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Peter Hille wurde am 11. September 1854 im Schulhaus zu Erwitzen bei Driburg (Westfalen) geboren. Nur selten ist der Dichter später auf seine Heimat zu sprechen gekommen, am ausführlichsten in seinem Roman »Die Hassenburg«, am polemischsten in einigen Kabarettbeiträgen. Obwohl Erwitzen, auch heute noch weitgehend isoliert, gerade die von Hille erstrebte Naturnähe ermöglicht hätte, nutzte der Dichter die scheinbar idealen Voraussetzungen nicht. Bereits hier deutet sich an, wie Hilles Naturliebe aus anderen Quellen als denen einer ungebrochenen Natur-Mensch-Beziehung gespeist wird. Auch Westfalen, zu dieser Zeit erst am Beginn einer umfangreichen Industrialisierung, galt Hille ganz und gar nicht als Muster unzerstörter Natürlichkeit. Vielmehr vernichtet, wie Hille in der »Hassenburg« schreibt, die »strotzende Daseinsfülle« den »Lebenskeim«, mächt ihn »gedunsen, dumpf und stumpf«. In anderem Zusammenhang soll Hille das Urteil über seine Heimat noch schroffer, aphoristisch zugespitzt gefällt haben, wie Ludwig Schröder mitteilt: »Westfalen est sine pi, sine pu, sine con, sine veri.« (Westfalen ist ohne Frömmigkeit, ohne Scham, ohne Gewissen, ohne Wahrheit.) Die Kritik an Westfalen stellt sich immer deutlicher als' eine Kritik am Deutschen Reich von 1871 heraus, für das Westfalen zum Exempel wird: Es ist das Beispiel einer verzerrten, archaisch gewordenen Landschaft, in der die Traditionen bereits Teil eines kapitalistischen Kulturbetriebes geworden sind. Nirgends wird das deutlicher als in der Schilderung einer Hochzeit in dem Roman »Die Hassenburg«: »Von selbst kommt hier nichts, alles muß künstlich gemacht werden.« – Wie das Verhältnis zur Heimat war auch das Verhältnis zu den Eltern stets getrübt. Peter Hille erfüllte nicht die Erwartungen, ähnliche wohlgeordnete Beamtenverhältnisse anzustreben, wie sie der Vater Friedrich Wilhelm Hille als Rentmeister und Lehrer erreicht hatte. Die Lebensführung des jungen Hille galt sowohl den Eltern als auch dem Vorgesetzten des Vaters, Freiherrn von der Borg in Holzhausen, als ungewöhnlich und kritikwürdig; noch 1913 bestätigte von der Borg, daß Hille »seinem Vater viel Sorgen gemacht« habe. – Ganz und gar entfernte sich Hille von seinen Brüdern Xaver, dem späteren Franziskanermönch Kilian, und Philipp, dem Weltgeistlichen in Paderborn und Berlin. Ein Abbild der tief empfundenen Erziehungsmisere schuf Hille in seiner Erziehungstragödie »Des Platonikers Sohn«. Petrarcas Sohn Giovanni kann in vieler Hinsicht mit Peter Hille identifiziert werden; als »verklärte Gestalt« spricht Giovanni zum Vater: »Du hieltest mich im Dunkel und blutverleugnender Entfremdung, weil ich nicht sprang aus deinen Wünschen und anders wuchs. Du warst ein arger Gärtner in deiner strengen toten Kunst und Gelehrsamkeit, ein tödlicher. Du setztest gefangen mit früherem Leben und ersticktest mit einer Mumie.« – Ähnlich wie die etwa gleichaltrigen Schriftsteller M. G. Conrad, Heinrich und Julius Hart und Wolfgang Kirchbach wurde auch für Hille die Schule zu einem »Leisten«, auf den man »gezogen und gezerrt« wird. War noch das Warburger Progymnasium erträglich (1871-1874), so wurde das Gymnasium in Münster zur Qual. Entspannung und Interessenbefriedigung suchte der junge Hille in einer geheimen Schülerverbindung, in der man Marx, Bebel, Darwin, auch die Werke von Hamann und Proudhon las. Gutzkow und Ludwig Büchner galten als Vorbilder; man nannte sich »Satrebil« und bezog sich damit auf das »Libertas« der Französischen Revolution von 1789. Huldigungstelegramme an Ernst Haeckel und Wilhelm Liebknecht zeigen das emotionale Engagement der jungen Dichter für die fortschrittliche Naturwissenschaft und den Kampf des Proletariats. Aus dieser Zeit stammt die lebenslange Freundschaft zwischen Peter Hille und den Brüdern Hart.
Auch die ersten Gedichte entstanden in dieser Zeit. Hilles lyrische Anfänge gingen vom Volkslied aus, wie »Der fahrende Scholar« erkennen läßt. Aber bereits in diesen ersten Gedichten wird Hilles Bemühen um konzentrierteste Anschaulichkeit sichtbar, indem auf der Suche nach dem wirkungsvollsten, prägnantesten Ausdruck – später sollte das expressionistischem Wollen sehr nahe kommen – hin und wieder eine Verkürzung bis zum Klischee eintrat:
»So viel Maßlieb, als da prangen,
So viel Dornen als gestellt
Muntere Vöglein, die da sangen,
Grüne Jäger auf dem Feld;
Wie dem Bächlein Wellen rinnen
So viel mal hab ich mein Sinnen
Liebste mein, auf dich gestellt.«
Erste Erfolge hatte Hille in der handgeschriebenen Schülerzeitschrift »Herz und Geist«, die er gemeinsam mit den Harts herausgab, jedoch wurde die sich langsam anbahnende Entwicklung zum Dichter jäh unterbrochen, da Hille 1874 das Gymnasium in der Unterprima verlassen mußte: In sechs Fächern lagen »ungenügende« Leistungen vor. – Das Leben verlief nunmehr zwar abwechslungsreich, aber in jeder Hinsicht enttäuschend: Als Protokollschreiber beim Staatsanwalt in Höxter sah er sich erneut mit der Beamtenlaufbahn konfrontiert und trennte sich endgültig von ihr. Als Korrektor in einer Leipziger Druckerei ließ sich die tötende Gleichförmigkeit der Arbeit nicht mit den zahlreichen Vorlesungen in Einklang bringen, die Hille besuchte. Diesem neuen Scheitern folgte eine Art »Schutzhaft« bei einer Tante, die ihm nur den Ausgang zur Messe gestattete.
Als von Bremen her die Brüder Hart die ersten Attacken gegen die reichsdeutsche Kunst und Literatur ritten, schloß Hille sich ihnen sofort an und unterstützte sie bei der redaktionellen Arbeit. – Hille hatte bereits frühzeitig mit publizistischer Tätigkeit begonnen; sie begleitete ihn sein ganzes Leben und bedeutete oft die einzige Möglichkeit zum Broterwerb. Bereits an der »Deutschen Dichtung. Organ für Dichtung und Kritik«, von den Brüdern Hart 1877 ins Leben gerufen, beteiligte sich Hille als Mitarbeiter; vor allen Dingen wurden darin seine ersten Gedichte einem größeren Publikum vorgestellt. Es handelte sich um »Das Vergißmeinnicht« und um den weitaus gewichtigeren »Prometheus«. Bemerkenswerter jedoch sind seine literaturwissenschaftlichen Exkurse, die er für die »Deutschen Monatsblätter. Centralorgan für das literarische Leben der Gegenwart« schrieb. Sie lassen sich durchaus den gleichzeitig erschienenen programmatischen Aufsätzen der Harts zuordnen, mit denen die naturalistische Bewegung eingeleitet wurde. Die drei Essays Hilles – »Die Literatur der Erkenntnis und der Humor«. »Zur Geschichte der Novelle« und »Eichendorffs Lyrik« gehen von der Voraussetzung aus, daß Kunst und Politik sich gegenseitig beeinflussen. Besonders nachdrücklich geht er in seinem Abriß zur Geschichte der Novelle darauf ein: Die Novelle ist ihm das Ergebnis eines durch Revolutionen morsch gewordenen Staatsgefüges; sie bedeutet Bruch mit der Herkömmlichkeit, Zerstörung der Konventionalität, sie trägt »den klaren Stempel der Zeit« Auch die Vorbilder, die von Hille genannt werden, entsprechen ganz der Orientierung der Brüder Hart: Heinrich Heine, dessen Gedichte »am besten die Ungebundenheit der neuen Richtung« charakterisieren, Turgenjew, weil er »wirkliche, nur zu wirkliche Menschen« gestalte, und Bret Harte, dessen Werke »großartig, naiv wie die Ilias« seien. Die gleichen Namen, mit ähnlichen Bewertungen versehen, finden sich in Heinrich Harts Aufsatz »Neue Welt«, erschienen in der gleichen Zeitschrift, bekannt geworden als das erste bedeutsame Dokument der naturalistischen Dichtergeneration.
Deutlicher als die Harts sieht Hille die Weiterführung von Traditionen. Zwar polemisiert auch er gegen die deutsche Klassik – den Goethe der »Iphigenie« und den Schiller der »Maria Stuart« –, und er meint mit dieser Kritik weniger die Klassiker als vielmehr die Klassizisten, die Zeitgenossen wie Heyse und Wildenbruch, die sich als legitime Erben der Klassiker betrachteten, aber Hille sieht sehr deutlich die Zusammenhänge zwischen den revolutionären Ereignissen seit 1830 und einer Kunst, die »erst frisch mit modernem Anhauch in die neuere Zeit« stürmt. Die Jungdeutschen und Büchner erkennt Hille als die Ahnherren der jüngsten literarischen Entwicklung; er spricht damit Beziehungen an, die von anderen Dichtern erst viel später bestätigt wurden. Darüber hinaus fixiert Hille poetologische Grundsätze, die einzigen logisch entwickelten in seinem Gesamtschaffen, diejenigen, die dieses Schaffen konstituieren. Dichtung ist ihm keine logisch faßbare, damit rational gestaltbare Erscheinung, sondern sie ist ihm die Fixierung eines Augenblicks. In seinem Essay »Eichendorffs Lyrik« formulierte er dieses Prinzip deutlich: »Im Anhauch strömt dem Dichter ein Ganzes zu. Klang und Gedanke. Dieser letztere findet im elektrischen Ruck seine einzig poetische Verkörperung. Diesen Moment, diese augenblickliche Vermählung muß man erhaschen, verewigen die Erscheinung. Ist die Glut versprüht, steht der Dichter nüchtern da wie jedes andere Menschenkind.« Das Aphoristische seines Werkes wird damit theoretisch legitimiert; das Punktuelle seiner Lyrik, das alle Entwicklung ausschließt und weitgehend auch auf Vorgänge verzichtet, ist damit zum kunstmethodischen Grundsatz erhoben worden. Der Verzicht auf jede Bearbeitung, dem Hille zeit seines Lebens huldigte, war allerdings auch die Konsequenz des Dichters, dem Inhalt die Priorität zuzugestehen und jede formale Änderung als Verlust der inhaltlichen Ursprünglichkeit zu sehen. Daraus resultieren die zahlreichen Entgleisungen, vor allen Dingen in der Lyrik; peinliche Sentimentalitäten, Kitschelemente finden sich inmitten gelungenster Verse:
»Bin von Seimen überfließend!
Tags rings in Runde gießend,
Wohin meine Blicke schenkten.
Alles sprießend!«
(»Der Tag und die Sonne«)
Die für Hille charakteristische lyrische Subjektivität sieht ihre Aufgabe darin, Stimmungen bei verwandten Naturen zu bestätigen. Nicht mit dem rationalen Durchdringen, sondern mit emotionaler Übereinstimmung sind die Gedichte Hilles zu begreifen. Die lyrische Subjektivität objektiviert sich selbst durch das ausdrückliche Verlangen nach dem gleichgestimmten
Partner; Kommunikation mit der Dichtung Hilles ist, nach Meinung des Dichters; nur möglich durch »geistigen Magnetismus«. Hilles lyrische Subjektivität ist dadurch gekennzeichnet, daß sie die gesamte Welt begreifen möchte, daß sie Welt und Natur in sich aufsaugen will, immer jedoch im Bestreben, bei dieser Vereinigung nicht mit dem vereinzelten Menschen, mit dem isolierten Naturereignis zusammentreffen zu müssen. Die Furcht vor den Menschen, vor der Gesellschaft wird kompensiert durch eine sich universal gebärdende Naturliebe. Bei dieser Gelegenheit mußte Hille mit den Dichtern der Romantik ins Gericht gehen, in deren Naturverehrung und Naturdichtung Hille eine »Gefühlsüberreizung« und mystische Verschleierung echter patriotischer Gefühle sah. Selbst der hochverehrte Eichendorff, dessen Naturgedichte von Hille aus der Romantik ausgeklammert wurden, verfiel mit seinen Zeitgedichten scharfer Kritik, denn sie seien »dürr und gemacht«. Einen schärferen Vorwurf als den, ein Gedicht »gemacht« zu haben, hat Hille niemals erhoben. Das bedeutete in seinen Augen eine Todsünde, Verrat an der über alles gestellten Schöpferkraft.
Die »Deutschen Monatsblätter«, eine nur kurzlebige Zeitschrift, erwies sich bei aller Heterogenität ihrer Mitarbeiter und Beiträge als ein wesentliches Organ zur Vorbereitung des deutschen Naturalismus, besonders durch die Intensität, mit der gesellschaftlich-politische Fragestellungen abgehandelt wurden. Im gleichen Jahre, in dem Bismarck mit dem Sozialistengesetz die Arbeiterklasse in seine Gewalt zu bekommen hoffte, beriefen sich die »Deutschen Monatsblätter« auf die »große, kulturhistorische Bedeutung«, die der Sozialismus habe, vor allen Dingen, »was Erhöhung der idealen und sittlichen Bedürfnisse betrifft«. Hier wurde eine Tendenz deutlich, die die besten Arbeiten des Naturalismus auszeichnete: die Verbindung des Kunstwerkes mit dem Kampf des Proletariats. Hier müssen auch die ersten Anregungen für Hilles Roman »Die Sozialisten« gesehen werden.
Auch in anderen Zeitschriften der Harts publizierte Hille, und erst, als die publizistische Tätigkeit von Heinrich und Julius abgelöst wurde durch monumentale literarische Vorhaben, gab Hille Arbeiten an M. G. Conrads »Gesellschaft« und das »Magazin für die Literatur des In- und Auslandes«, führende Zeitschriften der naturalistischen Bewegung. Aber auch dann blieb die Verbindung zu den Harts erhalten; selbst auf die Ausbildung von deren monistischer Weltsicht, niedergelegt vor allen Dingen in Julius Harts »Der neue Gott«, dürfte Hille maßgeblichen Einfluß genommen haben, indem er mit seiner Dichtung ein Beispiel geben wollte, wie natürliche Sachverhalte ein poetisch-mythisches Eigenleben erreichen können.
In dieser Zeit, die vielleicht die geordnetste in Hilles Leben war, schrieb Victor Hugo jenen Brief an Hille, auf den er sich gern bezog: »Sie sind von der großen Legion des Geistes. Ich schüttele Ihnen die Hand.« Mit diesen Zeilen verschaffte sich Hille während seines Aufenthaltes in London Einlaß bei Swinburne, von dem vielleicht auch der Hinweis auf die Brontes gegeben wurde, über den noch zu reden sein wird.
Der Aufenthalt in Bremen war kurz; die Beschäftigung am »Bremer Tageblatt«, einer sozialdemokratischen Zeitung, bedeutete eine Übergangslösung. Hille wollte nunmehr ein Zentrum der Arbeiterbewegung kennenlernen, sich weiterbilden und Erfahrungen sammeln. Es begann die ruhelose Wanderung durch Europa, die ihn zuerst 1880 nach London führte. Hier konnte er seine sozialen Ambitionen voll befriedigen: Er lebte in den Elendsvierteln, lernte äußerste soziale Not kennen und wurde zum Freund der Ausgestoßenen, der an der Peripherie der Gesellschaft Lebenden. London bedeutete auch Begegnung mit Sozialisten, und Anarchisten; hier erhielt Hille seinen entscheidenden Unterricht in Sozialwissenschaften.
Aber auch der Weltliteratur widmete er sich, der Geschichte der Philosophie; er las englische Literatur und trug sich mit zahlreichen eigenen Plänen. Vieles aus dieser Zeit liegt im Dunkel, nur wenige Materialien wie Benutzungsscheine des Britischen Museums geben einige Aufschlüsse.
Mit dem Rest einer Erbschaft finanzierte Peter Hille 1884 eine holländische Schauspielertruppe, die bald bankrott ging und damit auch Hilles finanzielle Lage zum Ruin führte. Hilles Anliegen war es, seine Londoner Erfahrungen in einem Kollektiv anzuwenden und mit moralischen Beweggründen ein Ensemble zu scharfen, das sowohl in ethischer als auch ästhetischer Hinsicht ein Muster sein sollte. Aber Hilles Erwartungen auf eine ästhetische Erziehung des Menschen erfüllten sich nicht. Völlig verarmt, begann Hille ein abenteuerliches vagabundierendes Leben.
Alle entscheidenden Lebensvorgänge wurden von Hille nur am Rande poetisch verarbeitet; die Abläufe ließen sich nur selten mit Hilles Prinzip vereinen, den Moment beschreiben zu wollen. So finden sich auch nur sehr spärliche Zeugnisse für Hilles Vagantendasein, z. B. sein Gedicht »Vagantenweihe«. Deutlichere, weil unmittelbarere Rückschlüsse läßt jedoch das Gedicht in Prosa »Höhenstrolch« zu:
»Ein großer Lump schreitet durch die Himmel. Seine gewaltigen Knie verlieren sich im strahlenden Glanz.
Aus allen Taschen muß es fallen, aus allen zerrissenen Taschen.
Und der lallende Schritt in schreienden Schuhen, stark und fröhlich singt er weiter. Und allen Gassenjungen der weiten Welt – in grinsend kichernder Freude –, lautlos schlau, sammeln die goldene Ernte hinter diesem verwahrlosten Schreiten!
Was für ein Lump: der Weltbeglücker.«
Ein Selbstporträt wird hier gegeben. Hille betont das Bettlerhafte, Zerlumpte, verzichtet nicht nur auf alles Bedauern über diesen Zustand, sondern sieht gerade dadurch die Möglichkeit zu vollständiger künstlerischer Freiheit gegeben, die ihm die Himmel öffnet und seine Kunst so weit wie möglich verbreitet, eifrigste Sammler der aus einer unerschöpflichen Quelle kommenden Gaben – gemeint sind Hilles Gedichte auf Zetteln und Zeitungen, Speisekarten und Postkarten – sind die ärmsten Kinder, die Gassenjungen. Das universale Weltgefühl, in das sich Hille gerettet hatte, wird nun nochmals erweitert. Zwar ist auch hier der allumfassende Gedanke noch vorhanden (»der weiten Welt«), aber der Höhenstrolch steht über der Welt, er ist in den Himmel eingegangen. Die Höhe, damit die Distanz wird betont: Bereits die Knie verlieren sich im himmlischen Glanz. – Noch deutlicher als früher ist Hille bereit, seine Dichtungen über die Welt auszuschütten, wenn ihm dafür seine Außenseiterstellung erhalten bleibt. Aus der Not der Armut machte Hille die Tugend des dichtenden Vaganten.
In den achtziger Jahren begann, bei aller materiellen Not des Dichters, für ihn ein reges geistiges Leben; die Anfänge bedeutungsvoller Freundschaften finden sich hier. Vor allen engagierte sich Detlev von Liliencron für den Dichter. Anfangs war es die dichterische Begabung, die Liliencron aufhorchen ließ. Sie unterschied sich nach seiner Meinung deutlich von der »jetzigen neuen Generation der Dichter« (Brief vom 11. Juli 1885 an Hermann Friedrichs). Bald darauf wurden die Beziehungen freundschaftlicher und führten 1887 zur persönlichen Begegnung der Dichter in Kellinghusen. Wohlwollend reagierte Liliencron auf Hilles Zeitschrift »Völkermuse. Kritisches Schneidemühl«, die heute völlig verschollen ist. Aus Liliencrons Feder stammt eine der seltenen Einschätzungen zu dieser Zeitschrift: »... es ist nur für die äußersten, alleräußersten geistigen Spitzen unserer Deutschen geschrieben. Zu viel Kaviar! Wer ist Hille? Jedenfalls ein sehr geistreicher Mensch.« Es läßt sich aus dieser Äußerung schließen, daß Hilles nur in zwei Nummern erschienene Zeitschrift vorwiegend der literarischen Polemik diente. Innerhalb der verschiedenen naturalistischen Gruppierungen, wie sie sich in München und Berlin, in Leipzig und Dresden bildeten, versuchte Hille, seine Position zu behaupten, indem er die Beiträge der anderen Mitstreiter analysierte. Dieser Vorgang führte zu einer Reihe von Dichternoten, die später in verschiedener Weise gedruckt wurden: Einmal als literaturwissenschaftlicher Stichwortkatalog (»Deutsche Dichter der Gegenwart«), zum anderen als höchst abstrahierte und pointiert zugespitzte Notate (»Dichternoten«). In der »Völkermuse« hat Hille vermutlich mit diesen Positionsbestimmungen begonnen; darauf deuten Liliencrons Frage »Wer ist Hille?« und die unwillige Feststellung, daß das über ihn selbst Geschriebene »recht albern« sei. Unter den »Dichtern der Gegenwart« findet sich eine Liliencron-Einschätzung, die sowohl Liliencrons Frage provoziert haben könnte (»was ist Liliencron?«) als auch seinen Unwillen erregt haben dürfte: Liliencron ist, so Hille, »der Menschenfreund, fast die gute Gesellschaft des Krieges. Und sonst ein deutscher Muselmann, ein Muselmann mit treuen, tiefen Kornblumenaugen.« Während es Hille gelang, sowohl den Klassikern mit einer Art Formel gerecht zu werden (»Goethe: das wache Selbst«) als auch die Zeitgenossen exakt einzuschätzen (»Gerhart Hauptmann: Rübezahl im Armenhause«), blieben die Einschätzungen ihm ähnlicher Dichter wie auch die Beschreibung der eigenen Besonderheit unscharf und gaben Fehldeutungen Raum. Das trifft für Liliencron ebenso zu wie für O. E. Hartleben, für die Lasker-Schüler wie für Hille selbst. Diese Dichter waren Hilles insularer Poesie und seiner sich bewußt isolierenden Poetik zu nahe verwandt, als daß er sie hätte in eine Distanz versetzen können, die ihm die gleiche Objektivität wie bei der Beurteilung anderer Schriftsteller ermöglichte.
Liliencron fühlte sich selbst Hille verwandt, bezeichnete ihn mehrfach als bedeutenden Dichter, als den besten Kenner nicht nur der heimischen, sondern auch der ausländischen Literaturen und bewertete ihn als »sehr tief«. Höheres Lob hatte Detlev von Liliencron nicht zu vergeben.
Hilles Bemühungen um eine eigene Positionsbestimmung und der Zwang, sich mit journalistischen Beiträgen den Lebensunterhalt verdienen zu müssen, führten ihn immer enger an die naturalistische Bewegung heran, deren Geschichtsschreiber er werden wollte. Bereits 1888 arbeitete Hille an einem Aufsatz »Der deutsche Naturalismus«, von dem allerdings lediglich die »Deutschen Dichter der Gegenwart« erhalten geblieben sein dürften. Keinesfalls jedoch sollte es eine polemische Darstellung des Naturalismus werden. Vielmehr fühlte Hille sich im Kampf gegen die wilhelminische Literatur, gegen französische Salondramatik und ihre deutschen Nachahmer (»Ludwig Fulda oder der parfümierte Sturm«) verbunden. Lediglich in den Theoremen einer erstrebten Literatur unterschieden sich Hille und die deutschen Naturalisten zu dieser Zeit.
Materielle Schwierigkeiten ließen jedoch auch diese Arbeit nicht zu einem Ende kommen: Der Winter 1888/89 sah Hille am Rande seiner Kräfte, Blut spuckend und krank; und Liliencron schrieb an Hermann Heiberg: »Peter Hille, der geistvollste Dichter der Jetztzeit, stirbt zur Zeit aus Hunger und weil er keine Sohlen mehr hat... und sein Volk, ja dieses Skat- und Biervolk, läßt ihn höhnisch sterben.« – Karl Henckell brachte Hilfe; das Frühjahr 1889 sah beide Dichter in Zürich, Es kam zu Begegnungen mit Arnold, Böcklin, auf dessen 75. Geburtstag Hille ein bemerkenswertes Gedicht schrieb, das sowohl Böcklins bewußte Zeitentrücktheit begriff (»Aus tiefem Sande grinsen fremde Zeichen«) als auch die Grenzen seiner künstlerischen Widerspiegelung sah (»Die großen stummen Seelen bitten / der ungeheuren Dinge und der wilden Welt: / ›Du bist nun da; so löse uns die Lippen; / du weißt uns alle träumen unser Brausen!‹«). Hille lernte auch Gottfried Keller persönlich kennen und bezog ihn später in seine »Deutschen Dichter der Gegenwart« ein: »Gehört auch noch dazu.« Interessant ist Hilles Keller- Darstellung durch die Informationen über »Romeo und Julia auf dem Dorfe« und die Identifikation Hilles mit diesem Werk, das er als »keusch und sinnenglühend« bezeichnet. Nur selten findet sich in Hilles Werk eine so deutliche Distanzierung von »göttlichen Geboten«, Hinweis darauf, wie weit sich Hille vom Dogma der Kirche entfernt hatte.
Der Schweizer Aufenthalt bedeutete nur kurze Zeit Ruhe. Bald brach Hille zu erneuter Wanderschaft auf. Italien lockte ihn, auch Ungarn, Tirol, wahrscheinlich sogar Spanien – jedenfalls weisen einige Angaben in dem Roman »Die Hassenburg« darauf hin –, hießen die Stationen eines abenteuerlichen und wirren Lebens. 1891 flehte Hille, völlig mittellos, die Harts um Hilfe an. In doppelter Weise drohte Hille der Ruin: Einmal war er völlig mittellos der Fremde ausgeliefert, zum anderen wurde dieser Zustand von Bekannten – wahrscheinlich vor allen Dingen von John Henry Mackay – genutzt, um Hilles poetische Kraft, die nur an der Peripherie des politischen und gesellschaftlichen Lebens gedeihen wollte, in den Dienst extremer literarischer Gruppierungen zu zwingen. Hilles Individualismus und Mackays Anarchismus, geschult an Max Stirner, schlossen sich aus, weil Hilles Individualismus bei aller Vereinzelung auf die Gesellschaft gerichtet war, mehrfach akzentuiert sogar auf das Proletariat und die »Gassenjungen«, denen seine Kunst Schönheitsvorstellungen vermitteln wollte. Während Mackay in seinem Roman »Die Anarchisten« die These aufstellte, daß Kultur und Zivilisation erst dann möglich seien, wenn alle Formen des Staates geschwunden sind, ist nach Hilles Auffassung Kunst gerade dazu da, um die Menschwerdung des Menschen zu unterstützen und seine Selbstbefreiung voranzutreiben: Unter dem Stichwort »Gesellschaft« findet sich in der »Enzyklopädie der Kleinigkeiten«: »Sprache ist schon Gesellschaft. Wer deutlich angenehme Laute spricht, hat auch andere Eigenschaften gebildet und ist anderem etwas wert.«