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Die zweite Phase der Brester Friedensverhandlungen

In Erwartung der Ankunft Trotzkis und seiner Delegation wurden in Brest-Litowsk zunächst mit den Vertretern der ukrainischen Volksrepublik die Verhandlungen begonnen.

Bei der Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der russischen Delegation am 9. Januar erklärte Trotzki zunächst, angesichts der grundsätzlichen Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts jeder Nation bis zur völligen Lostrennung kein Hindernis für die Teilnahme der ukrainischen Delegation an den Friedensverhandlungen zu sehen. Die Frage, ob die ukrainische Delegation eine Unterabteilung der russischen Delegation darstelle oder ob sie in diplomatischer Beziehung als Vertretung eines selbständigen Staates zu behandeln sei, erklärte Herr Trotzki als erledigt, da die ukrainische Delegation als eine selbständige Vertretung erschienen sei, da diese Vertretung von der russischen Delegation anerkannt und von keiner Seite ein anderer Vorschlag gemacht worden sei.

 

Anerkennung der ukrainischen Delegation

Am 12. Januar erklärte Graf Czernin namens der Vierbundmächte: »Wir erkennen die ukrainische Delegation als selbständige Delegation und als bevollmächtigte Vertretung der selbständigen ukrainischen Volksrepublik an. Die formelle Anerkennung der ukrainischen Volksrepublik als selbständiger Staat durch die vier verbündeten Mächte bleibt dem Friedensvertrag vorbehalten.«

Herr Trotzki erklärte in der Sitzung vom 10. Januar ferner, daß Rußland die Friedensverhandlungen weiterführen werde, unabhängig davon, ob die Entente sich anschließe oder nicht. Er nahm Akt von einer Erklärung Kühlmanns, daß mit dem Nichtbeitritt der Entente die Erklärung des Grafen Czernin vom 25. Dezember 1917 hinfällig sei, und stellte dem das unbedingte Festhalten der russischen Delegation an den von ihr dargelegten Grundlagen eines »demokratischen Friedens« entgegen. Auf die Verlegung der Verhandlungen nach einem neutralen Platz verzichtete er, »um den Mächten des Vierbundes den Vorwand eines Abbruchs der Verhandlungen aus technischen Gründen zu entziehen«.

In den folgenden Tagen entwickelte sich in der für die politischen territorialen Fragen gebildeten Kommission, an deren Sitzungen die Vorsitzenden der einzelnen Delegationen persönlich teilnahmen, ein hartnäckiger Zweikampf Kühlmann-Trotzki um die Fragen der Räumung und des Selbstbestimmungsrechts der besetzten Gebiete.

 

Trotzki – von Kühlmann

Die Diskussion wurde von Herrn Trotzki in einer unverkennbar für die Außenwelt bestimmten aufreizend-agitatorischen Weise, dabei dialektisch sehr gewandt und in vollendeter Rabulistik geführt. Die innere Unaufrichtigkeit seines Eintretens für die reine und unverfälschte, vor jeder Beeinflussung und jedem Druck zu behütende, nur in freier und allgemeiner Volksabstimmung zu verwirklichende Selbstbestimmung der Nationalitäten der besetzten Gebiete wurde in das hellste Licht gesetzt durch das Verhalten des bolschewistischen Rußland gegenüber den dem Bolschewismus abgeneigten eigenen Landes- und Bevölkerungsteilen. Während Herr Trotzki in Brest-Litowsk den in freier Abstimmung sich bekundenden Volkswillen, als die höchste Norm im Völkerleben proklamierte, jagte seine Regierung in Petersburg die aus freien Volkswahlen hervorgegangene verfassunggebende Nationalversammlung mit bewaffneter Hand am Tage nach ihrem Zusammentritt auseinander (20. Januar 1918). Abgesehen von dem unerhörten Terror, den die bolschewistischen Machthaber im Sowjetrußland selbst ausübten, versuchten sie in denjenigen Gebieten, die – wie die russische Regierung selbst anerkennen mußte – auf Grund einwandfreier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts sich von dem bolschewistischen Rußland zu trennen wünschten, so in Finnland und der Ukraine, mit Feuer und Schwert, mit jedem Schrecken und jeder Gewalttat die Selbstbestimmung zu unterdrücken und gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung die bolschewistische Herrschaft aufrechtzuerhalten oder herzustellen. Am entsetzlichsten wüteten die Roten Garden und bolschewistischen Banden in den jenseits der deutschen Stellungen liegenden Teilen Livlands und Estlands. Ununterbrochen kamen von dort die herzergreifenden Hilferufe der auf das schwerste bedrückten und mißhandelten Einwohnerschaft, insbesondere des deutschstämmigen Teiles der Bevölkerung, auf dessen völlige Vernichtung und Ausrottung die bolschewistischen Machthaber Rußlands auszugehen schienen. Und inmitten der bedrohten und vergewaltigten Nationalitäten wagte es einer der Urheber aller dieser Schrecken, das Selbstbestimmungsrecht der Völkerschaften der von uns besetzten Gebiete Tag für Tag in stundenlangen Agitationsreden für seine weltrevolutionäre Propaganda auszuschlachten!

Während Herr von Kühlmann mit Zähigkeit und einer geradezu phlegmatischen Ausdauer Herrn Trotzki an der Klinge blieb, riß dem General Hoffmann die Geduld. In der Sitzung vom 12. Januar ergriff er, nachdem die russische Delegation in reichlich anmaßendem Ton abermals ihre Forderungen formuliert hatte, das Wort und führte aus: Die russische Delegation spreche, als ob sie siegreich in unserem Lande stehe und uns die Bedingungen diktieren könne; die Tatsachen lägen umgekehrt. Die russische Delegation fordere für die besetzten Gebiete die Anwendung eines Selbstbestimmungsrechts, wie sie es im eigenen, Lande nicht anwende. Die russische Regierung sei lediglich begründet auf Gewalt, die rücksichtslos jeden Andersdenkenden unterdrücke. Die deutsche Oberste Heeresleitung müsse eine Einmischung in die Angelegenheiten der besetzten Gebiete ablehnen. Für uns hätten deren Völker ihrem Wunsch der Lostrennung von Rußland bereits klar und unzweideutig Ausdruck gegeben.

 

Neue Vorschläge Deutschlands

Am nächsten Tag versuchte Herr von Kühlmann auf Grund einer Verständigung mit dem Grafen Czernin, der nichts mehr fürchtete als den Abbruch, die Verhandlungen wieder in ein ruhigeres Geleise zu bringen. Er lehnte zwar namens der deutschen und der österreichisch-ungarischen Delegation die russischen Vorschläge als unannehmbar ab, machte jedoch Gegenvorschläge, die dem russischen Standpunkt immerhin entgegenkamen. Vor allem stellte die neue Formulierung fest, daß Deutschland und Österreich-Ungarn nicht die Absicht hätten, sich die jetzt von ihnen besetzten Gebiete einzuverleiben oder sie zur Annahme einer bestimmten Staatsform zu zwingen; allerdings müßten sie für sich und die Völker jener Gebiete freie Hand für den Abschluß von Verträgen aller Art behalten. Die Zurückziehung der Truppen sei zwar, solange der Weltkrieg andauere, unmöglich; aber die Verminderung der Truppen auf eine für die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Weiterführung der technischen Betriebe nötige Zahl könne angestrebt werden. Außerdem wurde zugestanden, daß den gewählten Vertretern der Bevölkerung der besetzten Gebiete mit fortschreitender Annäherung an den allgemeinen Frieden in steigendem Umfang die Mitwirkung an den Verwaltungsaufgaben eingeräumt werden, sowie daß ein »Volksvotum auf breiter Grundlage« die Beschlüsse über die staatliche Zugehörigkeit der Bevölkerung der besetzten Gebiete sanktionieren solle. – Diese Vorschläge wurden als der »äußerste Rahmen für eine friedliche Verständigung« bezeichnet.

Die Verhandlungen waren mit diesen Vorschlägen auf einem toten Punkt angekommen. Graf Czernin hätte unsere Vertretung gern zu weitergehenden Zugeständnissen gedrängt, dies um so mehr, als es ihm, wie er selbst bekannt hat, »im allgemeinen und speziell auch wegen Polens durchaus erwünscht gewesen wäre, die Territorialfragen auf Grund des vollständigen Selbstbestimmungsrechts zu lösen«. Er wurde jedoch an der Ausübung eines stärkeren Druckes auf Deutschland durch den Ausbruch einer akuten Ernährungskrisis in Österreich verhindert, die ihn zwang, von Deutschland eine Ausfuhr an Lebensmitteln zur Errettung Wiens vor einer Hungerkatastrophe zu erbitten. »Unter diesen Verhältnissen,« so hat Graf Czernin ausgeführt, »konnte in diesem Zeitpunkt den deutschen Unterhändlern gegenüber der Gedanke nicht mehr ausgespielt werden, daß Österreich-Ungarn gegebenenfalls mit Rußland einen Separatfrieden schließen würde, wollte man nicht die deutsche Lebensmittelhilfe gefährden; dies um so weniger, als der Vertreter der deutschen Obersten Heeresleitung damals erklärte, es sei gleichgültig, ob Österreich-Ungarn Frieden mache oder nicht; Deutschland werde unter allen Umständen nach Petersburg marschieren, falls die russische Regierung nicht nachgebe.« Auf der anderen Seite will Graf Czernin damals Herrn Trotzki bewogen haben, die Ausführung der Absicht seiner Regierung, die russische Delegation wegen mangelnder Aufrichtigkeit auf deutscher und österreichisch-ungarischer Seite abzuberufen, in Schwebe zu lassen.


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