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Im November sollte der Reichstag zur Bewilligung eines neuen Kriegskredits abermals zusammentreten. Schon am 22. Oktober versammelte sich die interfraktionelle Kommission der Mehrheitsparteien, diesmal unter Hinzutritt der Nationalliberalen, um über die Kanzlerkrisis zu beraten. Am folgenden Tag besuchten die Vertreter der Mehrheitsparteien den Chef des Zivilkabinetts des Kaisers, Herrn von Valentini, um diesem ihre Auffassung über die Lage darzulegen. Der Rücktritt des Herrn Michaelis wurde dabei als etwas Unvermeidliches behandelt.
Die Herren ließen Herrn von Valentini ein Schriftstück zurück, das folgendermaßen lautete:
»Nach Rücksprache von Vertretern verschiedener Parteien des Reichstags mit dem Herrn Reichskanzler über die gesamte äußere und innere Lage sind wir gemeinschaftlich zu folgender Auffassung gelangt: Sollte Seine Majestät der Kaiser zu dem Entschlusse kommen, einen Kanzlerwechsel eintreten zu lassen, so dient es dem höchsten Staatsinteresse, für ruhige innerpolitische Entwicklung bis Kriegsende volle Gewahr zu schaffen. Nur hierdurch kann diejenige Geschlossenheit hergestellt werden, deren das Volk in Waffen und in der Heimat dringend bedarf.
Der Weg zu diesem Ziel ist eine vertrauensvolle Verständigung über die äußere und innere Politik des Reiches bis zum Kriegsende. Die innerpolitischen Schwierigkeiten der letzten Monate sind auf den Mangel einer solchen Verständigung zurückzuführen.
Seine Majestät den Kaiser bitten wir daher, vor der von ihm zu treffenden Entschließung die zur Leitung der Reichsgeschäfte in Aussicht genommene Persönlichkeit zu beauftragen, sich mit dem Reichstag zu besprechen.«
In diesem Schriftstück wie in den mündlichen Unterhaltungen der Parteiführer mit Herrn von Valentini wurde der Versuch gemacht, die Personenfrage, die in dem Sinn der Verabschiedung des Herrn Michaelis ohne weiteres als entschieden angenommen wurde, gleichzeitig zu einer verfassungsrechtlichen Frage zu machen: Die Parteien wünschten bei der bevorstehenden Ernennung des neuen Reichskanzlers vor der Kaiserlichen Entscheidung mitsprechen zu dürfen, und zwar in Form einer Verhandlung mit dem neuen Reichskanzler über eine »vertrauensvolle Verständigung über die äußere und innere Politik des Reiches bis zum Kriegsende«. Dieser Wunsch war in die Form einer Bitte an den Kaiser gekleidet und trug so dem verfassungsmäßigen Rechte des Kaisers zur Ernennung des Reichskanzlers Rechnung. Auch sachlich war gegen den Wunsch, daß der neue Reichskanzler vor seiner endgültigen Ernennung mit den Parteien des Reichstags Fühlung nehmen möchte, nichts einzuwenden. Jeder, der in voller Kenntnis der Verhältnisse sich vor den Entschluß gestellt sah, die Leitung der Reichsgeschäfte zu übernehmen, mußte ohnedies aus sich heraus das Bedürfnis fühlen, vor seiner eigenen Entschließung über die Annahme des Kanzlerpostens sich darüber zu vergewissern, ob er mit dem Reichstag werde Zusammenarbeiten können oder nicht. Immerhin wurde, wenn der Kaiser dem Wunsche der Führer der Mehrheitsparteien des Reichstags entsprechend die als neuen Reichskanzler in Aussicht genommene Persönlichkeit beauftragte, sich vor ihrer endgültigen Ernennung »mit dem Reichstag zu besprechen«, ein Vorganggeschaffen, der angesichts der großen Rolle, die Tradition und Übung im Verfassungsleben aller Völker spielen, künftighin als neues Recht in Anspruch genommen werden würde. Insofern war die Angelegenheit von nicht geringer Tragweite. Außerdem aber hatte der Kaiser sich erst noch zu entscheiden, ob er Herrn Michaelis, der noch kein Entlassungsgesuch eingereicht hatte und dazu auch keine Neigung zeigte, veranlassen wollte, um seinen Abschied zu bitten.
Das Mitbestimmungsrecht der Parteien
Und auch diese letztere Frage lag keineswegs einfach. Es. handelte sich nicht nur um die Eignung des Herrn Michaelis zur Führung der Reichsgeschäfte, sondern auch um die Frage, ob der Anlaß für die Verabschiedung des Herrn Michaelis ein geeigneter war. Ich vertrat gegenüber Herrn von Valentini, der mich am 24. Oktober besuchte, den Standpunkt, daß der Anlaß der denkbar ungeeignetste sei. Die »Krisis« war unmittelbar veranlaßt durch das Auftreten des Reichskanzlers gegen die in ihrer Gefährlichkeit gar nicht hoch genug einzuschätzende Agitation der Unabhängigen Sozialdemokraten in Heer und Flotte. Es war schon schlimm genug, daß die bürgerlichen Mehrheitsparteien, verstärkt durch die Nationalliberalen, zusammen mit den Mehrheitssozialisten in dieser Frage gegen den Reichskanzler Stellung genommen hatten; schon das war eine unverantwortliche Förderung dieser unsere nationale Existenz untergrabenden Wühlarbeit. Der Schaden mußte aber ins Unermeßliche gesteigert werden, wenn der Kaiser einen Kanzler in die Wüste schickte, weil dieser es gewagt hatte – wenn auch in nicht ganz geschickter Form –, gegen diese Wühlarbeit aufzutreten. Bei aller Loyalität, die ich dem Reichskanzler schuldete, konnte ich Herrn von Valentini nicht verhehlen, was ich auch gegenüber dem Kanzler selbst offen ausgesprochen hatte, daß auf die Dauer Herr Michaelis als Kanzler nicht zu halten sein werde; aber ebenso bestimmt sprach ich mich dahin aus, daß Herr Michaelis nicht vor den Triumphwagen der Unabhängigen Sozialdemokraten gespannt werden dürfe. Bei einiger Besonnenheit auf seiten der Reichstagsparteien hätte sich ein erträglicher Ausweg finden lassen müssen.
An der nötigen Besonnenheit aber fehlte es ganz und gar.
Schon zwei Tage nach dem ersten Schritt der Mehrheitsparteien bei Herrn von Valentini erschien dort der Zentrumsabgeordnete Trimborn als Beauftragter der Mehrheitsparteien von neuem, um das Erstaunen auszusprechen, daß trotz der bei Herrn von Valentini erhobenen Vorstellungen behauptet werde, Herr Michaelis solle bleiben, und um zu fragen, ob und wann die Mehrheitsparteien überhaupt eine Antwort zu erwarten hätten. Herr von Valentini zeigte sich seinerseits erstaunt über das Drängen; nachdem man zwei Tage zuvor ausdrücklich betont habe, man wolle dem Kaiser die Freiheit der Entschließung lassen, müsse man ihm auch die Zeit für eine Entschließung gewähren.
Die Mehrheitsparteien gegen ein Verbleiben des Kanzlers
An dem Nachmittag desselben 25. Oktober besuchte mich der Abgeordnete Conrad Haußmann im Auftrag seiner in der interfraktionellen Besprechung vereinigten Kollegen, um folgende Anfragen an mich zu richten:
1. ob es richtig sei, daß ich mich dem Abgang des Herrn Michaelis widersetze, oder daß ich ihn jedenfalls noch bis zum Dezember halten wolle;
2. ob es richtig sei, daß ich einen Plan entworfen habe oder wenigstens befördere, der bezwecke, die Mehrheitssozialdemokraten aus Anlaß des nächsten Kriegskredits in die Opposition zu drängen und dann eine neue Mehrheit mit scharfer Frontstellung nach links zu bilden.
Ich habe Herrn Haußmann, der diese Fragen sehr offiziell an mich richtete, zunächst privatim und persönlich – ich stand mit ihm persönlich stets auf einem guten Fuß – meine Meinung über den Takt und die Klugheit solcher Fragen gesagt und ihm dann offiziell erklärt:
1. daß ich es ablehnen müßte, als Stellvertreter des Reichskanzlers und Staatssekretär irgendwelche Erklärungen über meine Stellung zu dem Bleiben oder Gehen des Reichskanzlers abzugeben;
2. daß ich es stets als einen wesentlichen Erfolg der Politik des Herrn von Bethmann Hollweg angesehen hätte, daß es gelungen sei, die Massen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und ihre parlamentarische Vertretung in der vaterländischen Front zu halten; ich hoffte, daß dieses auch weiterhin möglich sein werde.
Herr Haußmann gab sich die erdenklichste Mühe, mir die Unhaltbarkeit der Stellung des Herrn Michaelis und die unbedingte Einigkeit der Mehrheitsparteien und der Nationalliberalen in diesem Punkte klarzumachen. Als Reichskanzler empfahl er – damals schon! – in erster Reihe den Prinzen Max von Baden, an zweiter Stelle den Staatssekretär von Kühlmann. Gegen den Fürsten Bülow, für den von den Herren Erzberger und Stresemann starke Propaganda gemacht werde, seien der größte Teil des Zentrums, seine eigenen Parteifreunde und mit der größten Entschiedenheit die Sozialdemokraten.
Herr Michaelis hielt unterdessen an der Hoffnung fest, daß es ihm gelingen werde, einen Umschwung in der Stimmung der Parteien herbeizuführen. Er rechnete dabei auf die Unterstützung sozialdemokratischer Gewerkschaftskreise, mit denen er glaubte in guter Fühlung zu stehen.
Für Freitag, 26. Oktober, vormittag, wurden der Vizepräsident des Staatsministeriums von Breitenbach und ich zum Kaiser nach Potsdam zum Vortrag befohlen. Ich war auch jetzt noch entschlossen, dem Kaiser zu raten, Herrn Michaelis aus dem vorliegenden Anlaß nicht zu verabschieden, sich vielmehr Zeitpunkt und Umstände nach den Erfordernissen der äußeren und inneren Politik auszusuchen.
Michaelis zum Rücktritt geneigt
Vor der Fahrt nach Potsdam besuchte ich den Reichskanzler, um diesen von der Tatsache, daß der Kaiser mich zum Vortrag befohlen habe, zu unterrichten. Ich fand Herrn Michaelis in seiner bisherigen Zuversichtlichkeit stark erschüttert. Dazu hatte beigetragen eine Zeitungsmeldung über eine Audienz des bayrischen Gesandten Grafen Lerchenfeld beim Kaiser, die in Wirklichkeit überhaupt nicht stattgefunden hatte. Herr Michaelis sagte mir, daß er kürzlich bei einer Unterredung mit dem Grafen Lerchenfeld den bestimmten Eindruck gehabt habe, daß auch dieser ihn für reif zum Abgang halte. Das war keine Täuschung; auch mir gegenüber hatte sich Graf Lerchenfeld sehr entschieden in diesem Sinne ausgesprochen. Herr Michaelis nahm an, daß Graf Lerchenfeld auch dem Kaiser in diesem Sinne vorgetragen haben werde. Vor allem aber war Herr Michaelis zu der Überzeugung von der Unhaltbarkeit seiner Stellung dadurch gekommen, daß seine Verhandlungen mit den Gewerkschaftlern sich zerschlagen hatten. Diese hatten ihm eine Liste von Forderungen präsentiert, die, wie Herr Michaelis mir sagte, außerordentlich weit gingen und auch, soweit sie an sich vielleicht annehmbar wären, nicht als Bedingung für das Verbleiben des Kanzlers aufgestellt werden dürften.
Aus dieser Lage zog Herr Michaelis die Folgerung, indem er mich beauftragte, dem Kaiser den Vorschlag zu unterbreiten, daß der bayrische Ministerpräsident Graf Hertling zum Reichskanzler ernannt werden solle, während er, Herr Michaelis, als preußischer Ministerpräsident, wenigstens bis zur Erledigung der Wahlreform, auf seinem Posten bliebe.
Ich hob gegenüber Herrn Michaelis die Bedenken der Trennung des Reichskanzleramtes und des preußischen Ministerpräsidiums hervor; aber ich konnte mich dem Argument nicht ganz verschließen, daß die Trennung als eine vorübergehende Ausnahmemaßregel, um den durch die Reichspolitik voll in Anspruch genommenen Kanzler von der Last der Durchbringung der preußischen Wahlreform zu befreien, schließlich hingenommen werden könne. Gegen den Grafen Hertling, der schon bei Bethmanns Abgang an erster Stelle in Betracht gezogen worden war, damals aber abgelehnt hatte, sprach sein hohes Alter. Für ihn sprach, daß er als Vorsitzender des Bundesratsausschusses für auswärtige Angelegenheiten in der auswärtigen Politik kein Neuling war; ferner daß er in den parlamentarischen Kreisen als alter und erfahrener Parlamentarier ein hohes Ansehen genoß und in dem Zentrum, der stärksten Partei des Reichstags, auf einen sicheren Rückhalt rechnen konnte, ein Umstand, der die dringend nötige Wiederkehr einigermaßen stabiler innerpolitischer Verhältnisse erhoffen ließ. Wenn Herr Michaelis als preußischer Ministerpräsident im Amte blieb, so war überdies der fatale Eindruck, als ob er den Unabhängigen Sozialdemokraten geopfert werde, wenigstens einigermaßen abgeschwächt.
Graf Hertlings Kandidatur
Der Kaiser erklärte sich nach einer Erörterung der inneren und äußeren Lage mit dieser Lösung einverstanden und beauftragte mich, Herrn Michaelis davon zu verständigen, während er Herrn von Valentini den Auftrag gab, durch den Grafen Lerchenfeld den Grafen Hertling alsbald nach Berlin bitten zu lassen.
Graf Hertling kam am Sonntag, 28. Oktober, in Berlin an und hatte zunächst eine eingehende Aussprache mit Herrn Michaelis. Für den Nachmittag war er zum Kaiser befohlen. Ich sprach ihn vor der Audienz beim Grafen Lerchenfeld. Er war geneigt, den Kanzlerposten anzunehmen. Wegen der Fühlungnahme mit den Parteien riet ich ihm, sich beim Kaiser Bedenkzeit für seine endgültige Entschließung auszubitten und dann den Parteiführern zu sagen: Der Kaiser beabsichtigt, mich zum Reichskanzler zu ernennen; ich bin geneigt, anzunehmen, lege aber Wert darauf, mich vor meiner endgültigen Antwort an den Kaiser mit Ihnen über die Linien der zu verfolgenden Politik auszusprechen.
Um dem Grafen Hertling keinen Zweifel daran zu lassen, daß ich nicht wünschte, ihm mit meiner Person irgendwie ein Hindernis zu sein, schrieb ich ihm den nachstehenden Brief, den er bei der Rückkehr von der Audienz beim Kaiser vorfand:
Berlin, den 28. Oktober 1917.
Euer Exzellenz bitte ich, in dem Augenblick, in dem Sie im Begriffe sind, sich über die Annahme des Reichskanzleramtes zu entscheiden, nachstehendes vortragen zu dürfen.
Angesichts der schweren Euer Exzellenz bevorstehenden Aufgabe halte ich es für meine Pflicht, soweit es an mir liegt, jedes Hindernis, das einer gedeihlichen Wirksamkeit Eurer Exzellenz im »Wege stehen könnte, beseitigen zu helfen. Meine Person in der Stellung als Stellvertreter des Reichskanzlers kann ein solches Hindernis sein. In den fast drei Jahren meiner Tätigkeit im Reichsdienst und namentlich in den siebzehn Monaten meiner Tätigkeit als Staatssekretär des Innern und allgemeiner Stellvertreter des Reichskanzlers habe ich mir in Parlament und Presse Gegnerschaften zugezogen, die' bei meinem Verbleiben im Amte für Euer Exzellenz eine ebenso unerwünschte wie vermeidbare Belastung bilden können. Euer Exzellenz brauchen außerdem in der Auswahl Ihrer Mitarbeiter und namentlich Ihres ersten Mitarbeiters volle Bewegungsfreiheit. Ich stelle deshalb mein Amt Euer Exzellenz zur Verfügung und erkläre mich bereit, Seiner Majestät dem Kaiser mein Entlassungsgesuch einzureichen, sobald Euer Exzellenz sich überzeugt haben sollten, daß mein Ausscheiden im Interesse der Sache liegt und Euer Exzellenz die Bewältigung der neuen großen Aufgabe erleichtert.
In der ausgezeichnetsten Hochachtung habe ich die Ehre zu sein
Euer Exzellenz ergebenster
Helfferich.
Rücktrittsanerbieten des Vizekanzlers
Graf Hertling antwortete mir noch am gleichen Abend mit folgendem Schreiben:
Berlin, 28. Oktober 1917.
Euer Exzellenz hochgeschätztes Schreiben vom Heutigen habe ich zu erhalten die Ehre gehabt und beeile mich, Euer Exzellenz meinen herzlichsten Dank dafür auszusprechen. Die von Euer Exzellenz zum Ausdruck gebrachte Absicht, mir für den Fall der Übernahme des Reichskanzlerpostens die meiner harrenden Aufgaben in jeder Weise zu erleichtern, weiß ich im vollsten Maße aufs dankbarste zu würdigen. Wenn Euer Exzellenz dabei sogar an ein Ausscheiden aus Ihrer jetzigen Stellung denken, um dadurch etwaige Schwierigkeiten zu beheben, so möchte ich nicht säumen. Euer Exzellenz zu versichern, wie außerordentlich Wert ich darauf legen würde, die hervorragende Arbeitskraft Eurer Exzellenz nicht missen zu müssen oder sie jedoch für alle Fälle mir im Interesse des Reiches in irgendeiner Form erhalten zu wissen. In dem jetzigen Zeitpunkt, in dem die zur Entscheidung stehenden Fragen auch für mich noch vollkommen ungeklärt sind, bitte ich Euer Exzellenz nur nochmals, meinen alleraufrichtigsten Dank für die mir bezeugte wahrhaft freundschaftliche Gesinnung entgegenzunehmen.
In der ausgezeichnetsten Hochachtung habe ich die Ehre zu sein
Euer Exzellenz ergebenster
Hertling.
Ich sah den Grafen Hertling auf seinen Wunsch noch einmal an demselben Abend und wiederholte ihm nicht nur meine Bereitwilligkeit, sondern sprach ihm jetzt meinen dringenden Wunsch aus, von jeder amtlichen Stellung befreit zu werden. Sein Antwortschreiben hatte mich in dieser Absicht nur bestärkt. Er seinerseits ersuchte mich angelegentlich, keinen vorzeitigen Entschluß zu fassen und meine Geschäfte so weiterzuführen, als ob eine Änderung nicht in Betracht käme.
Die Audienz beim Kaiser hatte den erwarteten Verlauf genommen. Insbesondere hatte Graf Hertling die Erlaubnis erhalten, sich vor seiner endgültigen Entscheidung mit den Parteiführern in Verbindung zu setzen.
Die Unterhaltung mit den Parteiführern stieß zunächst auf die Schwierigkeit, daß die Vertreter der Mehrheitsparteien, trotz der von ihnen heraufbeschworenen Kanzlerkrisis, zum Teil von Berlin abwesend waren; vor allem war für das Zentrum nur der Abgeordnete Erzberger anwesend, dessen Verhältnis zu dem Grafen Hertling kein ungetrübtes war und der bisher offen für die Kandidatur des Fürsten Bülow eingetreten war. Die Nachteile der Trennung des Kanzlerpostens und des preußischen Ministerpräsidiums wurden in den Vordergrund geschoben. Am Dienstag, 30. Oktober, erklärte deshalb Graf Hertling Herrn von Valentini und mir, daß er seine Mission als gescheitert ansehe und am Abend nach München zurückreisen wolle. Die Berliner Abendblätter erklärten die Kandidatur Hertling auf Grund seiner Besprechungen mit den Parteiführern für erledigt.
Graf Hertling Reichskanzler
Graf Hertling ließ sich jedoch dazu bestimmen, zunächst noch die für den nächsten Tag in Aussicht genommene Unterredung mit dem Zentrumsführer Trimborn abzuwarten; außerdem übernahm es der Staatssekretär von Kühlmann im Einverständnis mit den Herren Michaelis und Graf Hertling, auf die Führer der Mehrheitsparteien einzuwirken.
Herr Trimborn sagte dem Grafen Hertling die volle Unterstützung des Zentrums zu, sprach sich aber dabei mit Entschiedenheit gegen die Trennung des preußischen Ministerpräsidiums vom Amte des Reichskanzlers aus. Graf Hertling, der mir ursprünglich gesagt hatte, daß gerade die Entlastung von den Geschäften und Verantwortlichkeiten des preußischen Ministerpräsidiums ihm die Annahme des Reichskanzleramtes ermögliche, erklärte sich jetzt nach der Unterhaltung mit Herrn Trimborn bereit, Reichskanzler zu werden, wenn der Stein des Anstoßes beseitigt und ihm entsprechend den Wünschen der Mehrheitsparteien auch das preußische Ministerpräsidium übertragen werde. Sehr schweren Herzens entschloß sich der Kaiser, der angesichts der bevorstehenden Verfassungskämpfe in Preußen das Ministerpräsidium in preußische Hände zu legen wünschte, im Interesse einer glatten Erledigung der Kanzlerkrisis das Opfer seiner Überzeugung zu bringen und den Grafen Hertling auch als preußischen Ministerpräsidenten in Aussicht zu nehmen.
Die Position des Grafen Hertling war nun sehr stark. Er hatte das Zentrum hinter sich, ohne das die »Mehrheitsparteien« keine Mehrheit mehr waren; Herrn Erzberger, der die Kandidatur Hertling nicht offen bekämpfen konnte und der zu den eifrigsten Vertretern der Unmöglichkeit der »Trennung der Gewalten« gehörte, war mit der Entschließung des Kaisers und Königs, dem Grafen Hertling auch das preußische Ministerpräsidium zu ... übertragen, der Wind aus den Segeln genommen. Den anderen Mehrheitsparteien hatte Graf Hertling die Erfüllung ihrer sachlichen Forderungen zugesagt, vor allem die alsbaldige Einbringung der preußischen Wahlrechtsvorlage, die Milderung der Handhabung des Belagerungszustandes in bezug auf Zensur und Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, die Wiedereinbringung des vor einigen Jahren gescheiterten Arbeitskammergesetzes und die Aufhebung des den Gewerkschaften anstößigen § 153 der Gewerbeordnung; dazu in der äußeren Politik die Innehaltung der in der Antwortnote an den Papst festgesetzten Richtlinien.
Am 1. November wurden mir die Allerhöchsten Orders über die Verabschiedung des Herrn Michaelis und die Ernennung des Grafen Hertling zum Reichskanzler zur Gegenzeichnung vorgelegt. Am gleichen Tage wurde die Ernennung des Grafen Hertling zum Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums vollzogen.