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Die große Offensive

Während die Staatsmänner beider Parteien über Land und Meer hinweg von Krieg und Frieden redeten, rollten im Westen auf beiden Seiten der großen Grabenlinien Tag und Nacht die Eisenbahnzüge zur Front mit Hunderttausenden von Kriegern und mit ungezähltem Material, In gespannter Erwartung, wie kaum je seit Kriegsbeginn, harrten die Armeen und harrten die Völker des Erdenrundes des gewaltigen Sturmes. Tiefes Geheimnis lag über den Plänen derer, die berufen waren, die größte Schlacht aller Zeiten zu lenken. Zwar stand das deutsche Heer allein – nur hier und dort stand österreichische Artillerie zwischen seinen Reihen – fast der gesamten Macht der Franzosen, Engländer, Belgier mit ihren Hilfsvölkern und den sich allmählich in größerer Zahl einfindenden Amerikanern gegenüber. Aber niemand bei Freund und Feind, der nicht gefühlt hätte, daß dieses Mal der Deutsche auf dem weiten Kampfgelände Frankreichs nach dreieinhalb Jahren des Abwartens und der Verteidigung den ersten Schlag führen und das Gesetz des Handelns vorschreiben würde.

 

Der erste Offensivstoß

In der Nacht zum 21. März begannen zwischen Scarpe und Oise auf der 80 Kilometer langen Front gegenüber den Engländern die deutschen Geschütze zu donnern. Es war nicht die Einleitung zu einem tage- und wochenlangen Trommelfeuer, wie es unsere Gegner ihren Angriffen vorauszuschicken liebten; es war ein einziger ungeheuerer Feuerschlag, der acht Stunden lang die Erde schüttelte. Inzwischen war es Tag geworden. Aber in dichten Schwaden lag der Nebel noch über der bebenden Erde, als kurz vor zehn Uhr von Arras bis La Fére die deutschen Sturmkolonnen aus ihren Gräben aufstanden und gegen die zerfetzten feindlichen Linien losbrachen. Die ersten Stellungen wurden genommen und überrannt. Unsere Batterien folgten der vorwärtsstürmenden Infanterie. Zäher Kampf um die zweiten Stellungen. Auch hier wurden die Engländer geworfen. Die folgenden Tage ließen den Einbruch zum Durchbruch werden. Die in aller Eile herangeholten englischen und französischen Reserven wurden geschlagen. Im Fluge wurde das ein Jahr zuvor im Rückzug preisgegebene Schlachtgelände an der Somme zurückgewonnen. Péronne und Bapaume, Ham und Nesle, Roye und Noyon, Albert und Montdidier wurden mit stürmender Hand genommen. Bis 20 Kilometer vor Amiens wurde der Angriff vorgetragen. Gegen 100 000 Gefangene und mehr als 1300 Geschütze wurden erbeutet. Der Bann des Stellungskriegs schien nun auch im Westen gebrochen, die feindlichen Verbände schienen auf das schwerste erschüttert. Durch das deutsche Volk ging ein großes Aufatmen von langem und starkem Druck. Auch die Zweifler begannen zu glauben, nun könne es möglich werden, den langen und überlangen Krieg mit kurzen und wuchtigen Schlägen dem Ende zuzuführen.

 

Pause und zweiter Vorstoß

Nach einigen Tagen des Vorwärtsstürmens kam jedoch die Bewegung ins Stocken. Die Kräfte von Mann und Roß begannen nach der ungeheueren Anspannung zu ermüden, die Schwierigkeiten des Nachschubs von Material, Munition und Proviant wuchsen mit jeder Meile, die nach vorwärts gewonnen wurde. Die Eignung der modernen Waffen, namentlich des Maschinengewehrs, zur Verteidigung und zum Aufhalten eines nachdrängenden Feindes, bewährte sich aufs neue. So gelang es Engländern und Franzosen, sich in dem weiten Bogen Arras-Montdidier- La Fére zu setzen. Ein am 28. März von unseren Truppen gegen die starken englischen Stellungen bei Arras unternommener Vorstoß, der diesen wichtigen Stützpunkt dem Feinde entreißen und damit den nördlichen Flügel der feindlichen Stellung aus den Angeln heben sollte, schlug fehl und wurde alsbald abgebrochen.

Die Pause, die unsere Heeresleitung den Gegnern gönnte, war nicht von langer Dauer. Schon am 6. April wurde ein Angriff auf die feindlichen Stellungen südlich der Oise angesetzt, der uns in kurzer Zeit in den Besitz der Höhen zwischen Oise und Aisne mit dem festungsartig ausgebauten Schloß von Coucy brachte. Der Hauptschlag wurde jedoch dieses Mal im Norden an der Front gegenüber Lille geführt. Am 9. April warfen unsere Truppen nach kurzer Artillerievorbereitung in überraschendem Angriff die Engländer und Portugiesen aus ihren Stellungen zwischen Armentières und dem La-Bassée-Kanal und drängten ihnen über die von der Lys durchströmte wasserreiche Niederung nach. Bereits am 11. April mußte Armentières, von drei Seiten eingeschlossen, kapitulieren. Am 16. April wurden die Höhen des Wytschaetebogens und Paeschendaele gestürmt und die wichtige Stadt Bailleul genommen. In wenigen Tagen war die ganze Gegend um Ypern, die uns Engländer und Belgier in den fünfmonatigen Kämpfen der zweiten Hälfte des Jahres 1917 mit ungeheuren Opfern Schritt für Schritt abgerungen hatten, wieder in unseren Händen. Am 25. April stürmten preußische und bayrische Truppen die beherrschende Höhe des Kemmelberges und das Dorf Kemmel.

Aber auch hier kam jetzt in dem schwierigen Gelände die Bewegung ins Stocken. Es gelang den Feinden, den Bogen Ypern-Hazebrouck-Béthune zu halten. Die überschwenglichen Hoffnungen, die nach dem glänzenden Anfangserfolge auf einen Durchbruch bis zur Küste und ein Aufrollen der flandrischen Front gesetzt wurden, erfüllten sich nicht. Auch eine Flankierung der feindlichen Stellungen bei Arras, wie sie wohl im Plane unserer Obersten Heeresleitung gelegen haben mag, mit der Wirkung, daß dieser Frontteil ins Wanken gebracht und damit die Einheit der Aktion mit dem großen Vorstoß zwischen Scarpe und Oise hergestellt worden wäre, wurde nicht erreicht. Auch hier gelang es dem Feind, sich in rückwärtigen Stellungen festzusetzen und rechtzeitig ausreichende Reserven heranzuholen. Abermals zeigte sich, daß die Masse unserer Feinde noch stark genug war, um mit Hilfe der Verteidigungskraft der modernen Waffen auch eine schwere Zerreißung der Front auszugleichen und den beginnenden Bewegungskrieg wieder in die starren Formen des Stellungskriegs zu zwingen. Alles spitzte sich darauf zu, ob die moralische Widerstandskraft und die Reserven des Feindes einem neuen wuchtigen Schlag gewachsen seien, und ob die Offensivkraft des deutschen Heeres ausreichen werde, um in neuen Schlägen die Lockerung des Gefüges der feindlichen Front zur völligen Zerreißung, die Schwächung der feindlichen Verbände zur Zertrümmerung auszugestalten.

 

Stillstand. Hilfeleistung Amerikas

In dieser schweren Bedrängnis wandte sich der Appell der englischen und französischen Staatsmänner in erster Linie an die amerikanische Hilfe. Am 28. März gab der britische Botschafter in den Vereinigten Staaten, Lord Reading, ein Telegramm Lloyd Georges bekannt, in dem es hieß:

»Wir wurden in der Krisis des Krieges von einer überwältigenden Überzahl deutscher Truppen angegriffen und gezwungen, uns zurückzuziehen. Der Rückzug geht planmäßig vor sich unter dem ununterbrochenen Druck immer frischer deutscher Reserven, die gewaltige Verluste erleiden.« Der Sturmlauf der Deutschen sei augenblicklich zum Stillstand gebracht. Aber die Schlacht, die größte und wichtigste der Weltgeschichte, stehe erst in ihrem Anfang; denn England und Frankreich wüßten, daß die große Republik im Westen keinen Kraftaufwand sparen werde, um Truppen und Schiffe so rasch wie möglich nach Europa zu senden. »Zeit ist alles in diesem Krieg. Es ist unmöglich, die Bedeutung zu überschätzen, die das Heranführen amerikanischer Verstärkungen über den Atlantischen Ozean in der kürzestmöglichen Zeit hat.«

Anfang April konnte als Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Staatsmännern und Generalen der Westmächte und der Vereinigten Staaten mitgeteilt werden: Amerika werde nicht nur eine große Anzahl von Bataillonen während der nächsten Monate auf den europäischen Kriegsschauplatz werfen, sondern es sollten auch die amerikanischen Regimenter, die nicht zu eigenen Divisionen vereinigt werden könnten, als Brigaden in die französischen und englischen Formationen eingereiht werden. Dies solle geschehen vor allem mit denjenigen amerikanischen Truppen, die für ein selbständiges Auftreten noch nicht hinlänglich geschult seien.

 

Entschlossenheit Amerikas

Wilson erklärte sich zu jeder möglichen moralischen und materiellen Hilfe bereit. Schärfer denn jemals bisher betonte er die Entschlossenheit Amerikas, Deutschland niederzuwerfen. In einem Brief an den methodistischen Bischof Henderson, der in allen methodistischen Kirchen der Union verlesen wurde, sagte Wilson: »Die deutsche Macht, ohne Gewissen, Ehre und Verständnis für einen Verständigungsfrieden, muß zerschmettert werden. Unsere dringendste und brennendste Pflicht ist es, den Krieg zu gewinnen, und nichts wird uns erlahmen lassen, ehe dieses Ziel erreicht ist.« Und am 6. April hielt er in Baltimore bei der Jahresfeier des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Krieg jene Rede, die mit den Worten schloß:

»Deutschland hat noch einmal gesagt (wer, wo und wann?), daß die Macht allein entscheiden soll, ob das Recht, wie Amerika es auffaßt, die Geschicke der Menschheit bestimmen soll, oder die Oberherrschaft, wie Deutschland sie auffaßt. Wir können deshalb nur eine Antwort geben, und die ist: Gewalt, Gewalt bis zum Äußersten, Gewalt ohne Maß und Grenzen, triumphierende Gewalt, die die Gesetze der Welt wieder zur Geltung bringt und jede selbstsüchtige Oberherrschaft in den Staub schleudert.«

Aber England und Frankreich verließen sich nicht nur auf die amerikanische Hilfe, sie spannten auch ihre eigenen Kräfte bis zum Äußersten an.

Zunächst wurde unter dem Druck der höchsten Gefahr die seit langem angestrebte, schon oft angekündigte, aber niemals wirklich durchgeführte Einheit des Oberbefehls endlich verwirklicht. Die französische und britische Regierung kamen dahin überein, den General Foch zum Oberbefehlshaber ihrer Heere an der Westfront »für die Dauer der jetzigen Operationen«, wie es in der Bekanntgabe einschränkend hieß, zu ernennen. Die amerikanische Regierung trat für ihre Truppen diesem Beschlusse bei.

Ferner wurden sowohl in England wie in Frankreich energische Maßnahmen zur Schaffung neuer Reserven ergriffen. Die britische Regierung machte Ernst mit ihren Plänen, durch »Auskämmen« der Betriebe neue Reserven verfügbar zu machen. Sie benutzte die durch die Niederlage zwischen Scarpe und Oise plötzlich handgreiflich gewordene Gefahr, um die Arbeiterorganisationen für ihre Pläne zu gewinnen.

Die britische Regierung beantragte ferner die Erhöhung der Altersgrenze für die Dienstpflicht auf 50 und in besonderen Fällen auf 55 Jahre, sowie die Ausdehnung der Dienstpflicht auf Irland unter gleichzeitiger Gewährung von Home-Rule. In der Begründung dieses Antrags, die Lloyd George am 10. April im Unterhaus gab, führte er u. a. aus: Die Amerikaner hätten erwartet, im Frühjahr ein großes Heer in Europa einsetzen zu können; die Ausbildung habe aber mehr Zeit gekostet, als man angenommen habe. »Wir wurden von einem starken Bundesgenossen verlassen, und ein anderer noch stärkerer Bundesgenosse ist noch nicht bereit, alle seine Kräfte einzusetzen. Wenn wir künftige Kriege vermeiden wollen, müssen wir diesen Krieg gewinnen. Dazu müssen wir aber die notwendigen Opfer auf uns nehmen.«

 

Energische Kriegsmaßnahmen in England und Frankreich

Der Antrag auf Ausdehnung der Dienstpflicht auf Irland stieß auf starken Widerstand, nicht nur bei den Iren selbst, sondern auch bei den Liberalen. Asquith und seine Anhänger enthielten sich der Abstimmung. Trotzdem wurde das Gesetz im Unterhaus mit großer Majorität, im Oberhaus sogar einstimmig angenommen, Der Widerstand in Irland war jedoch über alle Erwartungen stark. Die irischen Bischöfe beschlossen, ihren Gemeinden das Gelöbnis abzunehmen, daß sie sich mit den stärksten Mitteln der Dienstpflicht widersetzen würden. Schließlich wurde Ende April die Ausführung des Dienstpflichtgesetzes für Irland durch ein königliches Dekret aufgeschoben. Man wollte ein Home-Rule-Gesetz vorlegen und zunächst dessen Wirkung abwarten; inzwischen wollte man durch Werbung Freiwilliger die Kräfte Irlands ausnutzen, was nur in engen Grenzen gelang.

Immerhin erwartete die englische Regierung von der Ausdehnung der Dienstpflicht einen Zugang von rund 500 000 Mann.

In Frankreich hatten die Erfolge der deutschen Offensive die Wirkung, daß die Deputiertenkammer am 29. März unter Zurückstellung aller Interpellationen und aller anderen Vorlagen das von der Regierung eingebrachte Gesetz über die sofortige Einstellung des Rekrutenjahrgangs 1919 annahm. Die Sozialisten erklärten, daß sie im Gegensatz zu ihrer früheren Haltung dieses Mal für die vorzeitige Einstellung der Rekruten stimmen würden, weil sie anerkennen müßten, daß diese Maßnahme für die Rettung des Vaterlands nötig sei. Das Gesetz wurde mit 490 gegen 7 Stimmen angenommen.

In diesem Maße schärfte der Rückschlag und die Gefahr unseren Feinden das nationale Gewissen und die Tatkraft.

Natürlich konnten auch die größten Kraftanstrengungen der Franzosen, Engländer und Amerikaner die Lage auf dem Kriegsschauplatz nicht sofort entscheidend beeinflussen. Sie brauchten Zeit für ihre Auswirkung. Zunächst waren jedenfalls die Heere unserer Feinde so stark mitgenommen, daß sie in der langen Pause, die nach dem Festlaufen unserer flandrischen Offensive eintrat, keinen ernstlichen Versuch machten, die Initiative wieder an sich zu reißen oder wenigstens durch stärkere Angriffsaktionen die deutsche Heeresleitung in der Vorbereitung eines neuen Offensivschlages ernstlich zu stören.

Auch die deutschen Heere waren durch die beiden großen Angriffe geschwächt. Die Verbände mußten aufgefüllt werden und sich erholen, Material und Munition mußten ergänzt werden. Jeder neue Schlag bedurfte zudem der sorgfältigsten Vorbereitung, um einen dem großen Aufwand und den unvermeidlich großen Opfern entsprechenden Erfolg nach Möglichkeit zu sichern.

So kam das Ende des Monats Mai heran, ohne daß seit der Erstürmung des Kemmelbergs eine der beiden Parteien eine größere Kampfhandlung unternommen hätte.

 

Der dritte Offensivstoß

Dann aber brach der Sturm von neuem los, dieses Mal mit einer Wucht, die selbst den furchtbaren Anprall der Märzoffensive übertraf.

In der Frühe des 27. Mai zerhämmerten die deutschen Geschütze mit gewaltigem Feuerschlag die französisch-englischen Stellungen zwischen Laon und Reims. Dem Feuerschlag folgte unmittelbar der Angriff unserer Infanterie. Der Feind wurde im ersten Ansturm überrannt. Der Ailettegrund wurde überschritten, der langgestreckte Rücken des Chemin des Dames, um den jahrelang gekämpft worden war, wurde in wenigen Stunden gestürmt, der Übergang über die Aisne erzwungen, die südlichen Höhen genommen und der Feind bis an den Veslebach zurückgeworfen. Das alles in einem einzigen Tag. Die folgenden Tage erweiterten den Erfolg. Schon am 29. Mai wurde Soissons genommen, ebenso die Forts der Nordwestfront von Reims. Am 30. Mai erreichten unsere Truppen südlich von Fère-en-Tardenois die Marne. Am 1. Juni wurde der auf dem Nordufer der Marne gelegene Teil von Chateau-Thierry vom Feinde gesäubert. Der Kampf dehnte sich nach Westen hin bis in die Gegend von Noyon aus. Auch hier wurde der sich tapfer wehrende Feind zurückgedrückt: am 2. Juni standen unsere Truppen am Ostrand des Waldes von Villers-Cotterets.

Ergänzt wurde der Erfolg durch einen am 9. und 10. Juni durchgeführten Angriff auf der west-östlich verlaufenden Front zwischen Montdidier und Noyon, der die wichtigen. Höhenstellungen zwischen Oise und Matz in unsere Hand brachte und uns bis auf 9 Kilometer an Compiégne heranführte.

Abermals war es gelungen, einen großen und während des Krieges geradezu festungsartig ausgebauten Teil des feindlichen Stellungssystems zu zertrümmern und zu durchbrechen, in wenigen Tagen eine klaffende Lücke in die feindliche Front zu schlagen und in raschem Vordringen großen Raumgewinn zu erzielen, dem Feinde schwere Verluste an Toten, Verwundeten und Gefangenen zuzufügen und ihm nahezu unübersehbare Mengen an Material, Munition und Vorräten aller Art abzunehmen. Von der 250 Kilometer langen Frontlinie zwischen Dünkirchen und Reims hatten jetzt die deutschen Offensiven seit dem 21. März etwa vier Fünftel zerschlagen. Nur noch die kurzen Linien zwischen Arras und dem Kanal von La Bassée und von der See bis nördlich Ypern waren intakt. Tausende von Quadratkilometern an Bodenfläche, teilweise vom Krieg bisher noch unberührtes Land von großer Fruchtbarkeit, waren dem Feinde entrissen, wichtige Straßen und Eisenbahnen waren durchbrochen oder lagen unter dem Feuer unserer Geschütze; bei Chateau-Thierry war unsere Stellung auf wenig mehr als 60 Kilometer an Paris herangerückt, das schon seit dem Beginn unserer Frühjahrsoffensive aus einem weittragenden Geschütz beschossen wurde. Allein an Gefangenen hatten unsere Feinde seit Beginn der Offensive mehr als 200 000 Mann eingebüßt; die von uns eroberten Geschütze erreichten die Zahl von 2800.

 

Deutsche Erfolge, Ruhiges Abwarten der Feinde

In Paris stieg die Erregung auf einen Siedepunkt, wie er seit den ersten September tagen des Jahres 1914 nicht mehr erreicht worden war. Zum erstenmal wieder hörten die Pariser das dumpfe Rollen des Schlachtendonners, zum erstenmal wieder brachten Tausende von Flüchtlingen aus den neuen Kriegsgebieten den Jammer des Krieges und die Nähe der Gefahr unmittelbar vor die Augen der Pariser Bevölkerung. Aber gegenüber dem Sturm tödlicher Besorgnis bewahrte die französische Regierung und, ihr folgend, die große Mehrheit des Parlaments und des Volkes auch in dieser schweren Lage ruhige Nerven und feste Entschlossenheit. Clemenceau selbst reiste sofort nach Eingang der ersten Hiobsbotschaften zur Front und entging mit knapper Mühe der Gefangennahme durch eine deutsche Kavalleriepatrouille. Von der Kammer, die ihn über die militärische Lage interpellieren wollte, verlangte er Mut und Vertrauen. Er könne keine Erklärungen über die militärische Lage abgeben. Der Augenblick sei furchtbar, aber der Heldenmut der französischen Soldaten stehe auf der Höhe der Lage. Die Regierung werde nicht die Feigheit begehen, Befehlshaber zu strafen, die sich für das Vaterland verdient gemacht hätten. Die französischen und englischen Kräfte erschöpften sich, aber das gleiche gelte auch von den Deutschen. Die amerikanische Hilfe sei jetzt der entscheidende Faktor, und die Amerikaner seien entschlossen, ihre ganze Kraft an den Sieg zu setzen. Clemenceau schloß mit den Worten:

»Wenn ich meine Pflicht nicht getan habe, dann jagen Sie mich fort. Wenn ich aber Ihr Vertrauen besitze, dann lassen Sie mich das Werk unserer Toten vollenden!«

Die Kammer bestätigte ihm ihr Vertrauen und beschloß mit 377 gegen 110 Stimmen, die Interpellation auf unbestimmte Zeit zu vertagen.

 

Die amerikanischen Truppen

An der Front selbst begann die amerikanische Hilfe sich fühlbar zu machen. Marschall Foch hat später einige interessante Zahlen über das Eintreffen der amerikanischen Truppen in Frankreich gegeben. Danach zählte die in Frankreich stehende amerikanische Armee Anfang März 1918 erst etwa 300 000 Mann, die größtenteils noch in der Ausbildung begriffen waren. Im März kamen 69 000 Mann, im April 94 000 Mann hinzu. Der eine Monat Mai brachte jedoch bereits einen Zugang von nicht weniger als 200 000 Mann, der Juni sogar einen solchen von 245 000 Mann. In den vier Monaten von Anfang März bis Ende Juni wurde also das in Frankreich stehende amerikanische Heer von 300 000 Mann auf rund 900 000 Mann verstärkt! Soweit die amerikanischen Truppen noch nicht unmittelbar an der Front verwendet werden konnten, machten sie hinter der Front bisher gebundene Kräfte der Franzosen und Engländer frei. Zum großen Teil aber konnten sie jetzt bereits in die Front eingesetzt werden, nicht nur eingesprengt in englische und französische Divisionen, sondern bereits als selbständige Formationen. Wenn ihre Ausbildung auch nicht auf der Hohe war, so zeichneten sie sich doch durch unverbrauchtes Draufgängertum aus und schlugen sich vorzüglich.

Der amerikanischen Hilfe hatte die Entente schon damals ihre Rettung zu verdanken. Sie allem machte es dem General Foch möglich, dem deutschen Vordringen nach den überraschenden Erfolgen der ersten Angriffstage in dem Bogen Noyon-Chateau-Thierry-Reims nicht nur zähen Widerstand entgegenzustellen, sondern auch zu energischen, wenn auch zunächst erfolglosen Gegenangriffen zu schreiten. Bei diesen Gegenangriffen trat an der neuen Front nordwestlich von Chateau-Thierry am 7. Juni zum erstenmal eine geschlossene amerikanische Division in Erscheinung.

Die Gegenangriffe des Feindes verstärkten sich nach unserem Vorstoß vom 9. Juni südlich von Noyon. Schon am 11. Juni führten hier die Franzosen mit starkem Aufgebot und großem Einsatz auch von Tanks und Schlachtfliegern einen wuchtigen Gegenschlag, der uns am 12. Juni stellenweise zurückdrängte und uns Gefangene und Geschütze abnahm, jedoch alsbald zum Stocken gebracht wurde.

Die Lage blieb also auch nach dem gewaltigen Schlag der dritten Offensive unentschieden. Das Ziel und der Zweck unseres Angriffs – Ziel und Zweck, die allem dieser größten militärischen Aktion aller Zeiten und den ungeheuren Opfern, die sie uns auferlegte, Sinn und Berechtigung geben konnten – waren auch mit der Erstürmung des Damenweges und unserem Vorstoß von der Ailette bis zur Marne nicht erreicht. Weder war die moralische Widerstandskraft unserer Gegner gebrochen, noch war es gelungen, ihre Reserven aufzuzehren, das langgestreckte Band der feindlichen Linien endgültig zu zerreißen und die feindlichen Heere zu Paaren zu treiben. Im Gegenteil, ein Vergleich des Auslaufens der neuen Offensive mit derjenigen vom März zeigte bei unseren Feinden eher eine verstärkte Kraft in Abwehr und Gegenstoß.

 

Mißglückte österreichische Offensive

Diese trotz der großen Einzelerfolge für uns schwierig gewordene Lage wurde nicht verbessert durch die Angriffsunternehmung, die von der österreichisch-ungarischen Armee am 15. Juni gegen die Italiener begonnen wurde. Zwar gelang es den Truppen unseres Bundesgenossen, den Piave zu überschreiten und sich in dem Höhenblock des Montello festzusetzen; aber die gleichzeitigen Angriffe an der Gebirgsfront beiderseits der Brenta und in den »Sieben Gemeinden« blieben in den Anfängen stecken und lösten Gegenangriffe der Italiener aus, deren sich die österreichischen Truppen nur mit Mühe erwehrten. Bald setzten auch an der Piavefront heftige Gegenangriffe ein. Am 23. Juni mußte der Wiener Heeresbericht melden, daß der durch gewaltige Wolkenbrüche zu einem reißenden Strom gewordene Piave den Verkehr zwischen den beiden Ufern auf das schwerste behindere und den Nachschub an Proviant und Munition zu den jenseits des Flusses im Kampfe stehenden Truppen nahezu unmöglich mache. Am folgenden Tage wurde die Räumung des Montello und der anderen auf dem rechten Piaveufer erkämpften Stellungen mitgeteilt. Die Italiener gingen ihrerseits zum Angriff an der ganzen Piave- und Gebirgsfront über und fügten den österreichisch-ungarischen Truppen große Verluste an Menschen und Material zu. Wenn auch der italienische Gegenstoß ohne nennenswerten Geländegewinn östlich des Piave und am Gebirgsrand zum Stehen kam, so war doch der moralische Eindruck der Niederlage bei unseren Bundesgenossen doppelt stark angesichts des Zusammentreffens der Unglücksnachricht mit einer sehr schweren Zuspitzung der Ernährungslage. Der Aufschwung an Mut und Vertrauen, den der große Erfolg der Isonzo-Offensive in der Donaumonarchie herbeigeführt hatte, war schon längst verblaßt; er brach jetzt, beim ersten Rückschlag, gänzlich in sich zusammen.

Die Gestaltung der militärischen Lage mußte ernstliche Zweifel daran erwecken, ob das Ziel unserer großen Angriffsaktion, die Niederkämpfung der feindlichen Armeen, mit den uns zur Verfügung stehenden Kräften überhaupt erreichbar sei. Unsere Truppen waren stark gelichtet und ermüdet. Vor allem war ein großer Teil unserer besten Offiziere und Unteroffiziere gefallen oder verwundet, ohne daß ausreichender und gleichwertiger Ersatz hätte beschafft werden können. Auch der Mannschaftsersatz machte immer größere Schwierigkeiten; außerdem waren die jetzt von Osten herübergeholten Truppen zum Teil bolschewistisch verseucht, und auch der Ersatz aus der Heimat ließ in seinem Geiste sehr zu wünschen übrig.

Unseren Feinden dagegen führte Amerika ständig neue, unverbrauchte und kampflustige Kräfte zu, deren Zahlen man zwar bei uns nicht kannte und wohl auch unterschätzte, deren Anwesenheit und Eingreifen auf den Schlachtfeldern sich aber für die militärischen Operationen bereits fühlbar machte. Jedenfalls mußten wir mit weiteren erheblichen Verstärkungen des Feindes durch amerikanischen Zuzug rechnen, nachdem sich gezeigt hatte, daß die U-Boote, entgegen den Voraussagungen der Marineautoritäten, nicht in der Lage waren, den gut gesicherten Truppen- und Materialtransporten nennenswerten Eintrag zu tun.

 

Rückgang der Wirkung des U-Bootkrieges

Auch abgesehen von dem Versagen in der Verhinderung amerikanischer Militärtransporte hatte der U-Bootkrieg enttäuscht. Die Monatsleistung an versenkter Tonnage hatte in den Monaten April und Juni 1917 mit mehr als 1 Million Bruttotonnen ihren Höhepunkt erreicht. Die Vervollkommnung der Abwehrmaßnahmen verringerte die monatliche Versenkung erheblich. Im Juni 1918 wurden nach den Angaben unseres Admiralstabs nur noch wenig mehr als 600 000 Bruttotonnen versenkt, im Juli 1918 nur noch 550 000 Tonnen, Nach den britischen Angaben waren die Versenkungen noch erheblich niedriger. Dagegen nahm die Fertigstellung von Schiffen auf den Werften unserer Gegner jetzt sehr beträchtlich zu. Während in den Jahren 1915 und 1916 in England nur 651 000 und 542 000 Bruttotonnen neu gebaut wurden, stiegen die Ablieferungen im Jahre 1917 auf 1 123 000 Tonnen und im ersten Halbjahr 1918 allein auf 763 000 Tonnen. Noch viel stärker war die Steigerung des Schiffsbaues in den Vereinigten Staaten. Das dort aufgestellte Schiffsbauprogramm sah nicht weniger als 2693 Einheiten mit einem Raumgehalt von insgesamt 16 305 000 Bruttotonnen vor. Davon wurden in den ersten acht Monaten des Jahres 1 918 277 Schiffe mit 1 637 000 Bruttotonnen abgeliefert, während der gesamte Schiffsbau der Vereinigten Staaten im Jahre 1913 erst 31 Schiffe mit 190 000 Bruttotonnen geliefert hatte. Im ganzen Jahr 1918 lieferten die Werften der Welt 1866 Schiffe mit einem Raumgehalt von 5 557 000 Bruttotonnen ab, also eine Flotte, die derjenigen Deutschlands vor Kriegsausbruch gleichkam. Von den Neubauten des Jahres 1918 kamen mehr als 3 Millionen Tonnen auf die amerikanischen Werften und 1  628 000 Tonnen auf die englischen Werften. Nachdem der U-Bootkrieg nicht innerhalb des ersten Jahres die von ihm erwartete Wirkung herbeigeführt hatte, war es unseren Gegnern gelungen, mit diesen gewaltigen Anstrengungen der Schiffsbautätigkeit ein beachtenswertes Gegengewicht zu schaffen. Die Behinderung und Schädigung, die Wirtschaft und Kriegführung unserer Feinde durch den U-Bootkrieg erlitten, fiel auch jetzt noch schwer ins Gewicht; abgesehen von der empfindlichen Einschränkung der Zufuhren an Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Kriegsmaterial jeder Art für England und seine europäischen Verbündeten, nahm die durch den U-Bootkrieg erzwungene Steigerung des Schiffsbaues gewaltige Mengen von Material und Hunderttausende von Arbeitskräften in Anspruch, die sonst der Herstellung von Kriegsgerät und der kämpfenden Front unmittelbar zugutegekommen wären und die Überlegenheit unserer Feinde noch weiter gesteigert hätten; ebenso band die Notwendigkeit der immer weiteren Ausdehnung der U-Boot-Abwehr ungezählte Fahrzeuge, Flugzeuge, Geschütze und sonstiges Gerät aller Art, nicht zum mindesten auch ein umfangreiches Personal, das der unmittelbaren Verwendung auf den Schlachtfeldern entzogen wurde. Niemand kann sagen, wie die Dinge gelaufen wären, wenn nicht der U-Bootkrieg seit dem Beginn des Jahres 1917 diese einschränkende und brachlegende Wirkung auf die Kräfte unserer Feinde ausgeübt hätte. Aber alle diese Erwägungen konnten die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß der U-Bootkrieg die von ihm erwartete kriegsentscheidende Wirkung nicht gebracht hatte und daß sich nach der Entwicklung der technischen Momente des U-Boot-Neubaues und der U-Boot-Verluste, des Neubaues von Handelsschiffen und der Versenkung von Handelsschiffen, von dem U-Bootkrieg eine kriegsentscheidende Wirkung kaum mehr erwarten ließ.

Die Entwicklung der militärischen Aktionen zu Lande und zu Wasser stellte also sowohl unsere Kriegführung wie auch unsere Politik gegen die Mitte des Jahres 1918 vor neue Erwägungen und Entscheidungen schwerster Art.


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