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Im Großen Hauptquartier trafen die am Vormittag des 29. September aus Berlin ankommenden Herren eine überaus schwere Lage. Die Entwicklung der letzten Wochen hatte die Aussicht auf eine siegreiche Beendigung des Krieges zerstört. Eine neue Wendung des Kriegsglücks zu unseren Gunsten war nicht mehr zu erwarten.
Lage an der Front
Das sich immer mehr verstärkende Übergewicht unserer Feinde war nicht mehr auszugleichen. Unter dem Druck dieser Erkenntnis, der auch der letzte Mann sich nicht verschließen konnte, und unter den üblen Einwirkungen aus der Heimat, die durch eine mit den raffiniertesten Mitteln betriebene Propaganda des Feindes in unseren Reihen verstärkt wurden, begann der Geist der Truppe sich greifbar zu verschlechtern. Die Fälle, daß unsere Leute auch gegenüber schwachen Angriffen nicht mehr hielten oder gar kampflos zum Feinde überliefen, hatten sich gemehrt; ja es kam vor, daß den neu eingesetzten Verbänden aus den Reihen der zurückflutenden Truppen das böse Wort »Streikbrecher« zugerufen wurde.
Gerade in jenen letzten Septembertagen war die militärische Lage in einer akuten Krisis. Der Kampf um die Siegfriedstellung war auf seinem Höhepunkt: es ging um die Kanalstellungen, die wir vergeblich vor einem Durchbruch zu bewahren suchten. Außerdem hatte am 28. September die englisch-belgische Offensive in Flandern unsere Stellungen um Ypern durchbrochen und damit eine schwere Bedrohung für unsere Positionen an der flandrischen Küste und in der Gegend von Lille geschaffen. Schließlich nötigte uns die Offensive der Franzosen und Amerikaner, unsere Stellungen zwischen Reims und der Maas nicht unerheblich zurückzunehmen. Die ganze Front, die wir vom Herbst 1914 an bis zum Beginn unserer eigenen Offensive im Frühjahr 1918 gegen die stärksten Angriffe gehalten hatten, war auf das schwerste erschüttert und drohte zusammenzubrechen. Dazu kam der Abfall Bulgariens, der den Zusammenbruch der Türkei beschleunigen mußte, und die zweifelhafte Haltung Österreich-Ungarns.
Die Heeresleitung stand vor den schwersten Entschlüssen. Sie stand gleichzeitig vor der Frage, ob die Fortsetzung eines nicht mehr zu gewinnenden Krieges noch zu verantworten sei und ob die Lage nicht dazu zwinge, die sofortige Herbeiführung des Friedens selbst unter großen Opfern zu versuchen.
Die ersten Hinweise der Obersten Heeresleitung auf die Notwendigkeit politischen Handelns zur Herbeiführung des Friedens gehen, wie ich oben dargestellt habe, auf den Monat Juni 1918 zurück. Sie hatten leider nur die Wirkung gehabt, daß Herr von Kühlmann von der Tribüne des Reichstags herab erklärte, der Krieg könne rein militärisch nicht zu Ende gebracht werden. Zum zweitenmal hatte die Oberste Heeresleitung bei den Besprechungen im Großen Hauptquartier Mitte August auf den Ernst der militärischen Lage hingewiesen und die Aussichtslosigkeit einer rein militärischen Beendigung des Krieges betont. Es ist mir nicht bekannt, was darauf unsere politische Leitung zur Herbeiführung eines Friedens getan hat, der allerdings auch damals schon, wie überhaupt während des ganzen Krieges, nur um den Preis empfindlicher Zugeständnisse unsererseits, namentlich in der elsaß-lothringischen Frage, zu haben gewesen wäre. Auch für den Nahestehenden trat sichtbar nur in Erscheinung die Forcierung der Zusatzverträge zum Brester Frieden, dann ~ verbunden die Markierung unseres guten Verhältnisses zur Bolschewikiregierung und die Belastung unseres Bundesverhältnisses zu Österreich-Ungarn und der Türkei. Auch das Weißbuch über die Vorgeschichte des Waffenstillstands gibt keinen genauen Aufschluß. Unter dem österreichischen Druck und angesichts der immer bedenklicher werdenden militärischen Lage wurde am 11. September im Großen Hauptquartier die sofortige Einleitung einer Friedensdemarche bei einer neutralen Macht beschlossen. Es wurde der Versuch gemacht, Österreich-Ungarn und die anderen Bundesgenossen zum Anschluß an einen solchen Schritt zu gewinnen. Dieser Versuch wurde durch den österreichisch-ungarischen Sonderschritt vom 14. September erledigt.
Die Oberste Heeresleitung für Waffenstillstandsverhandlungen
Nun waren seit jener Besprechung am 13. und 14. August sechs schwere Wochen in die Welt gegangen; wir waren militärisch und politisch an den Rand des Abgrundes gedrängt. In dieser Lage trug General Ludendorff am 28. September dem Feldmarschall von Hindenburg vor, daß der Zeitpunkt gekommen sei, an die Reichsregierung die Forderung zu stellen, in sofortige Friedensverhandlungen einzutreten und zu diesem Zweck der Entente einen Waffenstillstand voranschlagen.
Als Graf Hertling und die Staatssekretäre Graf Roeden und von Hintze am 29. September im Großen Hauptquartier mit ihren Sorgen eintrafen, sahen sie sich vor den Antrag der Obersten Heeresleitung auf sofortige Herbeiführung eines Waffenstillstands und Einleitung von Friedensverhandlungen gestellt.
Graf Hertling, der mit dem Entschluß angenommen war, vom Kaiser seinen Abschied zu erbitten, trat bei den weiteren Besprechungen nicht mehr in Tätigkeit.
Die beiden Staatssekretäre, die den Reichskanzler begleitet hatten, um den Kaiser von der Notwendigkeit der Neubildung der Regierung auf breitester parlamentarischer Grundlage sowie der Reform der Reichsverfassung im Sinne der demokratischen Forderungen zu überzeugen, wurden in ihrer Auffassung und Absicht durch die Eröffnungen der Obersten Heeresleitung nur bestärkt. Sie erklärten, daß ein Friedensangebot, wie es die Oberste Heeresleitung verlangte, nur von einer neuen Regierung, die vom Vertrauen des ganzen Volkes und seiner Vertretung, des Reichstages, getragen sei, gemacht werden könne; der verhängnisvolle Rückschlag, den dies von niemand in Deutschland erwartete plötzliche Ersuchen um Waffenstillstand und Frieden in der Stimmung des deutschen Volkes hervorrufen werde, könne nur ausgeglichen werden durch weitgehende demokratische Reformen, die »Revolution von unten« könne nur vermieden werden durch eine »Revolution von oben«.
Die Oberste Heeresleitung und der Kaiser schlossen sich dieser Auffassung an.
Graf Hertlings Rücktritt
Am Montag, 30. September, wurde ein an Graf Hertling gerichteter Erlaß des Kaisers bekanntgegeben, in dem der Kaiser den Rücktritt des Grafen Hertling genehmigte und dann fortfuhr:
»Ich wünsche, daß das deutsche Volle wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlands mitarbeite. Es ist daher mein Wille, daß Männer, die von dem Vertrauen des Volkes getragen sind, in weiterem Umfang teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung.«