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Luther litt während seines ganzen Lebens an Angstzuständen, die so furchtbarer Art waren, daß er sie nur mit Tod und Hölle vergleichen konnte. »Alsdann weiß man nicht«, sagte er, »wo aus noch ein. Da ist kein Trost, weder von innen noch von außen, sondern alles ist ein Ankläger.« Wie in dunklen Novembernächten zuweilen von weither ein Sturm aufgrollt, sich näher und näher wälzt und anschwillt, als wolle er die Lichter des Himmels auslöschen und die Erde entwurzeln, so stürmten zuzeiten schwarze Gedanken gegen Luthers Seele und drohten sie zu ersticken. Es waren nicht immer dieselben. Als er noch jung im Kloster war, waren es, soweit er sie äußern konnte, nichtige, grundlose, leicht zu widerlegende; die sich jetzt einstellten, entstiegen seinen Taten und seiner Erfahrung und waren nicht so leicht zu bestreiten. Konnte sie noch ein Lied auf der Laute beschwichtigen, eine Melodie voll Wohllaut? Was ihn jetzt bedrängte, das waren Tatsachen, man konnte das Auge von ihnen wegwenden, aber sie blieben stehen wie Felsblöcke. Oder es waren Stimmen, die von allen Seiten bald flüsterten, bald schrien; er konnte sich das Ohr verstopfen, aber er wußte, daß jedermann sie hörte und wiederholte. Wenn man Luther einen Vorwurf oder einen Einwand machte, wies er ihn ungeduldig zurück, er gab nie zu, daß er unrecht habe; aber er war wehrlos gegen die Anklagen, die er selbst gegen sich erhob. Vor den Stürmen, die er selbst gegen sich entfesselte, war kein Ausweichen möglich, sie warfen ihn nieder und löschten ihn aus. Als Luther anfing, das Evangelium zu verkündigen, glaubte er, alle würden davon bewegt werden, an allen würde das Wort des Herrn die Sinnesänderung von der Selbstsucht zur Liebe bewirken, der befreite Sklave der Kirche würde als Kind Gottes freudig die Gebote des himmlischen Vaters befolgen. Es kam ganz anders: die Befreiung wurde ausgenutzt, um das Leben desto unbändiger zu genießen. In allen Ständen nahm die Sittenlosigkeit und Genußsucht, die Gleichgültigkeit gegen das Jenseitige zu. Die Bauern waren nach dem Bauernkriege ohnehin nicht geneigt, auf Luther zu hören, viele haßten ihn. Verarmt, wie sie waren, hatten sie keine Lust, mit ihrem Gelde Pfarrer zu erhalten, die ihnen Unterwerfung unter ihre unchristlichen Herren predigten. Luther sah das mit Schrecken. Im Papsttum war viel Aberglauben und viel Sünde im Schwange gewesen: unter dem Evangelium war des Aberglaubens nicht weniger und war der Sünde mehr geworden. Wenn die Altgläubigen solche Vorwürfe erhoben, konnte man es für Verleumdung halten; aber den Evangelischen selbst fiel es auf, wie das Laster sich breitmachte. Hans Sachs, der Luther anfangs freudig begrüßt hatte, klagte, daß die Lutheraner mit ihrem wüsten Leben die evangelische Lehre verächtlich machten. An Fasttagen Fleisch essen und das Heiraten der Mönche und Nonnen schien der Inbegriff der Religion zu werden. Melanchthon, Justus Jonas, Martin Butzer, überhaupt sämtliche Reformatoren jammerten untereinander über die zunehmende Ruchlosigkeit unter den Evangelischen. »Es wird der gemeine Mann so frech, roh und bärenwild«, schrieb Justus Jonas, »als wäre das Evangelium darum kommen, daß es losen Buben Raum und Freiheit zu ihren Lastern machen wollte.« Und Melanchthon: »Ich glaube, daß du nun zu Wittenberg besser siehst, welch ein tiefer Fall und Untergang allem Guten droht, wie groß der Haß der Menschen untereinander ist, wie sehr verachtet alle Ehrbarkeit, wie groß die Unwissenheit derer, welche der Kirche vorstehen, und vor allem, wie gottvergessen die Fürsten sind.« Ein Prediger in Ulm: »Die Herren und Obrigkeiten suchen jetzt gemeiniglich in ihrem ganzen Leben nichts anderes denn Wollust und Pracht, spielen, fressen und saufen von einer Mitternacht zur anderen … Also ist auch der Bauer und der gemeine Mann … Sie haben einen Bund mit der Hölle und dem Tode gemacht, sagen: wir wollen fressen und saufen und tun was uns gebührt, vielleicht sterben wir morgen und kommt der Dinge, die der Pfaff sagt, keines über uns.« Luther selbst war der erste wahrzunehmen, »daß die Leute jetzund geiziger, unbarmherziger, unzüchtiger, frecher und ärger sind denn je zuvor unter dem Papsttum«. Dem Kurfürsten schrieb er: »Da ist keine Furcht Gottes noch Zucht mehr, seit des Papstes Bann ist abgegangen, und tut jedermann, was er will.« »Insgemein«, sagt er an anderer Stelle, »sind Bürger und Bauern, Mann und Weib, Kind und Gesinde, Fürsten, Amtleute und Untertanen alle des Teufels.« In seiner nächsten Umgebung, in Wittenberg, erreichte die Frechheit des Lasters einen solchen Grad, daß Luther die ihm zur Heimat gewordene Stadt verlassen wollte. Es zeigte sich, daß das, was Luther als päpstliche Tyrannei und als Vergewaltigung der Natur zu brandmarken pflegte, eine wohltätige Schranke gewesen war, mit der die Weisheit von Jahrhunderten die Begierden der Menschen eindämmte oder umwandelte. Luther hatte geglaubt, die Liebe zu Gott würde hundertmal mehr Gutes wirken als der Gehorsam gegen die Kirche; aber trotz all seines Predigens achtete man den fernen unsichtbaren Gott bei weitem nicht so hoch wie die nahe, strafende Kirche. Als Ursache des sittlichen Niedergangs, der jedermann auffiel, betrachtete man allgemein, auch unter Luthers Anhängern, seine Lehre von der Unfreiheit des Willens und von der Seligkeit durch den Glauben allein ohne Werke. Viele Freunde von denen, die während der schönen Zeit des ersten freien Aufschwungs ihm zugejubelt hatten, waren irre an der Bewegung geworden und wandten sich allmählich ab: Crotus Rubeanus, der frische, unverzagte Kamerad, Pirkheimer, Ulrich Zasius, Beatus Rhenanus. Lohnte sich bei so viel täglicher Plage und Enttäuschung das Weiterleben ohne die treuen Begleiter der ersten Kämpfe? Ohne den geliebtesten, den edelsten, ohne Staupitz, der die Flamme des Glaubens in seinem Herzen entzündet hatte? Und wie, wenn sie recht hätten? Sie kamen einer nach dem andern, anklagend, drohend: Warum hast du dein Werk zerstört? Warum die gefährliche Lehre, daß der Mensch allein durch den Glauben selig werde? Daß die Werke zur Seligkeit nicht nur nichts nützen, sondern schädlich seien? Nun bleiben die Werke aus, die dem Papsttum reichlich zuströmten und vielerlei Gutes bewirkten. Es fehlte nie an Mitteln für die Spitäler, für die Schulen, für die Armen, zur Erhaltung von Geistlichen und Lehrern. Jetzt gibt niemand mehr. Warum nicht genießen, sich wohl sein lassen, die Begierden austoben, da Gott seine Gnade umsonst gibt, da er die guten Werke verachtet? Staupitz hatte geschrieben: »Sie teilen und scheiden jetzt die Werke vom Glauben, gleich als möchte man unvergleicht mit dem Leben Christi recht glauben. O List des Feindes, o Verleitung des Volkes! Derjenige glaubt gar nicht in Christum, der nicht tun will, wie Christus getan hat. – Der böse Geist gibt seinen fleischlichen Christen ein, man werde ohne die Werke gerechtfertigt, mit Anzeigung, als hätte es Paulus dermaßen gepredigt, wie ihm fälschlich und mit Unwahrheit wird aufgelegt. Paulus hat wohl wider die Werke des Gesetzes, die aus Furcht und nicht aus Liebe entspringen, in welche die Gleißner ihr Vertrauen gründen und des Menschen Heil in wichtige äußere Werke setzen, disputiert und gestritten und beschlossen, daß dieselbigen Werke nicht gut, nicht verdienstlich, sondern verdammlich seien; die Werke aber, die im Gehorsam der himmlischen Gebote, in Glauben und Liebe geschehen, hat er nie übel gedacht und von ihnen nichts denn das Beste geredet, ja sie zu der Seligkeit not und nütze verkündet.« Mein Freund und Vater, warum siehst du mich streng an? Habe ich nicht gewarnt und gesagt, aus dem Glauben fließen die Werke von selbst, und es sei kein rechter Glaube, der nicht Werke wirke? »Du hast es gesagt, als es zu spät war, du hast es mit halber Stimme gesagt, nachdem du mit lauter gesagt hattest, daß der Glaube allein ohne Werke selig mache. In der Verblendung deines Stolzes und Eigensinns hast du mich der Feigheit geziehen. Und stand ich nicht neben dir vor Cajetan? Habe ich nicht das Evangelium gepredigt, als du noch in den Banden der Kirche lagest? Ja tief, tief warst du in den Banden der Kirche verstrickt! Und jetzt verfolgst und verlästerst du alle die, die dasselbe glauben, was du damals so unbedingt, so hingegeben glaubtest, als Bösewichter und Teufel! Warst du denn damals böser, als du jetzt bist? Warum kannst du meinen Schatten nicht mehr ertragen, der ich dir lebend der teuerste aller Menschen war? Sieh die Welt an, wie sie früher war, und sie an, was du aus ihr gemacht hast. Damals sangen Chöre von Mönchen und Nonnen vor dem ewigen Licht, die Bilder der Heiligen blickten tröstend auf die Betrübten, die Menschen auf dem Felde und das Vieh auf der Weide waren umfangen von der Gnade, die Erde war voll von der Anbetung Gottes. Und jetzt? Die Prediger zanken und verfluchen sich auf den Kanzeln, das Volk ist der Predigten müde, nachdem es Schimpfen und Lästern von seinen Hirten gelernt hat; es ist eine unheilige, dürre Welt geworden. Nur ein Stand hat bei dem Wechsel gewonnen: die Fürsten.« Blutige Schatten winden sich aus der Nacht! Münzer, Hubmaier und viele andere, zerrissen von der Folter, erschlagen, verbrannt, ertränkt. Was wollt ihr von mir? Habe ich euch zur Schlachtbank geführt? Warum habt ihr die Welt verwirrt mit unsinnigen Lehren? »War es unsinnig, daß wir die Kirche nicht dem weltlichen Regiment ausliefern wollten? Wäre es nicht besser, daß der römische Papst sie regierte, als daß die Fürsten es tun? Siehst du nicht, daß der Antichrist, da er aus der Kirche ausgetrieben ist, in den Staat schlüpft? Wie stimmt die Staatskirche zu deiner Lehre vom allgemeinen Priestertum, vom Recht der Gemeinde, ihre Hirten selbst zu wählen? Ist es fein, daß die Säufer, die Wüteriche, die Hanswurste in das Wort Gottes hineinpfuschen, Predigern befehlen und ihre Untertanen heute Weiß und morgen Schwarz glauben lassen? Unseliger, wie willst du dich rechtfertigen, wenn Gott die Seele deines Volkes von dir fordert?«
Ich habe es nicht gewollt. Es ist Menschenlos, daß wir den Fuß setzen, wo wir Raum finden, wir gehen enge, steile Pfade und merken plötzlich, daß wir in eine Schlinge geraten sind. Und doch müssen wir weiter und müssen den Fuß immer mehr in die Schlinge verwickeln. Wer stand mir in meinem Kampfe bei? Nur Fürsten hatten den Willen dazu und die Macht. Ich sah wohl, um was es ihnen zu tun war: auch die besten wollten nicht nur das reine Wort Gottes, sondern ein gestärktes und bereichertes Fürstentum dazu. Sie wollen tafeln und jagen und schöne Frauen liebhaben, und Gott soll Segen dazu geben. Wo aber ist denn einer, dem ich die Kirche freudig übergeben könnte? Der Papst ein Wolf, die Fürsten Wölfe, das Volk eine Herde von Wölfen und Schafen. Wenn der Glaube leidet und die Völker leiden, ach, ich leide mehr als alle. Meine Feinde sagen, daß ich den Fürsten geschmeichelt habe, daß ich sie beschimpfe, solange sie dem Papst anhängen, und sie zu Göttern mache, wenn sie lutherisch werden. Muß denn nicht eine Ordnung sein? Muß nicht irgendwo Befehl und eine Macht sein, dem Befehl Gehorsam zu verschaffen?
»Mag das in weltlichen Dingen sein; aber im Glauben? Hast du nicht selbst gesagt, daß Gott den Glauben gibt? Daß der Glaube sich nicht zwingen läßt? Daß jeder mit seinem Glauben selbst vor Gott stehen muß? Kein Priester solle sich zwischen Gott und den Menschen drängen? Aber nun hast du die Fürsten dazwischengeschoben. Wenn heute ein Fürst deinen Katechismus aufrichtet, müssen seine Untertanen nach deinem Katechismus beten; wenn er morgen stirbt und sein Sohn den Thron besteigt, müssen sie deinen Katechismus auf den Kehricht werfen und nach einem anderen beten, den du verfluchst. Dahin ist es mit deiner neuen Lehre von der Obrigkeit und mit deiner Erkenntnis Gottes gekommen. Mögen alle Menschen Kinder Gottes sein, die Fürsten sind selbst Götter. Sie haben es endlich durch dich erreicht, daß sie niemanden mehr über sich haben, nicht den Kaiser und nicht Gott. Von ihnen empfangen die Völker den Glauben; der Gott im Himmel ist ihnen ferner gerückt als jemals. Im Papsttum haben die versammelten Priester über den Glauben der Völker entschieden, jetzt entscheidet ein einziger Laie in den Stunden, wo er nicht betrunken ist. Du sagst, es muß eine Obrigkeit sein. Warum durftest du dich denn dem Papst widersetzen, der deine Obrigkeit war? Warum dürfen sich die Fürsten dem Kaiser widersetzen, der ihre Obrigkeit ist? Warum die Gemeinden den Bischöfen, die ihre Obrigkeit sind? Ist die Freiheit nur für dich und für das deutsche Volk die Knechtschaft? Als die Bauern den Kopf unter das Beil legen mußten, wandtest du dich ab und sagtest: ihnen geschieht recht.
Wiederum Schatten, Bauern, triefend von Blut und Schweiß, ausgestoßen, verlassen von Gott und den Menschen. Rohe einfältige Bauern; aber sind sie nicht auch Ebenbilder Gottes? Hattest du ihnen nicht eine bessere Zukunft verheißen?
Ist das nun das Glück und die Freiheit und der Reichtum des deutschen Volkes, die ihnen werden sollten, wenn die Herrschaft des Papstes gebrochen wäre? Wenn das Geld nicht mehr nach Rom und in die Ablaßkästen flösse? Nun fließt das Geld des Volkes in die Kisten der Fürsten, damit sie desto mehr fressen und saufen können. Der Adel zieht die Stiftungen ein, die seine Väter der Kirche machten zur Ehre Gottes und zur Unterstützung der Armen. Vielleicht werden einige Schulen davon gegründet; aber die Lehrer und die Geistlichen darben. Während die Fürsten ihre Schlösser mit unnützem Prunk füllen, verelenden die Bauern und verarmen die Städte. Aber Reichtum und Armut zusammen wird der Bürgerkrieg verschlingen. Denn wer aufmerksam horcht, vernimmt ein gedämpftes Klirren von Waffen und huschende Schritte von Knechten, die zu den Werbeplätzen eilen. Wenn der Türke den rechten Augenblick erspäht, wird er über den Trümmern des Reichs, das sich selbst zerfleischt, seine Herrschaft aufrichten. Niemals wäre Einigkeit so nötig gewesen wie jetzt. Im Osten ist ein Wall nach dem andern gefallen, die heidnische Flut wälzt sich heran.«
Habe ich denn Uneinigkeit gewollt? Habe ich das Reich auseinanderreißen wollen? War einer im Reich, der die Reform nicht wollte? Warum haben sie das Wort Gottes nicht vernommen?
»Das Wort Gottes! Deine, deine Worte hast du gewollt, daß sie hören! Du willst der einzige sein, der es recht verstanden hat. Viele sagen, Zwingli habe es besser verstanden. Sieh, wieder ein blutiger Schatten. Warum ergriffest du die Hand nicht, die er dir in Marburg bot? Mag sein, daß er hochmütig, überheblich, rechthaberisch war, warest du es nicht noch mehr? Er wünschte doch Frieden mit dir. Er war ein aufrechter Mann und ging für seinen Glauben in den Tod. War es christlich, über seinen Tod zu frohlocken? War es christlich, um der verschiedenen Auslegung eines Herrenwortes willen des Herrenwortes zu vergessen, das Liebe und Nachsicht gebietet? Bist du der einzige, der nicht irren kann?«
Ihr sagt, ich habe ein neues Papsttum aufgerichtet. Wenn ihr darunter versteht, daß ich die Gebote der Schrift für die Gemeinde auslege, so habt ihr recht. Ich nehme sie auf mein Gewissen, ich vertrete sie vor Gott. Es ist nicht meine Schuld, daß es so wenig wahre Christen gibt, daß so wenige den rechten Glauben haben, daß sie nur ihre eigene Albernheit und ihren Wahn in der Bibel suchen.
»Wenn das so ist, warum denn die Kirche zerstören, die die Last der Verantwortung trug? Der Glaube, den sie lehrte, war durch Jahrhunderte geheiligt und von vielen bestätigt, und Heilige haben in ihm gewirkt. Ist es recht, ein Volk von seiner Vergangenheit loszureißen?«
Es wäre Vermessenheit, alle die Schwerter benennen zu wollen, die Luther während seiner Anfechtungen sich selbst in die Brust stieß. Gewiß konnte er nicht alle unheilvollen Folgen der Spaltung voraussehen, und manches Übel, das sie einschloß, wurde ihm wohl nicht bewußt. Zuweilen fiel ihm ein, daß manches von dem, was er jetzt verfolgte und tadelte, einmal gut und angemessen gewesen war; vielleicht aber dachte er nie daran, daß auch ein Volk ein Gedächtnis hat wie der einzelne und daß es ein gefährlicher Eingriff ist, das Gedächtnis zu zerstören. Luther gewöhnte seine Anhänger daran, alles was vor ihm gewesen war und geschehen war, in Bausch und Bogen zu verwerfen. Die Protestanten fingen gleichsam von vorn an, protestierten gegen ihre ganze so reiche, so stolze Vergangenheit. Für die Protestanten versank das Reich und verschwand der Reichsgedanke, weil er mit dem Papsttum verknüpft war, vom Reich und der Vergangenheit abgeschnürt wurden die Untertanen in die kleinen Fürstentümer gebannt, wo ihre Anschauungen sich verengten und trübten. In diesen Bezirken lebten sie dumpf und geduldig hin, auf Befehl ihrer Fürsten in krampfhaften Patriotismus ausbrechend. Hatte Luther solche Menschen aus seinen Deutschen machen wollen? Nein, er hatte ein anderes Vorbild aufgestellt: den christlichen Ritter, Herrn der Sterne, furchtlos vor Tyrannen und Teufeln, freudig im Elend, freudig in der Fülle, Feind des Bösen, aus Liebe allen dienstfertig, allen hilfsbereit. Würde es solche Ritter geben in dem Obrigkeitsstaate, den er aufgerichtet hatte? Und er selbst? War er noch der den Sternen gebietende Heros? Er, das sanftlebende Fleisch zu Wittenberg! Während draußen seine Anhänger das Feuer verzehrte, weidete er sich an den vollen Krippen fürstlicher Beamtung. Als er verfolgt wurde, verbarg er sich im behaglichen Schlupfwinkel der Wartburg. Er hatte sich Gott entzogen; oder hatte Gott sein Opfer nicht gewollt? Würden die Namen seiner Feinde im Buche der Märtyrer leuchten, wenn kommende Geschlechter ihn als den dicken Papst von Wittenberg verfluchten? War er von Gott verworfen? Warum ließe er es sonst zu, daß der Teufel ihn mit solchen Anfechtungen marterte? Oder wie, wenn Gott der Teufel wäre, der Teufel Gott? Oder wenn es keinen Gott gäbe?
Luther hat selbst erzählt, daß die schwerste seiner Prüfungen war, wenn er Gott und Christus verlor und die Welt leer wurde. Die Schwungkraft des Glaubens, die ihn hoch erhoben, überschwenglich beseligt hatte, ließ nach, versiegte ganz. Es ist keinem Menschen gegeben, auf der Höhe des Gefühls sich immer zu erhalten, am wenigsten einem Menschen, der seine Kraft so maßlos verschwendete. Diese Stunden, wo sein Glaube erlosch, waren furchtbarer, als sich ausdenken läßt. Die Erde wurde zu einem Gräberfeld, zu einer Eiswüste. Das Leben verlor seinen Sinn, Luther war ein Betrüger. Für ein Phantom waren seine Anhänger in Flammen gestorben. Ja, selbst wenn Gott wäre, was wäre er, wenn er auf einem so schwankenden Grunde ruhte, wie der Glaube ist? Nur wenige hatten Luthers Glauben, und selbst Luthers Glaube war nur fliegender Sand. Wäre es nicht besser, der Papst und seine Priester, eine unsterbliche Schar, gerüstet mit unanfechtbaren Dogmen, glaubten für alle, bürgten ihnen für das Dasein und das Wesen Gottes, den zu glauben sie selbst zu schwach sind? Wie ein Gewitter in immer heftigeren Schlägen sich entlädt, mit vernichtenden Blitzen trifft, und dann die Donner schwächer rollen und in der Ferne verschweben, so erschöpfte sich auch die Qual der Anfechtungen. Zuweilen berührte das warme Wort eines Freundes und führte den Verzweifelten aus der Hölleneinsamkeit des leeren Raumes in den Kreis der Lebendigen zurück. Ein Tränenstrom beendete wohl den Anfall.