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Die Juli-Krisis

Um die Mitte des Jahres 1917 schien sich die ungeheure Woge des Weltkriegs endlich überschlagen und brechen zu wollen. Die große flandrische Offensive, die England vom Druck des U-Bootkriegs entlasten sollte, war nach den ersten Anfangserfolgen stecken geblieben; die Franzosen verhielten sich nach dem Scheitern ihrer Aisne- und Champagne-Offensive verhältnismäßig ruhig; im Osten spielte die russische Kriegspartei unter Kerenski ihre offensichtlich letzte Karte aus. Eine wirksame Hilfe Amerikas war für die nächste Zeit noch nicht zu erwarten. Der U-Bootkrieg begann, wie oben (S. 39ff.) gezeigt, einen ernstlichen Druck auf England auszuüben. Unter der Wirkung dieser Verhältnisse schien ein Umschwung in dem bisher starren Kriegswillen der Entente sich vorzubereiten. Es wurden die ersten Fühler von dort zu uns und zu Österreich-Ungarn ausgesteckt (S. 145 ff.) Mehr denn je kam es in diesen Wochen nach Hindenburgs Wort darauf an, die Nerven zu behalten und unseren Feinden die durch die Lebensmittelschwierigkeiten, Streiks und Krawalle im April erweckte Hoffnung auf unseren inneren Zusammenbruch zu nehmen.

 

Neue innere Schwierigkeiten

Es traf sich deshalb sehr unglücklich, daß der Reichsschatzsekretär Graf Roedern infolge der enormen Steigerung der monatlichen Kriegsausgaben in der zweiten Junihälfte erklären mußte, daß er mit seinen Kriegskrediten etwa Mitte Juli zu Ende sein werde und daß infolgedessen der Reichstag schon in der ersten Julihälfte wieder zusammenberufen werden müsse. Gerade der Verlauf der letzten Tagung hatte gezeigt, wie sehr auch der Reichstag und seine Parteien unter dem nervenzerrüttenden Einfluß der allgemeinen Hochspannung standen und wie sehr man, trotz aller Bemühungen um eine enge Fühlung, auf Unberechenbares gefaßt sein mußte.

In meinen Besprechungen mit den Parteiführern in den letzten Junitagen setzte ich mich deshalb für eine möglichst kurze Tagung unter Ausschaltung aller innerpolitischen Streitfragen ein. Ich fand dafür beim Zentrum, bei den Nationalliberalen und der Rechten Verständnis. Dagegen machten die Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei einige Bedenken geltend, ob es möglich sein werde, sich einfach auf die Bewilligung des neuen Kriegskredits zu beschränken. Die Sozialdemokraten schließlich erklärten eine neue gründliche Erörterung sowohl der äußeren wie der inneren Fragen für unerläßlich.

Was speziell den Verfassungsausschuß anlangt, so bestand bei den bürgerlichen Parteien Geneigtheit, auf die Wiederaufnahme seiner Beratungen während der Julitagung überhaupt zu verzichten. Die Sozialdemokraten schufen jedoch, ohne sich mit den anderen Parteien in Verbindung zu setzen, eine vollendete Tatsache: Der Abgeordnete Scheidemann lud in seiner Eigenschaft als Vorsitzender den Verfassungsausschuß für den 3. Juli zu einer Sitzung ein, auf deren Tagesordnung er die verschiedenen Wahlrechtsanträge setzte; gleichzeitig veröffentlichte er die Tatsache der Einberufung mit der Bezeichnung der Tagesordnung im »Vorwärts«.

Es gelang mir nicht ohne Mühe, am Nachmittag des 2. Juli eine Einigung darüber herbeizuführen, daß die Erörterung der einzelstaatlichen Wahlrechte zurückgestellt werden sollte; dafür konnte ich auf Grund meiner inzwischen mit den Bundesregierungen geführten Verhandlungen eine entgegenkommende Erklärung hinsichtlich der Vermehrung der Mandate der großen Reichstagswahlkreise in Aussicht stellen.

 

Die Juli-Tagung des Reichstags

Der Hauptausschuß des Reichstags begann seine Beratungen über den neuen Kriegskredit am 3. Juli mit einer allgemeinen Aussprache. Gleich am ersten Tage machte der Abgeordnete Ebert Ausführungen, in denen er unsere Lage schwarz in schwarz malte: er erklärte klipp und klar, das deutsche Volk sei am Ende seiner Kraft, ein weiterer Winterfeldzug sei unmöglich, es müsse jetzt Frieden gemacht werden. Er wurde unterstützt von dem Abgeordneten Erzberger, der insbesondere den Nachweis zu erbringen versuchte, daß der U-Bootkrieg ein Fehlschlag sei und nicht zum Ziele führen könne. Die leider bekannt gewordenen Voraussagen des Admiralstabs, daß der U-Bootkrieg innerhalb von fünf bis sechs Monaten England friedensbereit machen würde, kamen ihm dabei zu Hilfe.

Ich muß hier erwähnen, daß der Abgeordnete Erzberger mir bei den vertraulichen Vorbesprechungen seine Ansichten über den U-Bootkrieg bereits entwickelt hatte. Ich hatte dabei die Bemerkung gemacht, ich dürfe wohl annehmen, daß er nicht beabsichtige, seine Ansichten, die ich für zu pessimistisch halten müßte, im Hauptausschuß oder gar im Plenum des Reichstags zu entwickeln; denn solche Ausführungen müßten in einer Zeit, wo alles auf die Nerven gestellt sei, bei uns die Zuversicht erschüttern, bei unseren Gegnern die offenbar sinkende Stimmung neu beleben und sie in der Absicht, den Krieg bis zum bitteren Ende fortzusetzen, bestärken, Herr Erzberger hatte es weit von sich gewiesen, seine Kritik in einem weiteren Kreise darzulegen. Er hätte um so leichter auf seinen Vorstoß verzichten können, als ihm die Auffassung des Reichskanzlers über die Notwendigkeit, wenn irgend möglich, vor dem Winter zum Frieden zu kommen, genau bekannt war.

Der Kanzler blieb den Sitzungen des Hauptausschusses fern. Er hatte sich in einer vertraulichen Besprechung mit den Fraktionsführern am Vormittag des 2. Juli eingehend über die gesamte Lage ausgesprochen und wollte es vermeiden, durch seine Anwesenheit im Hauptausschuß eine große politische Debatte zu provozieren, die auch bei Proklamierung der Vertraulichkeit angesichts der erfahrungsgemäß durchlässigen Wände des Sitzungssaals nur inopportun und schädlich sein konnte. Leider hat er mit seinem Fernbleiben diesen Zweck nicht erreicht.

 

Besprechungen im Hauptausschuß

Die Aufgabe der Abwehr lag auf dem Staatssekretär Zimmermann, dem Staatssekretär v. Capelle und mir. Zimmermanns Position im Reichstag, die früher recht gut gewesen war, hatte einen bedenklichen Stoß erhalten durch den Optimismus, mit dem er die Möglichkeit eines Krieges mit den Vereinigten Staaten aus Anlaß unseres uneingeschränkten U-Bootkrieges behandelt hatte; ferner durch die unglückliche Affäre seines Bündnisangebots an den mexikanischen Präsidenten Carranza, das von den Amerikanern aufgefangen und dechiffriert worden war; schließlich durch die Angelegenheit der durch einen Kurier des Auswärtigen Amtes, aber ohne Vorwissen des Amtes, nach Christiania eingeschmuggelten Bomben.

Der Admiral von Capelle hatte sich, ähnlich wie der Admiralstab, in den Voraussagen über die Wirkungen des U-Bootkriegs zu weit vorgewagt; er hatte vor allem amerikanische Munitions- und Truppentransporte größeren Stiles als unmöglich erklärt, »eine bessere Jagdbeute könnten sich unsere U-Boote nicht wünschen«. Auch mir wurde der Vorwurf gemacht, daß ich die für den Erfolg des U-Bootkriegs maßgebenden Verhältnisse falsch beurteilt und durch mein Votum den Ausschlag für die Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs gegeben hätte. Ich konnte damals in Rücksicht auf die Sache die von mir bis zur Entscheidung über den U-Bootkrieg eingenommene Stellung nicht klarlegen. So hatte auch ich gegenüber dem Ansturm dieser Tage einen doppelt schweren Stand.

Am 4. und 5. Juli wurden die von den Herren Ebert und Erzberger eingeleiteten Vorstöße mit gesteigerter Heftigkeit von den sozialdemokratischen Abgeordneten David, Noske und Hoch fortgesetzt, während die Sprecher der bürgerlichen Parteien sich eine anerkennenswerte Zurückhaltung auferlegten.

Ich versuchte den Ansturm abzuwehren und den Mitgliedern des Ausschusses zum Bewußtsein zu bringen, daß nur Ruhe, Besonnenheit und Entschlossenheit uns zu einem erträglichen Frieden helfen könnten, daß dagegen ein Nervenzusammenbruch uns rettungslos dem Untergang ausliefern müsse.

Schon am ersten Tage der Ausschußberatung führte ich gegenüber den Abgeordneten Ebert und Erzberger aus:

»Wir sind nicht am Ende unserer Kraft. Wir sind es nicht, weil wir es nicht sein dürfen. Es steht für uns alles auf dem Spiel. Daß wir heute keinen Frieden haben können, keinen Hindenburg-Frieden und keinen Scheidemann-Frieden, das wissen wir alle. Wenn wir heute Frieden machen wollen, dann gibt es einen Kapitulationsfrieden, einen Unterwerfungsfrieden, der uns für ein Jahrhundert zu Sklaven unserer Feinde macht. Und weil das eine Unmöglichkeit ist, weil eine Nation eher zugrunde gehen als ein solches Schicksal auf sich nehmen kann, darum fehlt uns die Kraft nicht, wenn es gilt, auch noch einen vierten Winter durchzuhalten.«

 

Gegen Ebert, Erzberger, Noske, Hoch.

Dem Abgeordneten Noske, der auf die schleunige Durchführung der inneren Reformen drängte und dabei mich als die Seele des Widerstands scharf angriff, entgegnete ich:

»Ich stehe auf dem Boden dessen, was der Kanzler bei den verschiedensten Gelegenheiten wiederholt und eindringlich gesagt hat, und auf dem Boden der Osterbotschaft des Kaisers und Königs. Der Kaiser hat die Osterbotschaft mit den Worten geschlossen, er handele nach den Überlieferungen großer Vorfahren, wenn er einem treuen, tapferen, tüchtigen und hochentwickelten Volke das Vertrauen entgegenbringe, das es verdient. Meine Herren, erwidern Sie Vertrauen mit Vertrauen! Suchen Sie dazu beizutragen, daß dieses Vertrauen nicht erschüttert wird! Treten Sie den Zweiflern entgegen! Auf diesem Wege kommen war zusammen und wird es uns gelingen, durch die schweren Zeiten, in denen wir leben, hindurchzukommen und unser Vaterland über die schweren Gefahren hinüberzuretten.«

Am Tage darauf hatte ich einen Vorstoß des sozialdemokratischen Abgeordneten Hoch zu parieren, der noch schärfer als die Herren Ebert und Noske ein weiteres Durchhalten für unmöglich erklärte und deutlich mit der Revolution drohte. In meiner Antwort sagte ich:

»Die jetzige Generation trägt in diesen Monaten und in den Monaten, die kommen werden, die Zukunft des deutschen Volkes für Jahrhunderte in ihrer Hand, und die jetzige deutsche Generation muß sich dieser Stunde gewachsen zeigen; sonst gehen wir unter ... Unser Kaiser ist auch in diesem Krieg der Friedenskaiser geblieben, der den Frieden erstrebt, wie nur irgendeiner im deutschen Volk. Aber unser Kaiser wird nur einen Frieden machen, der das deutsche Volk erhält und seine Zukunft sichert, keinen Frieden, der unseren Untergang bedeutet. Weil die große Mehrheit des deutschen Volkes von den Worten, die ich gesprochen habe, ebenso durchdrungen ist wie ich selbst, schreckt es mich auch nicht, wenn der Abgeordnete Hoch mehrfach die Revolution an die Wand gemalt hat. Dieses Spielen mit der Revolution kann mich und die verantwortlichen Leute im Reich in ihrer Pflichterfüllung auch nicht einen Augenblick irremachen. Wir werden den schweren Weg gehen, den wir gehen müssen, mit der Aufopferung unserer Persönlichkeit bis zum Letzten, und alles, was Sie sagen, wird uns nur darin bestärken, unsere Pflicht zu tun.«

 

Vorstoß Erzbergers

Es schien, als ob die Bemühungen, die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, Erfolg haben sollten. Da erhob sich in der Ausschußsitzung vom 6. Juli der Abgeordnete Erzberger zu einem neuen Vorstoß. Er begann mit der Behauptung, kein einziges Ausschußmitglied habe sich der Wucht der Ausführungen des Abgeordneten Hoch entziehen können oder vermöge die Richtigkeit seiner Ausführungen zu bestreiten. Unsere Lage schilderte er als so gut wie aussichtslos. Die Fronten würden mit Mühe und Not gehalten, aber auch das werde immer schwerer. Die Hoffnung auf den U-Bootkrieg sei erledigt. Unsere Verbündeten würden wohl nicht mehr lange mitmachen können. Auch er wolle keinen Unterwerfungsfrieden.

Aber die entscheidende Frage sei für ihn, ob wir übers Jahr einen besseren Frieden bekommen könnten als jetzt, und diese Frage müsse er verneinen. Unter diesen Umständen bleibe nur die Rückkehr auf den Ausgangspunkt des Krieges, die Proklamierung des reinen Verteidigungskrieges und die Abweisung eines jeden Eroberungszieles. Die große Mehrheit des Reichstags müsse sich in einer Kundgebung auf den Boden des 4. August 1914 stellen.

Während der Vorsitzende des Ausschusses, der Zentrumsabgeordnete Dr. Spahn, mich fragte, ob dieser Vorstoß seines Fraktionskollegen Erzberger etwa mit dem Reichskanzler vereinbart sei, was ich natürlich nur verneinen konnte, erhob sich der Abgeordnete Ebert und beantragte, die Sitzung zu vertagen, um den Fraktionen Gelegenheit zu geben, zu dem hochwichtigen Vorschlage des Abgeordneten Erzberger Stellung zu nehmen.

Im Ausschuß entstand eine ungeheure Erregung, da offenbar außer einigen Sozialdemokraten niemand wußte, was den Abgeordneten Erzberger zu seinem Vorgehen bestimmt hatte und worauf er hinauswollte, Angesichts der bekannten Beziehungen Erzbergers zum Kanzler und zum Auswärtigen Amt hielten es viele, ebenso wie der Vorsitzende Dr. Spahn, geradezu für ausgeschlossen, daß Erzberger eine solche Aktion ohne vorherige Verständigung mit dem Reichskanzler unternommen haben könnte; man sah deshalb in seinen Ausführungen die Ankündigung eines vollständigen Niederbruches aller Hoffnungen auf einen guten Ausgang des Krieges.

 

Abwehr des Erzbergerschen Angriffes

Ich hielt es für notwendig, dem Abgeordneten Erzberger sofort entgegenzutreten, um den geradezu niederschmetternden Eindruck nach Möglichkeit abzuschwächen. Zunächst wies ich darauf hin, daß der Boden des 4. August, auf den uns der Abgeordnete Erzberger zurückführen wolle, von der deutschen Politik niemals verlassen worden sei. Der Reichskanzler habe stets sich auf den Standpunkt gestellt: wir führen einen Verteidigungskrieg, keinen Eroberungskrieg. Niemals habe der Reichskanzler von Eroberungen gesprochen. Allerdings von »Sicherheiten«. Aber diese Sicherheiten seien eine Frage des Erreichbaren; sie würden abgewogen werden müssen gegen die Opfer, die gebracht worden und noch zu bringen seien. Ich wandte mich dann gegen Erzbergers Kritik der Ergebnisse und Aussichten des U-Bootkriegs, den wir uns nicht selbst entwerten dürften. Vor allem aber betonte ich, daß unsere Feinde das, was sie durch Berennen von außen nicht erreichen könnten, jetzt durch Sprengung von innen heraus zu erreichen suchten. Es gelte, die Engländer von unserer Entschlossenheit zu überzeugen, den Krieg bis zu einem für uns annehmbaren Frieden durchzukämpfen, ungeachtet aller inneren Meinungsverschiedenheiten. Dies sei die Voraussetzung unserer Zukunft. »Aber wenn das Umgekehrte eintritt, wenn die Engländer sehen: in Deutschland kommt die alte Uneinigkeit zum Durchbruch; während das Haus brennt, während der Feind vor den Toren steht, brechen in Deutschland schwere innere Krisen aus; während sie, die Engländer, die schwere Bedrohung, vor der sie stehen, mit einer bewunderungswürdigen Nervenkraft ertragen, kommt man in Deutschland ins Wanken, fangen uns in Deutschland die Knie an zu zittern und zu schlottern – dann sind wir verloren. Dann können Sie jetzt machen, was Sie wollen. Einerlei welche Aktionen jetzt eingeleitet werden, einerlei welche Beschlüsse Sie jetzt fassen, – keine Beschlüsse und keine Aktionen werden den Erfolg haben, den wir alle wünschen, wenn sie nicht nach außen von dem Bewußtsein der Stärke und dem Entschluß, durchzuhalten, getragen werden.«

Die von dem Abgeordneten Ebert beantragte Vertagung wurde angenommen. Ich begab mich mit den Staatssekretären Zimmermann, von Capelle und Graf Roedern sofort zum Kanzler, um ihm über das Vorgefallene zu berichten und die einzunehmende Haltung zu besprechen.

Der Kanzler war von Herrn Erzberger über die Absicht seines Vorstoßes, der auf ein Friedenspronunciamiento des Reichstags hinauskam, ebensowenig unterrichtet worden wie irgendein anderes Mitglied der Reichsleitung. Wir alle fanden es geradezu ungeheuerlich, daß ein Abgeordneter, der seit Beginn des Krieges fortgesetzt zu diplomatischen Aktionen herangezogen worden und vom Kanzler wie vom Auswärtigen Amt eines geradezu uneingeschränkten Vertrauens gewürdigt worden war – übrigens gegen meine immer wiederholten Warnungen –, in der auf das schärfste zugespitzten internationalen Lage eine solche hochpolitische Aktion ohne Verständigung mit dem Kanzler öffentlich in die Wege leiten konnte.

Über die Motive Erzbergers bestand damals Unklarheit. Glaubte er mit seinem Vorstoß den ihm bekannten päpstlichen Friedensbemühungen zu sekundieren? Oder waren es österreichische Einflüsse, die ihn zu seinem Vorstoß bestimmt hatten? Inzwischen hat Graf Czernin ausdrücklich diesen letzteren Zusammenhang bestätigt. In seiner Rede vom 11. Dezember 1918 sagte Graf Czernin:

»Einer meiner Freunde hatte auf mein Ersuchen mehrere Unterredungen mit den Herren Südekum und Erzberger und bestärkte sie durch meine Schilderung unserer Lage in ihren Bestrebungen zur Erreichung der bekannten Friedensresolution. Es war auf Grund dieser Schilderungen, daß die beiden genannten Herren die Reichstagsresolution für einen Verständigungsfrieden durchsetzten ... Ich hoffte damals einen Augenblick, im Deutschen Reichstag einen dauernden und kräftigen Verbündeten gegen die Eroberungspläne der Militärs zu finden.«

 

Kanzlerkrisis

Herr Erzberger hatte sich also nicht gescheut, mit sozialdemokratischer Unterstützung im Einvernehmen mit dem auswärtigen Minister der uns verbündeten Donaumonarchie und ohne Kenntnis und Zustimmung der eigenen Regierung eine große politische Aktion zu unternehmen, deren Tragweite zu übersehen er trotz seiner Vielgeschäftigkeit gar nicht in der Lage war; eine Aktion, die – statt dem wankenden Verbündeten den Rücken zu stärken – Verwirrung in die eigenen Reihen tragen und die Hoffnungen der Feinde auf unseren inneren Zusammenbruch neu beleben mußte.

Der nächste Erfolg des Erzbergerschen Vorgehens, das alsbald in einem Teil unserer Presse zu einer großen Sensation aufgebauscht wurde, war – gewollt oder ungewollt – der Ausbruch der Kanzlerkrisis. Zwar besuchte Herr Erzberger am Nachmittag des 6. Juli den Kanzler und bestritt jede Spitze gegen diesen, ja behauptete, eine große Mehrheit auf eine dem Kanzler genehme Friedensresolution vereinigen zu wollen. Das hinderte ihn nicht, am Tag darauf einem führenden nationalliberalen Abgeordneten, dessen Gegnerschaft zu Herrn von Bethmann bekannt war, auf dessen Befragen zu erklären, daß er den Rücktritt Bethmanns für notwendig halte, und mit diesem Abgeordneten sowie einem Offizier aus dem Stabe der Obersten Heeresleitung in mehrfachen Zusammenkünften zu vereinbaren, daß alles getan werden müsse, um Bethmanns Abdankung zu erzwingen. Herr Erzberger sprach dabei die Zuversicht aus, bis zum nächsten Dienstag werde Herr von Bethmann »besorgt« sein.

Der Kanzler empfing am Nachmittag des 6. Juli als Vertreter der Mittelparteien die Herren Dr. Spahn, Dr. Schiffer und von Payer. Er gewann aus der Unterhaltung mit den Herren den Eindruck, daß zur Aufrechterhaltung der Geschlossenheit der inneren Front ein offenes Bekenntnis des Kaisers zum gleichen Wahlrecht für Preußen unumgänglich sei. Am Abend nach neun Uhr erschien bei ihm eine Delegation der Mehrheitssozialdemokraten, bestehend aus den Herren Ebert, Scheidemann, David, Hoch und Hoffmann (Kaiserslautern), um das Bekenntnis zu einem Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen und das gleiche Wahlrecht für Preußen zu verlangen. Der Kanzler erzählte mir, die Herren hätten nicht von Bedingungen für die Bewilligung des anstehenden Kriegskredites gesprochen, auch nicht die »Parlamentarisierung der Regierung«, von der in den Kreisen der Mittelparteien wieder eifrig gesprochen wurde, berührt; aber sie hatten keinen Zweifel daran gelassen, daß die Nichtberücksichtigung ihrer Forderungen den Sozialdemokraten eine weitere Unterstützung der Kriegspolitik der Regierung unmöglich machen würde.

 

Die Frage des gleichen Wahlrechts für Preußen

Am folgenden Tag, Sonnabend, den 7. Juli, beabsichtigte der Kaiser, von einem Besuch in Wien kommend, zu kurzem Aufenthalt in Berlin einzutreffen. Dort fanden sich auch der Generalfeldmarsch all von Hindenburg und General Ludendorff ein, die sich auf die Vorgänge im Hauptausschusse hin zusammen mit dem Kriegsminister beim Kaiser zum Vortrag angesagt hatten, wovon dem Kanzler durch den Kriegsminister Mitteilung gemacht worden war. Der Kanzler bat den Kaiser telegraphisch um seine Zuziehung. Der Kaiser kam nachmittags um dreieinhalb Uhr an und fuhr vom Bahnhof direkt zum Kanzler, der ihm über die innerpolitische Lage Vortrag hielt; der Kaiser behielt sich seine Stellungnahme vor. Dann empfing der Kaiser im Schlosse Bellevue die Generale zur Entgegennahme eines Vortrages, der sich jedoch auf militärische Angelegenheiten beschränkte. Hindenburg und Ludendorff reisten am Abend nach dem Hauptquartier zurück.

Auf einen weiteren Vortrag, den der Kanzler am Sonntag vormittag dem Kaiser hielt, setzte dieser für den Montag abend einen Kronrat über die Frage des gleichen Wahlrechts an. Am Abend fand im Kreise des Staatsministeriums eine Vorbesprechung statt, in der Herr von Bethmann erklärte, er halte die Notwendigkeit der Gewährung des gleichen Wahlrechts für so zwingend, daß er, falls die Entscheidung der Krone gegen das gleiche Wahlrecht ausfallen sollte, nicht mehr in der Lage sein würde, die Geschäfte weiterzuführen.

Der Kronrat fand Montag, den 9. Juli, abends sechs Uhr, im Kongreßsaal des Reichskanzlerhauses unter Vorsitz des Kaisers statt. Außer den Staatsministern waren sämtliche Staatssekretäre des Reiches zugezogen worden. Der Kaiser beschränkte sich auf eine kurze Ansprache, in der er auf die Notwendigkeit einer ruhigen, von keiner Gewitterstimmung beeinflußten Prüfung der für das preußische Staatsleben so wichtigen Wahlrechtsfrage hinwies und von uns allen die offenste und rückhaltloseste Meinungsäußerung verlangte. In der Aussprache, die bis neuneinhalb Uhr dauerte, wurden alle Gründe für und ' gegen mit Lebhaftigkeit und Nachdruck ins Feld geführt.

Ich trat mit dem Reichskanzler für die Ergänzung der Osterbotschaft durch das gleiche Wahlrecht ein. Aus allen Diskussionen und Unterhaltungen der letzten Zeit hatte ich den bestimmten Eindruck gewonnen, daß die innerpolitische Atmosphäre dringend dieser Entspannung bedurfte, daß ferner ein weiteres Zögern nur zur Folge haben werde, daß der Krone die Initiative – und dann nicht nur die Initiative in der Wahlrechtsfrage – aus der Hand gleiten werde. Außerdem hatte meine Prüfung der wahrscheinlichen Ergebnisse der verschiedenen Wahlsysteme mich zu dem Schluß geführt, daß der praktische Unterschied zwischen dem gleichen Wahlrecht und einem – neben dem gleichen Wahlrecht allein in Frage kommenden – stark demokratischen Plural Wahlrecht nicht groß genug sei, um in einer so entscheidungsschweren Zeit einen schweren inneren Konflikt zu rechtfertigen.

Von den elf Staatsministern sprachen sechs für, fünf gegen die Gewährung des gleichen Wahlrechts.

Der Kaiser folgte den Vorträgen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit. Er selbst nahm keine Stellung, sondern behielt sich seine Entscheidung vor.

Der Kronrat vom 9. Juli

In der auf den Kronrat folgenden zwanglosen Unterhaltung sagte mir der Kaiser:

»Allen Respekt vor meinem Staatsministerium 1 Jeder einzelne von Ihnen hat seine Sache ausgezeichnet vertreten. Aber man muß mir Zeit lassen, mit mir selbst fertig zu werden.«

Er fügte hinzu, daß er eine Entscheidung auch nicht wohl treffen könne, ohne in einer für das Staatsganze und die Dynastie so wichtigen Angelegenheit dem Kronprinzen Gelegenheit gegeben zu haben, Stellung zu nehmen. Der Kronprinz wurde noch in der Nacht telegraphisch aufgefordert, alsbald nach Berlin zu kommen.

Der Hauptausschuß hatte Sonnabend und Montag in Gegenwart des Kanzlers weitergetagt, ohne daß über die Fragen gesprochen wurde, die jetzt mit einemmal ganz in den Vordergrund der Ereignisse gerückt waren. Der Kanzler verteidigte seine Politik gegen Angriffe von den verschiedenen Seiten, besonders gegen eine starke Offensive des Abgeordneten Dr. Stresemann; er sprach gut, fand aber keine Resonanz. Am Dienstag vormittag stellte zu Beginn der Sitzung der Abgeordnete Ebert die Anfrage, ob der Kanzler Mitteilungen über das Ergebnis des Kronrats machen könne; als der Kanzler verneinte, beantragte Herr Ebert die Vertagung, die angenommen wurde. Meinerseits veranlaßte ich die Vertagung des Verfassungsausschusses, der an dem gleichen Tage über die Wahlrechtsanträge abstimmen sollte.

Die unterdessen geführten Besprechungen mit den Fraktionsführern über die Herstellung einer besseren Fühlung zwischen Reichsleitung und Parlament ergaben, daß die Besetzung wichtiger Reichsämter mit Vertrauensleuten der Parteien sich nicht ohne weiteres in einer die verschiedenen Wünsche befriedigenden und dabei der Sache gerecht werdenden Weise durchführen ließ. Ich hatte mein Amt dem Kanzler zur Verfügung gestellt, um in keiner Weise ein Hindernis für die Überwindung der inneren Schwierigkeiten zu sein; das gleiche hatten einige meiner Kollegen getan. Aber im allgemeinen zeigten die Parteiführer weder für sich selbst noch für ihre Kollegen ein allzu heißes Begehren nach verantwortungs- und dornenvollen Ämtern. Aus den Besprechungen ergab sich das Projekt der Errichtung eines »Reichsrates«, dem außer dem Reichskanzler und den Staatssekretären Vertrauensmänner der größeren Parteien und eine gleiche Anzahl von Bundesratsmitgliedern angehören sollten; der »Reichsrat« sollte über die wichtigeren Vorgänge der Politik auf dem Laufenden gehalten und vor wichtigeren Entscheidungen in der äußeren und inneren Politik gehört werden. Der »Reichsrat« wäre also ein Organ dauernder Fühlungnahme zwischen Reichsleitung, Bundesrat und Reichstag gewesen. Die Berufung einzelner geeigneter Parlamentarier in leitende Stellungen sollte dadurch nicht ausgeschlossen werden.

 

Das gleiche Wahlrecht gesichert

Am Morgen des 11. Juli traf der Kronprinz in Berlin ein. Er hatte am Vormittag eine lange Aussprache mit dem Kaiser. Von dort begab er sich zum Kanzler. Während der Kronprinz noch unterwegs war, telephonierte der Kaiser an den Kanzler, der Kronprinz habe sich von der Notwendigkeit der Gewährung des gleichen Wahlrechts überzeugt, ebenso von der Notwendigkeit, daß der Kanzler, der dem Kaiser sein Amt unabhängig von der Entscheidung über die Wahlrechtsfrage zur Verfügung gestellt hatte, im Amte bleibe. Er bitte ihn, die Order wegen des gleichen Wahlrechts alsbald vorzulegen und die Geschäfte weiterzuführen.

In der am Nachmittag stattfindenden Staatsministerialsitzung berichtete der Kanzler über die von dem Kaiser und König getroffenen Entscheidungen und legte den Entwurf einer Königlichen Order vor, laut welcher der dem Landtag vorzulegende Gesetzentwurf wegen Änderung des Wahlrechts zum Abgeordnetenhaus auf der Grundlage des gleichen Wahlrechts aufgestellt werden sollte. Der Vizepräsident des Staatsministeriums regte daraufhin an, daß angesichts der Tragweite dieser Entscheidung für das Verfassungsleben des Preußischen Staates die Staatsminister insgesamt ihre Ämter zur Verfügung stellen möchten, um die schwierige Aufgabe der kaum zu umgehenden Neugestaltung des Staatsministeriums zu erleichtern. Die sämtlichen Staatsminister erklärten, dieser Anregung entsprechen zu wollen, einige mit dem Hinzu fügen, daß sie angesichts der von dem König getroffenen Entscheidung sich nicht imstande fühlten, die Verantwortung ihres Amtes weiter zutragen, und deshalb den König unter allen Umständen um ihre Entlassung bitten würden.

Die Order über das gleiche Wahlrecht wurde am Abend des ii. Juli vom König unterzeichnet und dem Ministerpräsidenten zugestellt. Sie wurde am nächsten Morgen veröffentlicht.

Damit war in dem wichtigsten und umstrittensten Punkt der »Neuorientierung« das entscheidende Zugeständnis gemacht. Die große innerpolitische Forderung, um die jahrzehntelang erbittert gekämpft worden war, hatte ihre Erfüllung gefunden.

Schon vorher, am 6, Juli, hatte ich im Reichstag namens der Verbündeten Regierungen die Vermehrung der Mandate für die großen Reichstags Wahlkreise in aller Form zugesagt.

Für die von allen Seiten als notwendig erkannte engere Fühlung zwischen Reichsleitung und Volksvertretung schien in dem »Reichsrat« eine praktische Lösung gefunden zu sein.

 

Die Frage der Friedensresolution

Aber die großen Zugeständnisse auf dem Gebiet der inneren Politik, groß genug, um eine neue Ära heraufzuführen, genügten nicht mehr, um die erregten Gemüter zu beschwichtigen und das Reichsschiff wieder in ruhiges Fahrwasser zu steuern. Es blieb die Frage der »Friedensresolution« und neben ihr die Frage des Kanzlers.

Über eine Resolution des Reichstags zur Friedensfrage beriet eine »interfraktionelle Kommission«, zu der sich Vertreter der Mehrheitssozialisten, der Fortschrittler und des Zentrums zusammengetan hatten. Die Nationalliberalen waren anfangs gleichfalls vertreten, schieden dann aber aus, da sie in Sachen der Friedensresolution sich mit den anderen Parteien nicht einigen konnten. Die beiden Rechtsparteien standen abseits. Auch Vertreter der Reichsleitung wurden nicht zugezogen. Die Parteien wollten jetzt selbst die Politik machen.

Gleichzeitig wurde in allen Fraktionen, die bisher dem Kanzler ihr Vertrauen gewährt hatten, gegen Herrn von Bethmann Sturm gelaufen. Auch der sonst bei den Linksparteien nicht gerade beliebte »Militarismus« wurde als Sturmbock benutzt: überall wurde unter Berufung auf »Offiziere vom Großen Hauptquartier« verbreitet, daß Hindenburg und Ludendorff es ablehnten, mit Bethmann Hollweg weiter zusammenzuarbeiten. Daneben versicherte Herr Erzberger mit der Miene des Eingeweihten, daß Bethmann für Friedensverhandlungen »unmöglich« sei.

In meinen Verhandlungen mit den Parteien suchte ich auch jetzt noch zu verhindern, daß die nach unseren Wahrnehmungen heranreifende Friedensmöglichkeit durch eine schwere innere Krisis und einen Kanzlerwechsel zerstört würde. Fast schien es, als ob ich damit Erfolg haben sollte. Noch am Mittwoch, 11. Juli, erklärten mir die Führer der Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten, kein Interesse an einem Kanzler Wechsel zu haben. Für das Zentrum gab mir in Gegenwart des Abgeordneten Dr. Spahn der Abgeordnete Fehrenbach ein Resumé wieder, in dem er nach einer langen Aussprache in der Fraktion deren Meinung zusammengefaßt habe. Das Resumé lautete etwa: Das Zentrum sähe in seiner großen Mehrheit kein Bedenken gegen das Verbleiben des Kanzlers im Amte. Die Fraktion vertraue jedoch darauf, daß der Kanzler, falls sich herausstellen sollte, daß seine Person eine Erschwerung für Friedensverhandlungen sei, daraus die Konsequenzen ziehen werde. Sogar von den Konservativen, den erklärten Bethmann-Gegnern, gewann ich den Eindruck, daß sie für eine geräuschlose Erledigung der Kriegskredite unter Zurückstellung ihrer Wünsche nach einem Kanzlerwechsel zu haben sein würden.

Mit den Vertretern der Nationalliberalen konnte ich erst am Donnerstag vormittag sprechen. Als deren Vertreter besuchten mich die Herren Dr. Schiffer, Dr. Stresemann und List (Eßlingen). Dr. Stresemann erklärte, ein großer Teil seiner Partei betrachte Bethmanns Abgang als eine Notwendigkeit. Dr. Schiffer machte nur den Einwand, daß nicht alle in der Partei so dächten. Auf meinen Hinweis auf die außenpolitischen Umstände, die im gegenwärtigen Moment gegen einen Kanzler Wechsel und für eine glatte Bewilligung des Kriegskredits sprächen, machte Herr Dr. Stresemann etwa folgende Bemerkung: Für die Haltung der nationalliberalen Fraktion gegenüber Herrn, von Bethmann müsse doch auch die Stellungnahme der Obersten Heeresleitung von großer Bedeutung sein. Es könne auf seine Fraktion nicht ohne Eindruck bleiben, wenn er heute genötigt sei, ihr mitzuteilen daß der General Ludendorff entschlossen sei, seinen Abschied zu nehmen, wenn Bethmann Kanzler bleibe.

 

Verschärfung der Kanzlerkrisis

Jetzt sah ich allerdings jede Hoffnung schwinden, die Situation zu halten und in einer Lage, in der alles auf innere Festigkeit und Geschlossenheit ankam, einen Kanzlerwechsel zu vermeiden. Zunächst weigerte ich mich, an die Richtigkeit der Information des Herrn Dr. Stresemann zu glauben; im übrigen würde ich sofort den Kanzler veranlassen, sich mit dem General Ludendorff unmittelbar in Verbindung zu setzen.

Als ich mich nach dieser Besprechung zum Kanzler begab, erfuhr ich, daß der Kronprinz an demselben Vormittag zu früher Stunde die Abgeordneten Graf Westarp, Mertin, Erzberger, Dr. Stresemann, von Payer und Dr. David der Reihe nach empfangen und sie über die politische Lage und die Stellung des Kanzlers eingehend befragt habe, ohne sich selbst zu äußern. Die Wahl der Abgeordneten Erzberger und David, die in ihren Fraktionen in der vordersten Reihe der Kanzlerstürzer standen, ließ eine geschickte Regie erkennen. Der Kronprinz hatte im weiteren Verlauf des Vormittags den österreichisch-ungarischen Botschafter Prinzen Hohenlohe und den bulgarischen Gesandten Rizoff besucht, die beide mit größtem Nachdruck für ein Verbleiben Bethmanns eintraten.

Ferner erfuhr ich beim Kanzler, daß Herr von Payer berichtet hatte, ein »Offizier aus dem Großen Hauptquartier« habe einem seiner Fraktionskollegen gesagt, er möge in der Fraktion verbreiten, Hindenburg und Ludendorff könnten nicht länger mit Herrn von Bethmann Zusammenarbeiten; den gleichen Auftrag hätten Erzberger, Dr. Stresemann und wohl auch Dr. David für ihre Fraktionen erhalten.

Auf die telegraphische Mitteilung dieser Behauptungen ließ General Ludendorff am Abend desselben Tages an den Kanzler zurücktelegraphieren:

»Ich habe keinen Offizier beauftragt, einem Abgeordneten zu übermitteln, daß ich mit dem Herrn Reichskanzler von Bethmann Hollweg nicht Weiterarbeiten könne.«

Das Dementi bezog sich jedoch nur auf die Beauftragung eines Offiziers mit einer solchen Mitteilung, nicht auf die Sache selbst. Denn zu der Stunde, als dieses Telegramm an die Reichskanzlei abgesandt wurde, war in der Sache der entscheidende Schritt bereits geschehen und Herrn von Bethmann bekannt: Generalfeldmarschall von Hindenburg und General Ludendorff hatten den Kaiser für den Fall des Verbleibens des Herrn von Bethmann im Laufe des Nachmittags telegraphisch um ihre Entlassung gebeten.

 

Hindenburg und Ludendorff gegen das Verbleiben Bethmann Hollwegs

Der unheilvolle Gegensatz, in den die beiden Generale, je länger desto mehr, zu Herrn von Bethmann geraten waren, kam so im ungeeignetsten Augenblick zur Explosion.

Ohne Kenntnis von diesem Vorgang zu haben, verhandelte ich an demselben Nachmittag im Reichstag über die »Friedensresolution«.

Dort erhielt ich ein Schreiben des Herrn Dr. Stresemann, der mir unter Bezugnahme auf die Unterhaltung vom Vormittag mitteilte, daß die nationalliberale Fraktion beschlossen habe, durch ihren stellvertretenden Vorsitzenden, den Prinzen Schönaich-Carolath, dem Chef des Zivilkabinetts des Kaisers mitteilen zu lassen, daß nach ihrer Ansicht eine Lösung der Krisis ohne den Rücktritt des Reichskanzlers nicht denkbar sei.

Dann wurde mir durch den Abgeordneten Fehrenbach mitgeteilt, das Zentrum habe seine Stellung von gestern unter der Einwirkung gewisser Mitteilungen aus dem Großen Hauptquartier geändert und sich gegen eine kleine Minderheit dahin ausgesprochen, der Kanzler sei ein Friedenshindernis und müsse gehen. Der Fraktionsvorsitzende Dr. Spahn hatte während der Sitzung einen schweren Ohnmachtsanfall erlitten und mußte in ein Krankenhaus transportiert werden.

Die inzwischen in der interfraktionellen Fraktion fertiggestellte Friedensresolution schickte ich an den Kanzler, der im Schloß Bellevue beim Kaiser zum Vortrag war, mit der dringenden Bitte, sich nicht auf diese Resolution festzulegen.

Der Abgeordnete von Payer, der. von den Mehrheitsparteien beauftragt war, die Resolution dem Kanzler zu überreichen, erklärte mir, es sei an' der Resolution kein Wort zu ändern. Auch habe er den Auftrag, vom Kanzler zu verlangen, daß er in seiner im Reichstag abzugebenden Erklärung die Resolution glatt annehme, ohne irgendeinen erklärenden oder umschreibenden Zusatz, auch ohne jede Berufung auf seine bisherige Politik. Ich antwortete Herrn von Payer: »Wenn ich Kanzler wäre, würde ich unter keinen Umständen unter ein solches kaudinisches Joch gehen; da ich nur Stellvertreter des Kanzlers bin, werde ich meinen ganzen Einfluß bei dem Kanzler aufbieten, um ihn zu veranlassen,' ein solches Ansinnen kategorisch zurückzuweisen.«

 

Verhandlungen wegen des Wortlauts der Friedensresolution

Der Kanzler hatte sich Herrn von Payer für neun Uhr abends zur Verfügung gestellt. Es war halb neun Uhr, als meine Unterhaltung mit Herrn von Payer zu Ende war. Ich fuhr zum Kanzler. Dieser war gerade vom Kaiser zurückgekommen. Er teilte mir mit: Der Kaiser habe den Wortlaut der »Friedensresolution« an den Feldmarschall telephoniert. Dieser habe geantwortet, die Oberste Heeresleitung müsse von dieser Resolution eine Schädigung der Schlagkraft des Heeres befürchten, für die sie die Verantwortung nicht übernehmen könne. Der Kaiser habe ihn, den Kanzler, beauftragt, Herrn von Payer zu erklären, in der vorliegenden Fassung sei die

Resolution aus den von der Obersten Heeresleitung angegebenen Gründen unannehmbar. Im übrigen habe der Kaiser Hindenburg und Ludendorff zu weiteren Besprechungen nach Berlin befohlen; sie würden am nächsten Vormittag eintreffen.

Der Kanzler fügte hinzu, er habe dem Kaiser die Unhaltbarkeit seiner Stellung zu den Parteien und zur Obersten Heeresleitung auseinandergesetzt und erneut um seine Entlassung gebeten. Während des Vortrags habe der Chef des Militärkabinetts General von Lyncker bestätigt, daß Hindenburg und Ludendorff telegraphisch um ihre Entlassung nachgesucht hätten. Der Kaiser habe ihn zwar seines ungeminderten Vertrauens versichert und erklärt, gegenüber den beiden Generalen werde er die Sache am nächsten Tage in Ordnung bringen. Er sei aber unbedingt entschlossen, auf seinem Rücktritt zu bestehen.

Ich konnte Herrn von Bethmann in diesem Entschluß nur bestärken. Man mochte über die sachliche Berechtigung und die Zweckmäßigkeit der Stellungnahme der Herren von der Obersten Heeresleitung gegen Herrn von Bethmann denken, wie man wollte – eine weitere Zusammenarbeit war jetzt in der Tat unmöglich, und einen Rücktritt von Hindenburg und Ludendorff hätte weder die Armee noch das Volk vertragen.

Inzwischen war Herr von Payer im Reichskanzlerhause eingetroffen, um sich des Auftrags der Mehrheitsparteien zu entledigen. Der Kanzler teilte ihm mit, daß die Resolution in der vorliegenden Fassung unannehmbar sei, und daß sich am nächsten Tage Gelegenheit geben werde, die Sache in Berlin unter Mitwirkung von Hindenburg und Ludendorff zu besprechen.

Am nächsten Morgen – Freitag, 13. Juli – übersandte der Kanzler in aller Frühe dem Kaiser sein schriftliches Abschiedsgesuch, ohne die Ankunft der beiden Generale abzuwarten.

Der Kaiser ließ mir im Lauf des Vormittags mitteilen, er habe Hindenburg und Ludendorff ersucht, sich mit mir und dem Chef der Reichskanzlei wegen einer Besprechung mit den führenden Abgeordneten in Verbindung zu setzen. Um 4 Uhr nachmittags besprach ich zusammen mit dem Unterstaatssekretär Wahnschaffe im Generalstabsgebäude mit den beiden Generalen die parlamentarische Lage. Von fünf Uhr ab wurden der Reihe nach die Vertreter der einzelnen Fraktionen empfangen. Der Feldmarschall machte seine Ausstellungen an der Resolution und bezeichnete die Stellen, die nach seiner Ansicht einer Änderung bedurften. Es wurde verabredet, daß bei mir am nächsten Tage weiter verhandelt werden sollte. Der Abgeordnete Scheidemann sagte mir beim Abschied: »Verhandeln können wir, aber geändert kann nichts mehr werden.« Ich entgegnete: »Das ist nicht das letzte Wort.«

Die Besprechungen dauerten bis neun Uhr abends. Während der Besprechungen war Hindenburg abgerufen worden; er kam nach etwa einer halben Stunde wieder.

Er war im Schloß Bellevue gewesen, wo inzwischen über den Kanzlerwechsel entschieden worden war.

Von Herrn von Bethmann, zu dem ich mich vom Generalstab begab, erfuhr ich das Nähere, Der Kaiser hatte seine Entlassung genehmigt und den bisherigen Unterstaatssekretär im preußischen Finanzministerium und preußischen Staatskommissar für Volksernährung Herrn Dr. Georg Michaelis zu seinem Nachfolger ernannt.

Herr Michaelis war mir als vorzüglicher Verwaltungsbeamter bekannt, aber zum Leiter der Reichspolitik, zumal in dieser schwierigen Zeit, fehlten ihm nach meiner Ansicht die wichtigsten Voraussetzungen, Ich fragte Herrn von Bethmann, ob er etwa Herrn Michaelis als seinen Nachfolger vorgeschlagen habe, Herr von Bethmann verneinte und fügte hinzu, er sei über die Nachricht genau so erstaunt gewesen wie ich. Volle Klarheit darüber, wer Herrn Michaelis beim Kaiser in Vorschlag gebracht hat, habe ich nie gewinnen können. Nur so viel steht fest, daß der Kaiser wünschte, in Zukunft die Reibungen zwischen der politischen Leitung und der Obersten Heeresleitung nach Möglichkeit vermieden zu sehen, und infolgedessen Wert darauf legte, einen auch der Obersten Heeresleitung genehmen Mann in das Amt des Reichskanzlers zu berufen, Ich fand das Vorgehen bei der Berufung des neuen Kanzlers unbegreiflich und brachte dies gegenüber dem Chef des Zivilkabinetts, Herrn von Valentini, der sich noch am späten Abend mit Herrn Michaelis im Reichskanzlerpalais einfand, mit einiger Heftigkeit zum Ausdruck. Ich sagte voraus, daß der neue Kanzler sich nicht bis Weihnachten werde im Amte halten können, und ersuchte Herrn von Valentini, dem Kaiser meine Bitte um Entlassung zu übermitteln. Auch dem neuen Kanzler, der mich bat, ihm meine Mitarbeit zu gewähren, erklärte ich meinen Entschluß, meine Entlassung zu nehmen; auf sein Drängen sagte ich ihm schließlich zu, für eine Übergangszeit, bis er selbst eingearbeitet sei und für mich einen geeigneten Nachfolger gefunden habe, die Geschäfte weiterzuführen.

 

Vorzeitige Veröffentlichung der Resolution im »Vorwärts«

Unterdessen hatte Wolffs Telegraphisches Bureau der Reichskanzlei telephonisch mitgeteilt, es habe »aus dem Reichstag« den Wortlaut der »Friedensresolution« zur sofortigen Verbreitung erhalten. Da mit den Parteien verabredet worden war, daß am nächsten Tag über die, Resolution weiter verhandelt werden sollte, lag hier ein offensichtlich illoyaler Akt und Gewaltstreich vor. Der neue Reichskanzler ordnete an, daß Wolff ersucht werden solle, die Verbreitung zu unterlassen und durch Rundruf die Presse zu bitten, von einer Veröffentlichung der Friedensresolution, falls ihr diese von anderer Seite zugehen sollte, Abstand zu nehmen. Trotzdem wurde der Text der Friedensresolution am nächsten Morgen im »Vorwärts« publiziert.

In der Frühe des 14. Juli teilte mir der neue Kanzler mit, daß er versuchen wolle, die Friedensresolution durch eine eigene Erklärung überflüssig zu machen. Ebenso telephonierte mir der General Ludendorff, daß er trotz der illoyalen Veröffentlichung der Resolution im »Vorwärts« die für den Nachmittag in Aussicht genommene Besprechung mit den Vertretern der Mehrheitsparteien für zweckmäßig halte, um einige Änderungen durchzusetzen.

Die Besprechung fand in zwangloser Form bei mir im Garten des Reichsamts des Innern statt. Ich suchte die Sache so zu führen, daß die Parteien im Falle einer sie befriedigenden Erklärung des Kanzlers auf die verschiedenen Resolutionen – es lag auch eine der Konservativen und der Nationalliberalen vor – verzichteten. Es schien einen Augenblick lang, als ob ich damit Erfolg haben sollte. Herr von Payer, der als Vertrauensmann des Mehrheitsblockes durch die vorzeitige Veröffentlichung der Resolution sich in einer sehr schiefen Position fühlte – die Veröffentlichung war übrigens ohne sein Wissen geschehen –, suchte offensichtlich einen anständigen Ausweg; sogar Herr Erzberger schien für einen Augenblick schwankend zu werden und es für einen gangbaren Weg zu halten, nach der Rede des Kanzlers – Verständigung über diese vorausgesetzt – über alle vorliegenden Resolutionen zur Tagesordnung überzugehen. Aber die Sozialdemokraten blieben steif. Schließlich erklärte Herr Michaelis, er sehe ein, daß kaum mehr etwas zu machen sei, und er glaube sich mit der Resolution abfinden zu können.

Damit war die Angelegenheit erledigt. Die für den nächsten Nachmittag in Aussicht genommene Zusammenkunft mit den Rechtsparteien und den Nationalliberalen konnte sachlich nichts mehr ändern.

Am Donnerstag, 19. Juli, erschien der neue Kanzler zum erstenmal im Reichstag. In seiner Antrittsrede gab er einen kurzen Überblick über die Kriegslage und entwickelte dann in Sätzen, die den Mehrheitsparteien durch den Chef der Reichskanzlei vorher mitgeteilt worden waren, seine Stellung zur Friedensfrage. Deutschland habe den Krieg nicht gewollt. Es strebe nicht nach Eroberungen, nicht nach gewaltsamer Vergrößerung seiner Macht. Darum werde es nicht einen Tag länger Krieg führen, wenn ein ehrenvoller Friede zu haben sei. Das Gebiet des Vaterlandes sei für uns unantastbar. Der Friede müsse uns die Grenzen des Deutschen Reiches für alle Zeit sicherstellen. Wir müßten im Wege der Verständigung und des Ausgleichs die Lebensbedingungen des Deutschen Reiches auf dem Kontinent und über See garantieren. Der Friede müsse die Grundlage für eine dauernde Versöhnung der Völker bieten, der weiteren Verfeindung der Völker durch wirtschaftliche Absperrung Vorbeugen und uns davor sichern, daß sich der Waffenbund unserer Gegner zu einem wirtschaftlichen Trutzbunde gegen uns auswachse. »Diese Ziele lassen sich im Rahmen Ihrer Resolution, wie ich sie auffasse, erreichen.«

 

Antrittsrede des neuen Kanzlers

Die Worte »wie ich sie auffasse« waren eine Improvisation; sie standen nicht in dem vor der Sitzung den Mehrheitsparteien mitgeteilten Wortlaut und wurden späterhin dem Kanzler zum großen Vorwurf gemacht.

Wir hatten also einen neuen Kanzler, hatten die Friedensresolution und überdies die Zusage des gleichen Wahlrechts in Preußen. Das waren die sichtbaren Ergebnisse der Julikrisis. Sie waren in sich widerspruchsvoll, wie die ganze Krisis selbst.

Die Koalition, der Herr von Bethmann Hollweg zum Opfer gefallen war, hatte mit der andern Koalition, die für die Friedensresolution und das gleiche Wahlrecht gekämpft hatte, nichts gemein als das der Führung Erzbergers folgende Zentrum. Diejenigen Elemente und Faktoren, die in der Frage des Kanzlerwechsels die Entscheidung herbeigeführt hatten, standen innerlich im schärfsten Gegensatz zu denjenigen, die für die Friedensresolution und das gleiche Wald recht eingetreten waren.

Deshalb konnte die Lösung der Krisis niemanden befriedigen.

Die Sozialdemokraten und Fortschrittler hatten zwar die Zusage des gleichen Wahlrechts und die Friedensresolution durchgesetzt, aber der neue Kanzler stand ihren außen- und innerpolitischen Auffassungen wesentlich ferner als Herr von Bethmann.

Die National liberalen, die Rechtsparteien und die Oberste Heeresleitung waren zwar mit dem Kanzlerwechsel zufrieden; aber die Nationalliberalen hatten infolge der Friedensresolution den Anschluß an den sich bildenden Block der Mehrheitsparteien nicht erreicht, die Rechtsparteien waren in den beiden Fragen des Wahlrechts und der Friedensresolution unterlegen, und die Oberste Heeresleitung mußte schließlich nicht nur die von ihr als schädlich erachtete Friedensresolution in Kauf nehmen, sondern mehr als das: die Bildung des in der Friedensresolution sein Glaubensbekenntnis findenden Mehrheitsblocks, der von nun an den Reichstag bis zu seinem wenig ruhmvollen Ende am 9. November 1928 beherrschen und den Gegensatz zwischen Heeresleitung und Reichskanzler mehr und mehr durch den Gegensatz zwischen Heeresleitung und Reichstagsmehrheit ersetzen sollte.

Die Krisis hatte also nur eine Scheinlösung gefunden; die ihr zugrunde liegenden Gegensätze waren nicht ausgeglichen worden. Die Krisis war beendigt, aber der kritische Zustand dauerte fort.


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