war, wurde durch Regungen der Pietät nicht gehemmt; warf er doch die Gebeine seiner Ahne, der heiligen Elisabeth, nachdem er die Heiligenverehrung abgetan hatte, aus der Kirche heraus, wo sie ruhten. Zwingli vollends fühlte sich zwar als Deutscher, aber nicht als Reichsdeutscher. Die Eidgenossenschaft, in der Anhänglichkeit an den Kaiser entstanden, wurde widerkaiserlich, nachdem das Kaisertum wie ein erblicher Besitz an das Haus Österreich, den Erbfeind der Schweiz, gekommen war. Als nun gar die katholischen Orte mit Österreich die christliche Vereinigung geschlossen und dadurch die Entzweiung zwischen den Eidgenossen vollendet hatten, haßte Zwingli den Kaiser. Ganz anders fühlte Luther. Gerade von seinem überwiegend religiösen Standpunkt aus lehnte er gewaltsame Verbreitung des Glaubens ab, das Wort allein sollte kämpfen und wirken, wie er so oft gesagt hatte. Dann aber stand er ganz anders als Zwingli zu Kaiser und Reich. Auflehnung der Stände gegen den Kaiser, das Haupt des Reiches, hielt er für ein Unrecht, zu dem er nicht raten wollte. Nach seiner Auffassung von den Beziehungen im Reiche waren die Fürsten dem Kaiser ebenso unterworfen wie die Bürgermeister von Torgau dem Kurfürsten von Sachsen. Die Juristen und mehrere Geistliche widersprachen ihm, ohne ihn anderen Sinnes machen zu können, und Kurfürst Johann von Sachsen und Markgraf Georg von Brandenburg dachten wie er. Ihr Entschluß wurde bestimmend für die Haltung der evangelischen Partei; trotz Philipp von Hessen wurde auf gewaltsamen Widerstand verzichtet. Man beschloß, die Sache Gott anheimzustellen, vom Wort nicht zu lassen und für das Wort zu leiden, wenn es sein müsse, auch den Tod. Wieviel weltliche Interessen zu der unerschütterlichen Anhänglichkeit der Fürsten an das Evangelium beitragen mochte, sie waren in diesem bedeutenden Augenblick von aufrichtiger Frömmigkeit erfüllt. Sie waren ein kleines Häuflein gegenüber der Macht des Kaisers und der katholischen Stände, sie waren ersichtlich in Gefahr, der Kurfürst von Sachsen, der noch nicht vom Kaiser belehnt war, mußte damit rechnen, daß der Kaiser ihm die Kur nehmen und auf den katholischen Herzog Georg, seinen Vetter, übertragen würde; aber gerade er schätzte Gottes Gnade höher als irdischen Besitz und gab sich in Gottes Hand. Es sind zwei Wege, sagte er, Gott verleugnen oder die Welt; denke ein jeder, welches am besten sei. So ihr stille wäret, wäre euch geholfen; das war Luthers Lieblingsvers in den Psalmen. Etwas anderes kam hinzu, daß sie nämlich alle, besonders Luther, im Herzen auf die Milde des Kaisers hofften. Luther war empfänglich für den kindlichen Glauben an die mystische, friedenbringende Aufgabe des Kaisers, die seit Jahrhunderten im Volke fortlebte. Er sah Karl immer noch, wie er ihm in Worms erschienen war, als das Lamm unter Wölfen. Viele nahmen an, er werde vom Papst und dessen bösartigem Anhang zu Gewalttaten gedrängt, er persönlich sei milde nach der angeborenen Art des Hauses Österreich und komme mit versöhnlicher Gesinnung.
Karl war damals 30 Jahre alt, jung, aber ein fester, selbständiger Charakter, seiner ungeheuren Macht gewachsen. Er konnte haben, als hätte er nicht: er ließ sich naßregnen, um sein Barett zu schonen, aber er konnte kaiserliche Pracht entfalten, wenn sein Ansehen es erforderte; es war eine Aufgabe, der genügt wurde. Als er während des Schmalkaldischen Krieges bei Ingolstadt lagerte, ließ er sich unter dem heftigsten Bombardement durch den Feind von dem damals berühmten Mathematiker Petrus Apiani – er hieß Bienewitz und stammte aus Meißen – ein astronomisches Instrument erklären. Einige Jahre zuvor hatte er den Gelehrten in den Adelsstand erhoben und zum Pfalzgrafen ernannt. Dem Mathematikprofessor war nicht wohl zumute, er hätte lieber einen sicheren Winkel gesucht; allein der großmütige Karl, so erzählt der Berichterstatter, stand ganz unerschrocken da und hörte aufmerksam zu, obwohl es so gefährlich zuging, daß eine vierpfündige Stückkugel mitten durch das kaiserliche Zelt flog. In jeder Lage eine stolze Haltung zu bewahren, gehörte zum Kaisertum. Karl V. war ein durch und durch vornehmer Mensch. War es eine Folge der Erziehung oder das Bewußtsein seiner allen Menschen übergeordneten Stellung, er trat niemals prahlerisch, laut, aufdringlich auf, aber er ließ sich von keinem Auge schwach oder von Leidenschaft überwältigt sehen. Er liebte nur wenige Menschen, vor allen seine Schwestern und am meisten seine Frau, diese mit innigster Hingebung; im allgemeinen war er, wenn auch zurückhaltend, doch verbindlich und liebenswürdig, ja er wußte einen Ton vertraulicher Herzlichkeit anzuschlagen, wie die Deutschen es liebten. Ein Feinschmecker und nicht so mäßig, wie seine Ärzte es vorschrieben, war ihm doch die wüste Ausschweifung der deutschen Fürsten im Essen und Trinken widerwärtig, und er ließ das gelegentlich merken. Er stand zwischen ihnen wie ein Tierbändiger, der zufällig ohne Waffen zwischen Tiger und Panther geraten ist, darauf angewiesen, sie durch seine gelassene Haltung und seinen festen Blick zu beherrschen. Bis zu einem hohen Grade gelang ihm das; sein vornehmes Wesen und seine Selbstbeherrschung imponierten den Deutschen und wirkten stark auf sie, die zum größeren Teil ganz anders waren, naiv und roh, gewohnt, sich gehen zu lassen, und die sich deshalb gegenseitig in ihren Schwächen durchschauten. Trotzdem er von Anfang an das Luthertum vollständig abgelehnt hatte, rühmten ihn gerade verschiedene Reformatoren, einige waren geradezu bezaubert von ihm. Melanchthon erschien er wie ein Heros des Altertums, den dazu noch Milde ziert.
In der Tat war Karl nicht nur nicht grausam, sondern er zog, wenn es sich tun ließ, die gelinden Mittel den gewaltsamen vor; aber er war durch und durch Kaiser und Staatsmann, und wenn seine politischen Zwecke sich nicht anders erreichen ließen, konnte er sehr hart sein. Da Einigkeit der Stände zur Bekämpfung der Türken notwendig war, hielt er es für seine Pflicht, Einigkeit zu erzwingen. Die Bekämpfung der Türken war die Aufgabe des Kaisers wie der Herren von Österreich, die Bekämpfung der Häresie hing unzertrennlich damit zusammen. Daß er gewaltsame Unterdrückung der Ketzerei nicht verschmähte, sie wohl für die bequemste und sicherste Art hielt, zum Ziele zu kommen, bewies sein Verhalten in den Ländern, die ihm unmittelbar unterworfen waren oder seinen Standpunkt teilten, in den Niederlanden und in Spanien. Das war keine besondere Härte seinerseits, sondern geltendes Recht, das jetzt nur strenger ausgeübt wurde. Indessen, Karl war weder kleinlich noch eigensinnig; da im Reich die Verhältnisse anders lagen, schlug er hier andere Wege ein. Er war hier auf den guten Willen der Stände angewiesen, konnte nicht schlechtweg befehlen, was er natürlich lieber getan hätte. Nicht einmal auf die katholischen Stände konnte er unbedingt zählen, denen ihre Libertät fast ebenso heilig war wie ihr Glaube; vielleicht war ihm kein protestantischer Stand so feind wie die katholischen Bayernherzöge, die nicht nur nach Böhmen trachteten, sondern das Kaisertum gern an die Wittelsbacher gebracht hätten. Von dem Kurfürsten Albrecht von Mainz wußte man nie, ob er nicht doch heiraten und sein Bistum säkularisieren würde. So nahm denn sein gefürchteter Einzug ins Reich zuerst einen freundlichen Schein an. Sein Reichstagsausschreiben sagte, daß er mit Hilfe der Stände dahin wirken wolle, daß eine einige wahre Religion angenommen werde, damit, wie sie alle unter einem Christus lebten und stritten, sie auch alle in einer Gemeinschaft der Kirche lebten. Er erklärte sich bereit, die Meinungen der Stände anzuhören; die Protestanten sollten ein schriftliches Bekenntnis ihres Glaubens einreichen dürfen: Das war ein den Vertretern des Papstes höchst widerwärtiges Zugeständnis. Gleich nach der Eröffnung des Reichstages begannen freilich die Schwierigkeiten, indem der Kaiser wollte, daß alle Stände sich an der Fronleichnamsfeier beteiligten, was die evangelischen ablehnten; allein, man kam über den Gegensatz hinweg, und die Protestanten setzten sogar durch, daß die religiöse Frage vor der Türkenhilfe behandelt würde und daß der Kaiser ihr mündliches Bekenntnis anzuhören einwilligte. Es war dies die berühmte Confessio Augustana, die von Melanchthon verfaßt war, und die nun am 25. Juni in der etwa 200 Menschen fassenden bischöflichen Kapelle von dem kursächsischen Kanzler Bayer in deutscher Sprache vorgelesen wurde. Er sprach so laut, daß die unten im Schloßhof versammelte Menge den Wortlaut verstehen konnte. Während des zwei Stunden dauernden Vortrags herrschte vollkommene Stille, und der Kaiser hörte aufmerksam zu; da er nur seinen niederdeutschen Dialekt sprach, wird er wenig verstanden haben. Es war ein großer, für die Gemüter der Protestanten erschütternder Augenblick. Sie, deren Führer geächtet war, so daß er nicht in Augsburg anwesend sein konnte, hatten ihren verfemten Glauben vor Kaiser und Reich bekannt. Er war damit aus einer verdammten Winkelketzerei zu einer öffentlichen Tatsache geworden.
Gleichwohl, und obwohl das Bekenntnis auf manche Katholiken einen starken Eindruck gemacht hatte, war der Erfolg anders, als die Protestanten erwartet hatten. Der Kaiser ließ von mehreren katholischen Theologen, unter denen Eck, Luthers alter Feind, der Wortführer war, eine Erwiderung, die Confutatio, verfassen, die er zwar, da er sie zu grob fand, zu mildern befahl, die aber in der Sache gleichblieb, den unnachgiebigen katholischen Standpunkt vertrat und alles, was die Augustana aus der Heiligen Schrift erwiesen zu haben glaubte, als irrig bestritt. Daraufhin betrachtete der Kaiser die Neugläubigen als widerlegt und verlangte schlechthin Unterwerfung der Besiegten. Es war, da die Protestanten das entrüstet ablehnten, eine förmliche Entzweiung und Auflösung des Reichstages zu befürchten. Dahin wollten es aber der Kaiser und die Mehrzahl der katholischen Stände doch nicht kommen lassen; schon früher in Aussicht genommene Ausgleichsverhandlungen wurden eingeleitet, was besonders dem Kaiser angenehm war; er meinte, da Katholiken und Protestanten in wesentlichen Punkten des Glaubens übereinstimmten, müsse ein beide Teile einigendes Bekenntnis zu ermitteln sein. Ein Ausschuß wurde eingesetzt, in den von beiden Seiten je zwei Fürsten, zwei Juristen und drei Theologen gewählt wurden. Unter den katholischen Theologen war der bedeutendste Eck, unter den evangelischen Melanchthon, der seinen Kurfürsten auf den Reichstag begleitet hatte. Die furchtbare Tragik der Glaubensspaltung offenbarte sich bei diesen Verhandlungen in der Seele Melanchthons, eines ihrer unglücklichsten Opfer. Der Humanist, der von Luthers beherrschendem Geiste in die Theologie hineingerissen war, der zwar von der Wahrheit des evangelischen Glaubens überzeugt, aber von Luthers Glaubensglut nicht beschwingt war, zitterte unter der Verantwortung, die ihm aufgeladen war.
Daß die Einheit des Glaubens erhalten werden müsse, darin waren alle einig; hatte doch ein Schisma stets für etwas überaus Verderbliches, ganz Unerträgliches gegolten. Auch dachten die Evangelischen nicht an Absonderung von der Kirche, sondern wollten die wahre katholische Kirche sein und wollten, daß die Katholiken das einsähen; diese konnten darin nur eine unerhörte Anmaßung und Auflehnung der Ketzer sehen. Während von Ausgleich und Vermittlung gesprochen wurde, dachte jede Partei im Grunde nur, wie sie die andere zu sich hinüberziehen könnte, ohne von ihrer Wahrheit das Geringste aufzugeben. Melanchthon dachte anders, er war wirklich bereit, um des Friedens willen nachzugeben.
Der Vater Melanchthons war ein Waffenschmied gewesen, dem Kaiser Maximilian aus Freude über einen von dem Meister verfertigten Harnisch ein Wappen verliehen hatte; einen Löwen, von dessen Tatzen die eine auf einem Hammer, die andere auf einem Amboß ruhte. Philipp, der Sohn, trat ungerüstet und nicht wie ein Löwe ins Leben. Er hatte einen schnellen und scharfen, aber nicht sehr in die Tiefe gehenden Verstand, er war zart und empfindlich und litt schmerzlich unter Angriffen, was nicht hinderte, daß er selbst erbarmungslos hart sein konnte. Durch seinen Oheim Reuchlin auf das Studium der Bibel hingewiesen, kannte und liebte er sie, er teilte die allgemeine Abneigung gegen die Mönche und soll einen der Dunkelmännerbriefe verfaßt haben; aber sich von der Kirche zu trennen wäre ihm deshalb nicht eingefallen. Als die herrische Freundschaft Luthers ihn an sich riß, gab er sich seinen Gedankengängen hin und faßte sie in den berühmt gewordenen loci communes zu einer Art von System zusammen. Seinem Verstande hatten Luthers Ideen durchaus eingeleuchtet, am Herzen lagen ihm aber nach wie vor die humanistischen Studien, wie er denn außergewöhnlich begabt für Sprachen war. Als die zerrüttenden Folgen der Reformation sich geltend machten, konnte Luther sich des göttlichen Willens getrösten, der ihn ergriffen hatte wie ein Sturm, unter den der Mensch sich zu beugen hat, falle die Welt auch in Trümmer; Melanchthon, der die göttliche Notwendigkeit nicht in sich fühlte, wog eines gegen das andere ab und kam zu einer Überlast von Unheil und Schädlichkeit auf seiten der Reformation. Das Grundübel sah er darin, daß die Leitung der Kirche dem Staate ausgeliefert worden war. Daraus, daß die bischöfliche Gewalt an die Landesherren überging, sah er eine Cäsaropapie entstehen, die er für verderblicher hielt als die Herrschaft des Papstes. Eine andere Möglichkeit als die Fürstenherrschaft sah er für die evangelische Kirche nicht; außer ihr gab es in seinen wie in Luthers Augen nur die Anarchie. Seit den Tumulten von Wittenberg und dem Bauernkriege hielten sie beide das deutsche Volk für unfähig zu irgendeiner Art von Selbstverwaltung, für eine einfältige, unbändige, nur unter strenger Zucht erträgliche Masse. Bereits machte sich bemerkbar, daß die protestantischen Pfarrer, seitdem der priesterliche Stand aufgehoben war, keine Achtung mehr beim Volke genossen. Schließlich schienen die Streitigkeiten innerhalb der neuen Kirche zu ihrer völligen Auflösung zu führen; Melanchthon sah keine andere Rettung als Anschluß an die alte. Schon in der Augustana hatte er das Gegensätzliche weniger betont als das Übereinstimmende; besonders heikle Punkte, wie den Primat des Papstes, wovon doch eigentlich alles abhing, hatte er ausgelassen. Luther nannte sie deshalb gutmütig, weil sein Philipp sie verfaßt hatte, die Leisetreterin. Da ihre Zurückhaltung von katholischer Seite nicht anerkannt worden war, glaubte Melanchthon ihnen noch mehr entgegenkommen zu müssen. Die Erhaltung der bischöflichen Gewalt wünschte er geradezu, aber er wollte sich sogar den Papst gefallen lassen; »wenn er schon der Antichrist ist, so können wir doch unter ihm leben, wie ehemals die Juden unter Pharao und unter Kaiphas.« Sogar das sola fide, worauf Luther, mit grimmigem Humor auftrumpfend, ausdrücklich bestanden hatte, daß der Glaube allein zur Seligkeit helfe, wollte er preisgeben. Damals schrieb ihm ein protestantisch gesinnter Venezianer vorwurfsvoll, er solle mehr Mut und Standhaftigkeit beweisen: »Wo es sich um die Wahrheit handelt, darfst du weder auf Kaiser noch auf Papst noch sonst einen Sterblichen Rücksicht nehmen, sondern allein auf den unsterblichen Gott … Wisse, daß ganz Italien in ängstlicher Spannung dem Ausgange der Versammlung in Augsburg entgegensieht. Was dort beschlossen wird, das werden um des Ansehens des Kaisers willen alle anderen Länder gutheißen.« Melanchthon litt unsäglich; er wußte, daß Luther sein Verhalten mißbilligen werde, daß viele Glaubensgenossen ihn für einen Verräter und bestochen hielten, und er sah, daß er bei den Katholiken kein Verständnis fand und keinen Freund unter ihnen gewann. Je mehr er ihnen entgegenkam, desto rücksichtsloser beharrten sie auf völliger Unterwerfung. Nicht einmal die Priesterehe, die manche Katholiken für zulässig hielten, wollten sie zugestehen. An dieser Unnachgiebigkeit scheiterten die Verhandlungen. Die Evangelischen, auf das Schlimmste gefaßt, waren nur darauf bedacht, untereinander Einigkeit zu schaffen, damit sie dem Gegner eine möglichst starke Front entgegenstellen und den Vorwurf entkräften könnten, niemand wisse, was eigentlich die evangelische Wahrheit sei. Melanchthon nämlich, dem es darauf ankam, die alte Kirche zu gewinnen, hatte sich auf dem Reichstage von Anfang an von den Anhängern Zwinglis in auffallender Weise zurückgehalten; er hoffte dadurch, daß er sie als häretische Sekte ablehnte, als echter Katholik zu gelten. Er stellte die Zwinglianer auf eine Stufe mit den von allen Seiten verworfenen und verdammten Wiedertäufern. Diese Politik verdroß den Landgrafen von Hessen, der mit Zwingli befreundet war, und die oberdeutschen Städte, die ihm anhingen. Mit dem Scheitern der katholisch-evangelischen Verhandlungen war das Preisgeben der evangelischen Brüder vollends gerichtet.
Bei den Einigungsversuchen unter Lutheranern und Zwinglianern trat Martin Butzer in den Vordergrund. Martin Butzer, der Ehestifter, eignete sich wie kein anderer dazu, Getrenntes sich näherzubringen. Er war nicht nur sehr gelehrt, sondern hatte sein Wissen stets bei der Hand und war nie um den passenden Ausdruck und die geschickte Formulierung verlegen. Es wird erzählt, daß er bei einem Religionsgespräch, während der Gegner seine Thesen aufstellte, Briefe an Freunde schrieb, dann, als der andere mit seinem Vortrage fertig war, den Inhalt desselben kurz zusammenfaßte, den Vorredner fragte, ob er den Sinn seiner Behauptungen richtig wiedergegeben habe, und als dieser bejaht hatte, ihn widerlegte. Er konnte an einem Tage mehr schreiben, als zwei Schreiber abschreiben konnten. Indessen ist es jetzt beschwerlich, seine langen Briefe und weitschweifigen Abhandlungen zu lesen, während jeder Satz Luthers blühend und packend ist wie einst. Auch in seinen unserem Interesse etwa entrückten Schriften blitzt seine lebendige Persönlichkeit, und durch ihre zeitlich gebundene Wahrheit leuchtet die ferne Klarheit der ewigen. Vor dem Zauberwort des großen Dichters verdorrt das flinke Wort des systematischen Kopfes zu Stroh. Der lebende Butzer jedoch war nicht nur ein redegewandter und überzeugungstreuer Mann, er erkannte auch bereitwillig die Überlegenheit Luthers an. Seit er zuerst in Heidelberg durch seine holdselige Rede hingerissen war, hat er nie in der Verehrung des Reformators gewankt, sich nie durch seine Härten, die gerade er vielfach erfuhr, irremachen lassen, sondern den beleidigten und entrüsteten Zwinglianern, deren Ansichten er teilte, immer wieder beizubringen versucht, daß man den Helden der Reformation, den Auserwählten Gottes, nehmen müsse, wie er sei, den Blick für seine Größe sich durch Empfindlichkeit nicht dürfe trüben lassen.
Noch während des Reichstages reiste Butzer mutig nach Koburg, um Luther für die Einigung zu gewinnen, und fand den vulkanischen Riesen zugänglicher als sonst. Allein zwischen Wolken und Vögeln hatte er wieder glückliche Tage, wo er träumte und dichtete, wenn auch die verjagten Dämonen zuweilen um so wütender zurückkehrten. Hier schrieb er den wundervollen Brief an den Kurfürsten Johann, dessen Herz, seinem Herrn Gott und seinem Herrn dem Kaiser gleich treu ergeben, doch nicht beiden dienen konnte; es war, als wolle er ihn durch Musik trösten, deren er selbst, wenn er in Melancholie verfallen war, so sehr bedurfte, denn er schrieb Worte, wie man Akkorde auf der Harfe greift. Auch an Melanchthon schrieb er behutsam und liebevoll beruhigend, obwohl er mit seiner ängstlichen Nachgiebigkeit durchaus nicht einverstanden war. Zwingli hatte inzwischen unter der Einwirkung von Luthers Gedanken seine Auffassung vom Abendmahl gewandelt, so daß er die Anwesenheit von Christi Leib annahm; dieser Umschwung erleichterte die Verständigung mit Luther. Hoffnungsvoll eilte Butzer weiter; aber nun wies ihn Zwingli ab, der die Besonderheit seiner Meinung betont wissen wollte. Der Tod Zwinglis, der im folgenden Jahre in dem unglücklichen Kriege mit den katholischen Orten fiel, räumte das größte Hindernis der Einigung hinweg. Die süddeutschen Städte, die den Rückhalt an Zürich und Bern verloren hatten, suchten Anschluß an das Luthertum. Oekolampad, der mit Zwingli einig gewesen war, starb ein Jahr nach ihm an der Pest. Butzer, der theologische Führer des wichtigen Straßburg, auf den das Ansehen des Verstorbenen überging, war der Vorkämpfer einer Verständigung. Seinem unermüdlichen Wirken ist es hauptsächlich zu danken, daß im Jahre 1536 die Wittenberger Konkordie zustande kam. Seine Meinung, daß Luther, der Erwählte Gottes, als solcher vor allen anderen zu ehren und daß er gutmütig und leicht zu beeinflussen sei, wenn man ihm nur nicht widerspreche, trug den Sieg davon und bewog die süddeutschen Theologen, ihn in Wittenberg aufzusuchen. Hier gab es erneute Schwierigkeiten; denn Luther, der sich brieflich zu allem bereit erklärt hatte, zog sich auf seinen alten Argwohn zurück, es sei den Süddeutschen doch nicht rechter Ernst mit der Annahme der realen Gegenwart Christi im Abendmahl. Schließlich drehte sich der Streit um die Frage, ob auch der Gottlose den Leib Christi empfange, was Butzer und seine Partei nicht zugeben wollten. Luther hatte nicht unrecht, wenn er dachte, daß ihre Vorstellung vom Abendmahl im Grunde immer noch sehr von der seinigen abweiche, daß sie an das Zusammenströmen des unsichtbaren Leibes mit dem sichtbaren Brot nicht glaubten; aber er überzeugte sich von ihrer Frömmigkeit und ihrem aufrichtigen guten Willen, auf seine Gedanken einzugehen und ließ es dabei bewenden. Nach einer kurzen Beratung mit seinen Freunden verkündete er den harrenden Gästen, daß er sie als Brüder annehme. Alle diese Männer, die so schwer um ihren Glauben gerungen und so innig nach Verständigung sich gesehnt hatten, waren von dem Segen dieses Augenblicks überwältigt. Die Spaltung, die so viel Ärgernis gegeben hatte, war überwunden; auf Grund der Konkordie konnten die Neugläubigen sich zu gemeinsamer Verteidigung ihres Glaubens zusammenschließen, wenn sie deswegen sollten angegriffen werden. Sie ahnten nicht, daß in Straßburg bereits ein Mann, ein französischer Flüchtling, lebte, der eine neue protestantische Sekte gründen und dadurch eine viel folgenschwerere Spaltung hervorrufen sollte.
Wie ein dünner farbloser Faden ziehen sich Religionsgespräche zwischen den verschiedenen christlichen Parteien durch die folgenden Jahrzehnte. Jedes deutsche Land, das das Evangelium annahm, hatte seine Besonderheiten in der Lehre und in den Bräuchen und konnte nur unter mühseligen Weiterungen zu einer Art von Einigung mit den übrigen gebracht werden. Noch schwieriger, eigentlich aussichtslos waren die Verhandlungen zwischen Katholiken und Protestanten, obwohl dem versöhnlichen Melanchthon und dem Formulierungskünstler Butzer auf katholischer Seite zuweilen Männer gegenüberstanden, die, wie der edle Contarini, eine Verständigung von Herzen wünschten. In Hinsicht auf die Priesterehe und das Abendmahl in beiderlei Gestalt waren die Altgläubigen nachgiebig; aber schon die verschiedene Auffassung der Messe bildete ein unüberwindliches Hindernis. Karl V. begünstigte die Gespräche. Sie waren gewissermaßen Vorläufer des Konzils, das nach allgemeiner Aussage der Spaltung und allem Streit ein Ende machen sollte. Wenn man sich vertrug, wenn der Kaiser den gewaltsamen Eingriff zurückhielt, war es, weil man auf die gütliche Entscheidung des Konzils hoffte. Ob ein Konzil, das die Katholiken als solches anerkannten, frei sein konnte, wie die Protestanten forderten, daß es sein müsse, das wurde nach einem stillschweigenden Übereinkommen nicht untersucht. Auch das zeigt, wie schwer man sich entschloß, eine dauernde Trennung ins Auge zu fassen.