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Nach Süden hin verschmälert sich Südamerika wie eine schartige Säbelklinge. Im Westen erheben sich die Anden Chiles, und nach Osten hin erstrecken sich die Pampas von Argentinien und Patagonien. Über die endlosen Steppen reiten wir jetzt auf den wilden Rossen des Gedankens nach Süden.
Gleich dem Stachel an der Giftblase des Skorpions zeigt das Feuerland, die Südspitze Amerikas, in die Südsee hinaus. Vom Festland ist es durch eine Meeresstraße getrennt, die den Namen des unerschrockenen Magalhães trägt. In seinen Urwäldern, in denen immergrüne Buchen wachsen, herrschten ehemals kupferbraune Indianer, die dem Onastamme angehörten. Auch sie wurden, wie ihre Brüder in der ganzen neuen Welt, von den Weißen verdrängt und sind jetzt zum Aussterben verurteilt; nur eine geringe Anzahl ist noch vorhanden. Aber der Rest zeigt noch heute die charakteristischen Eigenschaften ihres Stammes: sie sind kräftig gebaut, kriegslustig und kühn, leben mit ihren Nachbarn in dem unsicheren Verhältnis der Blutrache, und ihre Lagerfeuer lodern bald im Walde, bald am Ufer eines Binnensees, bald an der Küste.
In der Magalhães-Straße haben viele Segelschiffe auf immer ihre Flagge streichen müssen. Sie ist ein überaus gefährliches Wasser und wegen ihrer heftigen Stürme, die plötzlich auf die steilen Klippen der Meerenge herabsausen, sehr verrufen. Sicherer ist es, auf der offenen See zu bleiben und südlich um die Inseln des Feuerlandes herumzufahren. Hier singen die Brandungswellen des Atlantischen und des Stillen Ozeans ihr gemeinsames Lied um die jäh abstürzenden Felsen des Kap Hoorn.
Wer lauscht ihrem Lied? Wer schaut mit königlicher Verachtung auf die Schaumkronen ihrer Wellen hinab? Wer schwebt mit ausgebreiteten Flügeln über Kap Hoorn hin? Wer anders als der Albatros, der größte aller Sturmvögel, der kühnste und unermüdlichste aller geflügelten Bewohner des Reiches der Lüfte!
Schaut ihn euch nur schnell an, denn in einer Sekunde ist er schon wieder entschwunden! Ihr seht, er ist so groß und so weiß wie ein Schwan, hat aber einen kurzen, dicken Hals und einen großen Kopf mit kräftigem, rosa und gelb gefärbtem Schnabel und nur auf den Schwungfedern schwarze Flecken. Seine Flügel gehören zu den Wunderwerken der Schöpfung. Wenn er sie zusammenfaltet, schmiegen sie sich so dicht um den Körper, daß sie ganz verschwinden. Jetzt aber hat er sie ausgebreitet, und der Abstand von einer Flügelspitze zur andern beträgt vier Meter. Die Flügel sind lang und schmal, dünn und zierlich geschwungen wie eine Säbelklinge, er bedient sich ihrer mit staunenerregender Sicherheit und ist ausdauernder und kräftiger im Fliegen als alle andern Vögel. Auch hat kein Vogel einen so schönen, vornehmen Flug wie er. Selbst im schärfsten Wind schlägt er nur alle sieben Minuten kaum merklich mit den Flügeln; die übrige Zeit sind sie straff gespannt, gleich den festgebundenen Segeln eines Schiffes.
Diese Kunst des Fliegens ist sein Geheimnis; sie besteht in der Art, wie er die Flügel ausgespannt hält, und in dem Neigungswinkel, den er diesen seinen vorzüglichen Monoplanen im Verhältnis zum Körper und zum Winde gibt. Alles andere, den Aufschwung in die Luft und die Weiterbewegung bei Mitwind oder Gegenwind, besorgt der Wind selbst. Will der Albatros von der Oberfläche des Meeres emporsteigen, so breitet er nur die Flügel aus, wendet sich gegen den Wind und läßt sich von ihm in die Höhe heben. Dann gleitet er in eleganten Bogen und Kurven die unsichtbaren Abhänge des Windes hinauf.
Das Merkwürdigste am Albatros ist seine grenzenlose Freiheitsliebe. Er haßt das Festland und nistet auf einsamen Inseln; auf dem Erdboden kann er sich kaum fortbewegen, und nur wenn er muß, geht er schwankend und ungeschickt gleich dem Schwan. Mit dem Staub dieser Erde kommt er deshalb nur dann in Berührung, wenn er im Nest auf seinem einzigen Ei liegt und seinen weißen Kopf unter die Flügel steckt. Sonst berührt er die Erde nicht. Seine Nahrung holt er sich auf dem Meeresspiegel, und mindestens drei Viertel seines Lebens bringt er schwebend in freier Luft zu, von Meer zu Meer umherirrend, wie ein Trabant nur der Erde, der in ungebundener Freiheit federleicht die schwere Weltkugel auf ihrem rollenden Gang durch das Universum begleitet. Er hält sich nicht an bestimmte ??? und keine noch so große Entfernung schreckt ihn: er ruht auf seinen Flügeln aus und läßt sich von ihnen bequem von Ozean zu Ozean tragen. Im Atlantischen Ozean ist er seltener als im Stillen Ozean, und der Wärme um den Äquator herum geht er aus dem Wege. Sonst segelt er überall hin, wo ihm die größte Aussicht winkt, seinen außerordentlich starken Appetit zu befriedigen.
Man erzählt von einem Albatros, der einem Schiff sechs Tage und sechs Nächte hindurch unermüdlich folgte, um stets bei der Hand zu sein, wenn Abfälle über Bord geworfen wurden. Die Mannschaft hatte ihn vorher gefangen und, um ihn wiedererkennen zu können, mit Farbzeichen versehen. Das Schiff befand sich auf offener See und legte zwölf Seemeilen in der Stunde zurück, aber der Albatros erlahmte nicht. Im Gegenteil, er zog noch in bedeutender Höhe meilenweite Kreise um das Schiff. An Bord löste eine Wache die andere ab, um sich auszuruhen und zu schlafen, der Albatros aber bedurfte keiner Ruhe und keines Schlafes. Er hatte niemand, dem er das Kommando über seine Flügel anvertrauen konnte, wenn er sich dem Schlaf hingab, und so wartete er eine ganze Woche, ohne Spuren der Ermüdung zu zeigen. Er flog unaufhaltsam und entschwand wohl manchmal den Blicken, aber nur, um sich nach einer Stunde, dem Schiff von vorn entgegenschwebend, wieder zu zeigen. Daß es immer derselbe Albatros war, sah man an der mit Farbe bestrichenen Brust. Erst am siebenten Tage verließ er das Schiff, als ihm die Kost nicht mehr behagte, die ihm vorgesetzt wurde. Viele Hundert Meilen hätte er jetzt fliegen müssen, um die nächste Küste zu erreichen, und wie leicht konnte ein heftiger Sturm ihn überfallen! Aber die Entfernungen bedeuten ihm nichts, und in der Luft ist er ebenso zu Hause wie unsereiner in den Straßen unserer Heimat.