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Graf Roedern, der am Abend des 29. September zusammen mit Herrn von Hintze und einem Vertreter der Obersten Heeresleitung nach Berlin zurückreiste, erhielt vom Kaiser den Auftrag, in Berlin die für die Bildung der neuen Regierung erforderlichen Schritte zu tun.
Die Initiative ging jedoch sofort in die Hände der »Mehrheitsparteien« des Reichstags über. Die den Intentionen des Kaisers entsprechende Anregung des Grafen Roedern, in der äußersten Not des Vaterlands alle Parteigegensätze zurückzustellen und durch die Bildung eines die sämtlichen großen Parteien umfassenden Koalitionskabinetts die Einheit des deutschen Volkes zum Ausdruck zu bringen, wurde kurzerhand und schroff abgelehnt. Die Mehrheitsparteien machten sich daran, ein Kabinett aus ihren Mitgliedern zu bilden.
Als neuer Kanzler wurde von ihnen zunächst der bisherige Vizekanzler von Payer in Aussicht genommen. Dieser lehnte jedoch ab, sei es, weil er sich der ungeheuren Aufgabe nicht gewachsen fühlte, sei es, weil aus den Reihen seiner eigenen Parteifreunde heraus Stimmung für einen anderen Kandidaten gemacht wurde: für den Prinzen Max von Baden. Dieser war mir schon in den letzten Tagen der Kanzlerschaft des Herrn Michaelis von dem Abgeordneten Conrad Haußmann als der gegebene Reichskanzler bezeichnet worden. Er war inzwischen durch einige Reden, die er als Präsident der Badischen Ersten Kammer gehalten hatte, in der politischen Welt als ein Anhänger eines Versöhnungsfriedens und als ein Mann von liberalen Anschauungen bekannt geworden. Schon im Dezember 1917 hatte er das Wort von dem »Weltgewissen« gesprochen, das hinter unserer Kraft stehen müsse, um die Welt mit uns zu versöhnen. In einer seiner späteren Reden rief er das »Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit« an, das erfordert hatte, »daß man die Hölle dieses Krieges nicht noch einmal losließ, bevor der ehrliche Versuch gemacht wurde, ob nicht die Differenzen zwischen den Kriegführenden schon so weit geschwunden sind, daß Verhandlungen sie überbrücken könnten«. Und in seiner Rede aus Anlaß der Jahrhundertfeier der badischen Verfassung bezeichnete er die »Demokratisierung« als das Ziel unserer politischen Entwicklung, mit dem Hinzufügen. »Heute enthält die Forderung nach äußerer Kraftentfaltung zugleich die Forderung nach innerer Freiheit.«
Prinz Max von Baden Reichskanzler
Solche Worte waren eine starke Empfehlung bei den Führern der Mehrheitsparteien, die hier Geist von ihrem Geist zu spüren glaubten. In den persönlichen Unterhaltungen, die der alsbald nach Berlin gerufene Prinz mit den Parteiführern hatte, verstärkte er diesen Eindruck durch seine gewinnende Liebenswürdigkeit. Sogar die Sozialdemokraten setzten sich über ihre anfänglichen Bedenken gegen die Inaugurierung der demokratischen Epoche durch einen Prinzen und Thronfolger hinweg. Ob der Prinz die Kraftnatur sei, der allein in dem schwersten Sturm das Steuerruder des Vaterlands anvertraut werden durfte, danach fragte niemand; im Gegenteil, die sich beim ersten Gespräch aufdrängende Wahrnehmung, daß der liebenswürdige und wohlmeinende Prinz alles eher sei als eine Kraftnatur, hat wohl nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Begeisterung für seine Kandidatur bei gewissen Führern der Mehrheitsparteien zu erhöhen.
Am 3. Oktober wurde Prinz Max von Baden zum Reichskanzler und zum preußischen Minister der Auswärtigen Angelegenheiten ernannt. Der Posten des preußischen Ministerpräsidenten blieb unbesetzt! Beigegeben wurden ihm als Staatssekretäre ohne Portefeuille die Zentrumsführer Gröber und Erzberger sowie der Sozialdemokrat Scheidemann, derselbe, der vor Jahren den Verrat als die Familientradition der Hohenzollern bezeichnet hatte, Einige Tage später wurde auch der fortschrittliche Abgeordnete Conrad Haußmann, nachdem er den Posten des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei abgelehnt hatte, zum Staatssekretär ohne Portefeuille ernannt.
Die Staatssekretäre ohne Portefeuille, die kein bestimmtes Arbeitsbereich und damit um so mehr Zeit zum Reden und Raten hatten, bildeten zusammen mit dem Vizekanzler von Payer und dem Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums, Dr. Friedberg, die ihre Ämter beibehielten, unter dem Vorsitz des Reichskanzlers das »Kriegskabinett' das jetzt in dunkler Stunde das Schicksal Deutschlands in seine Hand nahm.
Auch sonst gab es einigen Wechsel. Vor allem wurde in der Leitung des Auswärtigen Amtes Herr von Hintze, der auch durch die lebhafte Befürwortung der »Demokratisierung« in den entscheidenden Besprechungen im Großen Hauptquartier das nun einmal gegen ihn bestehende Mißtrauen nicht hatte überwinden können, durch den bisherigen Staatssekretär des Reichskolonialamts, Dr. Solf. ersetzt, der für dieses Amt manche Qualität mitbrachte, nur die eine nicht, die zur Ergänzung des neuen Kanzlers für den deutschen Außenminister in dieser Zeit doppelt nötig gewesen wäre: harte Kraft, Herrn Dr. Solf wurde als Unterstaatssekretär der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. David beigegeben. Der Kriegsminister von Stein räumte seinen Platz dem General Scheüch, Das Reichsamt des Innern übernahm an Stelle des zurücktretenden Herrn Wallraf der Zentrumsführer Trimborn. An die Spitze des von dem Reichswirtschaftsamt abgetrennten Reichsarbeitsamts wurde ein Sozialdemokrat gestellt, der heutige Reichsministerpräsident Bauer. Zum Statthalter von Elsaß-Lothringen, dessen bundesstaatliche Autonomie einen der Punkte des zwischen dem Prinzen Max und den Mehrheitsparteien vereinbarten Programms bildete, wurde der altelsässische Bürgermeister von Straßburg, Dr. Schwander, zum Staatssekretär von Elsaß-Lothringen der elsässische Abgeordnete Hauß ernannt. Wo noch ein Nichtparlamentarier an der Spitze eines Reichsamts blieb, wurde ihm ein parlamentarischer Unterstaatssekretär zur Seite gestellt.
Die Demokratisierung
Zu dem Programm der neuen Regierung hatten die Sozialdemokraten vorausschauend schon am 23. September das Konzept gemacht, als sie die Bedingungen festlegten, unter denen sie den Eintritt ihrer Parteimitglieder in die Regierung billigen wollten. Das Programm, zu dem Prinz Max in seiner ersten Rede vor dem Reichstag sich Punkt für Punkt ausdrücklich bekannte, enthielt:
Das Programm der neuen Regierung
Diesem Programm trat auch die nationalliberale Reichstagsfraktion nachträglich bei und gewann damit wieder ihren zeitweilig unterbrochenen Anschluß an die »Mehrheitsparteien«. Abseits standen die Konservativen und die Deutsche Fraktion auf der Rechten, die Unabhängigen Sozialdemokraten auf der Linken und schließlich die polnische Fraktion, die sich in Erwartung der kommenden Dinge alles vorbehielt.
Die Bildung der neuen Regierung aus der Initiative und nach dem Willen der Reichstagsmehrheit und der Inhalt des zwischen Reichsregierung und Mehrheitsparteien festgelegten Programms sind als eine »unblutige Revolution« bezeichnet worden. Der Umschwung war in der Tat gewaltig: die Krone hatte auf die Ausübung ihrer wichtigsten politischen Befugnisse zu Händen der Parlamentsmehrheit verzichtet. Eine »Revolution« war der Umschwung zwar nicht; denn er hielt sich noch in den Bahnen des Gesetzes. Aber er war das unmittelbare Vorspiel zur wirklichen Revolution; denn er brachte Männer an die Spitze der Reichsgeschäfte, von denen ein ernstlicher Widerstand gegen den drohenden Aufruhr und Umsturz nicht zu erwarten war.