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14

Laß die Läden zu, Enzi!« sagte Jo und drehte den Kopf zur Seite. »Ich möchte kein Licht haben, mir tun die Augen weh …«

Es war an sich schon eine Seltenheit, daß Jo später als ihre Mädchen aufstand, und daß man sie wecken mußte, weil sie gar so lang schlief. Aber daß sie der Sonne auswich, war noch nie vorgekommen. Emmerenz stand im Zimmer wie ein erschrockenes Huhn.

»Soll ich gnä' Frau das Frühstück ans Bett bringen?«

»Laß mich in Ruh mit dem Frühstück. Ich will nichts essen …«

»Darf Hüter herein?«

»Nein. Hüter soll draußen bleiben …«

Lauter erstaunliche Dinge. Emmerenz kam um zwei Schritte näher und reckte plötzlich den Hals.

»Mei' – wie schaut die gnä' Frau aus … Wo hat die gnä' Frau sich bloß so zerstechen lassen!«

»Wieso zerstechen –«

»Das muß ja rein eine Spinne gewesen sein, die der gnä' Frau übers Gesicht gelaufen ist …«

»Pfui Teufel!« sagte Jo. »Gib mir einen Spiegel!«

Sie richtete sich auf und betrachtete sich. So dämmergrün auch das Zimmer war, die dichten roten Flecken an ihrem Gesicht und ihren Armen waren deutlich zu sehen. Und fremd und entzündet blinzelten ihre Augen.

»Wie lieblich!« murmelte Jo. »Daß ihr euch nicht untersteht und irgendeinen Menschen zu mir herein laßt! Und wenn die zwei Kinder kommen, die Judica und der Peter – dann sag ihnen …«

»Was denn, gnä' Frau?«

»Sag ihnen, was du willst – aber laßt mich in Ruh!«

Den Spiegel fortschiebend, schloß sie die Augen wieder und wandte den Kopf ins Dunkle. Sie hörte das Mädchen zur Tür hinausschleichen. Sie hörte draußen das leise Winseln von Hüter, der zu ihr wollte, und dann ein Geräusch, als würde der Hund am Halsband unter gütlichem flüsternden Zureden weggeschleift. Dann lag sie in tiefer Ruhe. Und das tat gut.

Krank? Unsinn. Sie war nicht krank. Sie war nur müde. Sie wollte nur ruhig liegen und sich nicht rühren. Und nicht die Augen öffnen. Licht biß in die Augen. Sie hätte gern noch geschlafen. Aber wo war der Schlaf? Schlaf suchen … Wo wohnte der Schlaf? Hinter sieben Bergen … Ihr Herz war ein bißchen verrückt geworden, wie es schien. Lieber Gott, hatte ihr Herz es eilig … Wen wollte es einholen? Es konnte niemand einholen. Es war in ihrer Brust gefangen. Da lief es auf und ab. Es war lächerlich, so zu laufen. Kleine Uhren waren auch immer ein bißchen lächerlich mit ihrem Biereifer … Ticktickticktickticktickticktick …, so schnell konnte man gar nicht denken … Und die Minuten konnten sie auch nicht schneller aufhaspeln als die großen bedächtigen Uhren, die gemessen und würdevoll gingen wie alte Ratsherren. So ein alter Ratsherr hatte jetzt seine Amtsstube in ihrem Hirnkasten aufgeschlagen. Davon war ihr der Kopf so schwer, daß sie ihn nicht mehr zu heben vermochte …

Auf dem Tisch neben ihrem Bett stand ein Glas mit frischem Quellwasser. Das wußte sie ganz genau. Es mußte herrlich sein, dieses frische Wasser zu trinken. Aber wie zu ihm gelangen? Sie konnte sich doch nicht rühren … So viel Willenskraft brachte sie nie und nimmermehr auf, sich umzuwenden und die Hand auszustrecken, das Glas zu fassen und an den Mund zu heben … Wieviel wog ein Glas Wasser? … Wieviel wog ihre Hand? … So ein Unsinn … Sie selbst schien nicht schwerer als eine Flaumfeder zu sein, und ihre Hand allein hatte Zentnergewicht …

Jemand stiefelte laut durch ihr Zimmer und brummte dabei. Oder war das der alte Ratsherr in ihrem Kopfe? Das verbat sie sich … Lassen Sie das gefälligst, mein Herr … Jetzt faßte der Kerl auch noch nach ihrem Handgelenk …

Sie riß die Lider auf, so weit sie konnte, und kniff sie wieder zusammen. Oh, Licht tat weh … Seit wann war Licht so schmerzhaft? … Sie blinzelte träge. Ein bärtiges Brillengesicht war über ihr.

»Hm«, sagte das Brillengesicht. »Guten Tag, gnädige Frau … Wie geht es?«

»Wer sind Sie überhaupt?« fragte Jo. »Sind Sie nicht Dr. Eck?«

»Ganz recht – Dr. Eck …«

»Was wollen Sie denn bei mir?« Sie hörte ihre eigene Stimme ganz kindisch hoch und verquollen. Warum hielt dieser Mann ihre Hand fest? Sie sagte: »Ich bin doch nicht krank … Ich bin doch nur müde …«

»Hm … Darf ich mal einen kurzen Augenblick Licht machen, gnädige Frau?«

Vielleicht, wenn sie ja sagte, ging er um so schneller. Wer hatte ihn eigentlich hereingelassen? … Na warte, Emmerenz … Sie fühlte das schmerzhafte Licht ihre Lider durchdringen. War es noch nicht genug? – Und was dieser alte Mann für Fragen stellte …

»Sind Sie in letzter Zeit viel mit Kindern zusammen gekommen, gnädige Frau?«

»Zwischen sechzehn und neunzehn, Doktor – sind das noch Kinder?«

»Nicht unbedingt – nein … Ich meinte, kleinere Kinder.«

»Ich weiß nicht … Doch, ja … So ein kleines süßes Ding … Ist Ihnen mit sieben Jahren besser gedient, Doktor?«

»Wer war dieses Kind?«

»Die Burgei vom Wastlmüller. Die hab' ich heimgetragen …«

»Soso … Die Burgei … Na! – Wann war das, gnädige Frau?«

Einem müden Menschen so dämliche Fragen zu stellen …

»Das kann vielleicht – so zehn Tage her sein, Doktor …«

»Hm.« Er beugte sich über sie. Er war merkwürdig zart.

»Bitte das Thermometer recht festzuhalten …«

Gehorsam drückte sie den Arm über die Brust.

»Möchten Sie mir nicht verraten, lieber Herr Doktor, was dieser ganze Klimbim bedeuten soll?«

»Der bedeutet, meine verehrte gnädige Frau, daß Sie die Masern haben.«

Jo blinzelte ihn an.

»Was habe ich?!«

»Die Masern.«

Jo bekam einen Lachkrampf.

»O Gott, das sieht mir ähnlich!« sagte sie. »Tante Emma hat vollkommen recht: Ich bin unmöglich … Ist denn die Burgei wenigstens wieder munter?«

»So ziemlich, ja. Dafür liegen fünf von ihren Geschwistern.«

»Die armen Würmer … Und was machen wir nun mit mir?«

»Sehr einfach, gnädige Frau: Wir machen Sie wieder gesund.«

»Wird das lange dauern?«

»Bewahre …« Er nahm das Thermometer, ging damit näher zum Fenster und nickte befriedigt, das Quecksilber herunterschlagend. »In einigen Tagen ist alles in schönster Ordnung.«

Er setzte sich und schrieb auf ein Rezeptformular.

»Verordnen Sie mir Lakritzensaft mit Zucker?« fragte Jo schläfrig.

»Etwas Ähnliches, gnädige Frau.«

Das Rezept ging als Telegramm an Ebro Mannegold und hieß: Ihre Gattin an Masern erkrankt, Komplikationen infolge alten Herzfehlers nicht ausgeschlossen; empfehle Herkommen. Dr. Eck.

Aber fünf Stunden später jagte das zweite Telegramm hinterher: Zustand leider verschlimmert. Toxische Form. Schleunigstes Herkommen ratsam. Dr. Eck.

Beide Telegramme wurden von einem sorglichen Diener ungeöffnet und ordentlich auf den großen Schreibtisch in der Privatwohnung Ebro Mannegolds gelegt, und der Mann, den sie rufen sollten, war nach Altheide gefahren, um seine Mutter und ihr erschöpftes Herz persönlich in die Obhut des Arztes zu geben.

Er hatte den Morgenzug nicht mehr erreicht und kam abends in einem von schweren Gewittern durchfegten Berlin am Görlitzer Bahnhof an.

Das erste, was er sah, war das gespenstische Gesicht der Vierling, die ihm, zwei offene Depeschen in der Hand, auf dem Bahnsteig entgegengeisterte. Ihr Mund bewegte sich, aber es kam keine Silbe heraus. Ebro Mannegold riß ihr die Papiere aus der schlotternden Hand. Er las. Er begriff kein Wort. Er starrte auf die blauen, blödsinnigen Druckzeichen: Masern … wie albern …, eine Kinderkrankheit. Und toxische Form … toxische Form …, was zum Teufel hieß toxische Form … Konnte der Ignorant von Arzt sich nicht deutlicher ausdrücken? … Toxisch – hatte das etwas mit Gift zu tun? Aber wie kam Gift zu Masern, um Himmels willen … Zustand verschlimmert … Schleunigstes Herkommen …

Plötzlich brüllte er los wie ein Tier:

»Was wollen Sie denn –?!! Was zerren Sie so an mir herum –??«

Worte – Worte – galoppierende Worte – unverständliches Zeug … Vielleicht, wenn ein Wunder geschah – den Zug noch erreichen …

Was für einen Zug? … Und Wunder – seit wann gab es Wunder? …

»Lieber, lieber Herr Mannegold – um Gottes, um Gottes willen – nehmen Sie sich doch einen Augenblick zusammen! Hören Sie mir doch zu –! Der letzte Zug nach München, der Anschluß nach Berchtesgaden hat, geht in sechzehn Minuten –! Ich habe für alle Fälle die Karte hier, und wenn der liebe Gott ein Einsehen hat, dann erreichen Sie den Zug noch –! Aber Sie dürfen nicht eine Sekunde verlieren –! Sie dürfen nicht so hier stehenbleiben –! Es handelt sich vielleicht um den Bruchteil von einer Sekunde, Herr Mannegold –!«

Jetzt hatte er begriffen. Jetzt lief er. Jetzt rannte er. Ein Mann in blauer Jacke keuchte neben ihm her.

»Ihr Gepäck, Herr –! Was soll mit Ihrem Gepäck –?«

Die Vierling riß Geld aus der Tasche und schrie etwas …

Die Sperre. Ein Mann ihm im Wege.

»Ihre Fahrkarte, Herr –?«

Er rannte ihn über den Haufen. Er brach wie ein Tank durch geknäulte und aufbegehrende Menschen. Er kam über einen im Wege stehenden Karren fast zu Fall. Er lief auf die Straße hinaus. Es goß in Strömen. Sein Wagen stand, unter dem Motor zitternd, und der neue Fahrer grüßte, die Tür aufreißend.

Äh! – das fremde Gesicht in diesem Augenblick …

Wärst du nur damals zu ihr gefahren – nach jener Nacht! Du warst auf dem halben Wege und bist umgekehrt –! Vollrath, die Vierling, Josy – alle wollten, daß du zu ihr fahren solltest – und du selbst auch –! Und bist doch wieder umgekehrt – und jetzt ist sie krank … Komplikationen infolge alten Herzfehlers … toxische Form von Masern …

»Zum Anhalter Bahnhof –!« schrie die Vierling und stieß den Mann in den Wagen hinein, stolperte selbst ihm nach. Der Wagen schoß vorwärts. Aber die Straßen glitschten unter den Rädern weg, und der da am Steuer saß, war ein guter Fahrer, aber er war kein Vollrath – war weit entfernt von Vollrath.

Die Vierling plapperte unausgesetzt. Sie schien nicht schweigen zu können. Sie haspelte rasende, stammelnde Worte herunter, halb auf die Knie geschleudert, mit nassen Fingern an nassen Handschuhen zerrend. Hörte der Mann überhaupt?

»... erst als ich heut früh zufällig in Ihre Wohnung komme, gibt mir dieser Idiot die Telegramme, hat mich nicht angerufen, nichts! Bis ich Altheide bekam, waren Sie schon wieder weg – und was sollte ich jetzt tun? Unterwegs hätten Sie doch keine gute Verbindung gehabt, selbst wenn ich Sie zugtelegrafisch erreicht hätte … Ich habe bei Dr. Eck angerufen. Er wartet auf Sie wie ein Verzweifelter. Das Fieber steigt und stürzt und steigt und stürzt … und das Herz ist so matt, es kann das Fieber nicht meistern … Daß ich Ihnen das sagen muß, du lieber Gott … und wir kriegen den Zug nicht mehr … Er schafft es nicht … Nein, nein, er schafft es nicht … Es hat gar keinen Sinn, es noch zu versuchen!«

Ein Flugzeug …

Unmöglich, Herr Mannegold – unmöglich!

Jede Summe für die Gesellschaft. Jede Prämie für den Piloten.

Unmöglich, Herr Mannegold. Vollkommen unmöglich! Der beste und kühnste Pilot konnte nicht dafür garantieren, bei diesem Wetter, bei diesen Gewitterböen – Regen über Mitteldeutschland, Nebel im Gebirge –, bei Nacht zu fliegen und die Orientierung nicht zu verlieren und auf so schwierigem Platze sicher zu landen. Das mußte man einsehen, nicht wahr … Bedauern unendlich …

Ebro Mannegold starrte der Vierling ins Gesicht. Der Regen pladderte gegen die Telefonzelle. Bis morgen warten? Bis morgen war er verrückt. Nein. Nicht bis morgen warten. O nein … o nein …

»Vierling …«

»Herr Mannegold …«

»Wie ist die Adresse von Vollrath?«

Dem Tausendgüldenkraut stürzten die Tränen aus den Augen.

»Ach Gott, Herr Mannegold – hätte ich's nur gewagt! Ich habe die ganze Zeit dran denken müssen –!«

»Wie ist die Adresse von Vollrath, Fräulein Vierling?«

»Wollen Sie ihn nicht erst anrufen, damit er schon fertig ist, wenn Sie ihn abholen?«

»Sie glauben – er wird fahren?«

Sie sah ihn fassungslos an.

»Der Vollrath, Herr Mannegold? … Wenn Ihre Frau krank ist und Sie zu ihr wollen …? Da soll der Vollrath nicht fahren …? Wenn Ihre Frau krank ist …?«

Ebro Mannegold drehte sich plötzlich gegen die Glaswand der winzigen Zelle, die kaum Platz genug hatte für ihn und die schmächtige Vierling. Er drückte den Schädel gegen das kalte Glas, an das der Regen peitschte. Er hob seine Hände gegen den Mund, hinter dem ein pfeifendes Winseln saß. Er hörte die Vierling sprechen, beherrscht wie immer. Er hörte sie fragen:

»Vollrath? Am Apparat? – Einen Augenblick, hier kommt Herr Mannegold …«

Sie drückte ihm den Hörer in die Hand. Jetzt sollte er sprechen. Da drüben horchte ein Mensch. War der Mensch wirklich noch da, nachdem er begriffen hatte, wer mitten in der Nacht zu ihm reden wollte?

Ja, er war noch da. Er hörte den Menschen atmen.

»Vollrath …«

»Herr Mannegold?«

»Meine Frau ist sehr krank …«

Von drüben kein Laut. Nur Atmen. Ebro Mannegold sagte, als risse es ihm die Kehle auseinander:

»Der Arzt depeschiert, der Zustand hat sich verschlimmert. Wahrscheinlich ist Lebensgefahr. Ich habe den Zug nicht erreicht. Ein Flugzeug bekomme ich nicht … Wollen Sie mich fahren, Vollrath?«

»Jawohl, Herr Mannegold.«

»Sofort?«

»Jawohl.«

»Ich hole Sie ab.«

»Jawohl, Herr Mannegold.«

»Ich danke Ihnen, Vollrath …«

Keine Antwort mehr.

Vierzig Minuten später überraste der Wagen, ein zischender Meteor der Ungeduld, die Stelle, an der Ebro Mannegold seinen Fahrer Vollrath in einer Nacht, die beide Männer nie vergaßen, zur Umkehr gezwungen hatte.

Ebro saß neben Vollrath, mit ganzem Leibe zusammengekrümmt über der abgeblendeten Taschenlampe, den B.-Z.-Karten und dem Conti-Atlas. Er wußte sehr gut, Vollrath brauchte die Karten nicht. Er kannte die Strecke so genau wie den Motor seines Wagens. Aber er selber, er brauchte das langsam kriechende, aber doch unaufhaltsame Vorwärtskommen mit dem Bleistift auf dem gesteiften Papier, von Kreuzung zu Kreuzung, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Vor ihm zitterte die Nadel des Geschwindigkeitsmessers kaum schwankend zwischen hundertfünfundzwanzig und hundertdreißig. Ebro Mannegold rechnete, Kilometer um Kilometer. Er handelte mit Viertelstunden und Minuten. Wann konnten sie ankommen … Wann konnten sie endlich ankommen …?

Es regnete noch immer, strömend dicht. Sie fuhren noch immer in einem Tunnel von Wasser. Das leise rhythmische Jaulen des elektrischen Scheibenwischers riß an den Nerven. Aber der Regen fegte wenigstens die nächtlichen Straßen leer. Das Leben hockte verscheucht hinter triefenden Mauern. Nur aus den Schloten der Arbeit wehte es dunkelrot.

»Wann wollen Sie Rast machen, Vollrath?«

»Nur, wenn ich tanken muß. Oder –« er spuckte aus, »wenn ein Reifen platzt …«

Hinter den Männern im Wagen hockte die Vierling, einen Zipfel des Taschentuchs zwischen den klappernden Zähnen. Diese Fahrt war für sie eine Fahrt durch alle Vorhöfe der Hölle; aber sie wäre lieber gestorben als zurückgeblieben.

Aus dem Nest, wo Vollrath tankte, riefen sie durch Blitzgespräch Berchtesgaden an.

Dr. Eck, der Jo nicht mehr verließ, ging selbst an den Apparat.

Als er wieder das Zimmer betrat, in dem die Frau und das Fieber miteinander kämpften, fand er Jo, die er dämmernd verlassen hatte, hellwach und klar.

»Mit wem haben Sie eben gesprochen, Doktor?«

»Mit einem Patienten.«

Jo lächelte sonderbar.

»Sie praktizieren durch Ferngespräche? Wie fortschrittlich, Doktor … Oder ist Ihr Patient vielleicht taub, weil Sie so geschrien haben?«

»Liebe gnädige Frau …«

Sie sah ihn mit den schönen, vom Fieber getrübten Augen an und schüttelte ernst den Kopf.

»Ein so guter Arzt und ein so schlechter Schwindler! … Sie haben es also doch für nötig gehalten, meinen Mann zu verständigen …«

»Nein, aber ich dachte, es würde Sie freuen, ihn hier zu haben …«

»Und er kommt?«

»Er ist schon unterwegs.«

»Wo ist er jetzt?«

»Weit hinter Gera.«

»Er kommt mit dem Wagen?«

»Ja.«

Sie seufzte und legte den müden Kopf auf die Seite.

»Bei dem Schweinewetter …«, murmelte sie. »Armer Vollrath …« Und nach einer Weile fügte sie leise murrend hinzu: »Die toxischen Masern, oder wie das Zeug heißt, hab' ich kriegen müssen, bevor er sich aufgerafft hat, zu mir zu kommen, der Bock …«

Sie flüsterte noch, aber es war nicht mehr zu verstehen. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, als horche sie auf den Regen oder auf etwas, das noch viel ferner als der Regen war. Mit einem Lächeln verdämmerte ihr Bewußtsein. Und sie erwachte erst wieder, als draußen in der Diele die Schritte des Mannes aufklangen, dem sie gehörte.

Ebro Mannegold schleuderte Hut und Mantel weg. Die Mädchen liefen verstört auf ihn zu – er stellte nicht einmal eine Frage. Er sah nichts als nur eine Tür – die Tür zu Jo, die vor ihm offenstand. Und eine Stimme war da. Eine Stimme aus grünem Dämmer. Die rief nach ihm …

Ein Mann – das war wohl der Arzt? – sagte, fast nur hauchend:

»Ich bitte um äußerste Vorsicht, Herr Mannegold …«

Aber Jo hatte es doch gehört. Ihre kleine verschlafene Stimme sagte vom Bett her:

»Laß dir nichts weismachen, Ebro – der Doktor hat keine Ahnung!«

Und dann sah er sie wieder, sah ihr Lächeln wieder –

Er hatte sich vorgenommen, Haltung zu bewahren. Er wollte stehenbleiben. Er wollte mit seiner ruhigsten Stimme sagen: ›Guten Tag, meine liebe Jo – wie geht es dir?‹ Aber da stieß es ihn einfach um, und er lag auf den Knien, beide Arme über das Bett geworfen, stöhnend, stöhnend, nur den Namen stöhnend …

»Komm mir lieber nicht allzu nahe«, sagte die Frau. »Der Doktor meint zwar, ich sei nicht mehr ansteckend, aber du weißt ja, was von den Ärzten zu halten ist. Und am Ende bekommst du mir auch noch die Masern …«

»Ach, Jo – wenn ich sie doch von dir bekäme!« sagte der Mann mit einer solchen Sehnsucht, daß die Frau, unter Tränen lächelnd, den Kopf von ihm abwandte.

»Ebro, das ist das süßeste Liebeswort, das du je zu mir gesagt hast!« meinte sie. »Aber nun kommt jedes liebe Wort zu spät für uns beide … Wie schade, Ebro … wie schade … Nein, du brauchst den armen Dr. Eck nicht mit so wilden Augen anzusehen. Er hat getan, was menschenmöglich war. Aber ich habe nun mal den Ehrgeiz, an Masern zu sterben. Unmöglich – wie? Wenn irgendein Kind im Dorf mit Ziegenpeter behaftet wäre, hätte ich mir als Todesursache wahrscheinlich Ziegenpeter ausgesucht …«

»Du stirbst nicht, Jo –!«

»Doch!« sagte sie fast streng. Und dann stieg das Fieber wieder und jagte ihr Herz, daß sie keuchte, und der Mann stand dabei, sah ihr zu und biß sich die Knöchel blutig.

Der Arzt, über sie gebeugt, kontrollierte ununterbrochen den Puls. Sie sah ihn nicht, sah durch ihn hindurch. Ihre blassen, trocknen Lippen flüsterten … flüsterten …

»Können Sie verstehen, was sie flüstert?« fragte Dr. Eck lautlos.

Ebro Mannegold, auf der anderen Seite des Bettes in sich zusammengekrümmt, gab keine Antwort. O ja, o ja, er verstand ihr Flüstern sehr gut! Er verstand jedes Wort, und jedes Wort war für ihn ein Messer, das in einer Wunde herumgedreht wurde. Es war ein dummes, kleines, lächerliches Gedicht, das er einmal für sie gemacht hatte – das einzige Gedicht seines grausam nüchternen Lebens, entstanden in einer Nacht auf dem See, in dem Boot, das sie ›Du und Ich‹ genannt hatte. Jetzt flüsterte der arme Fiebermund es unablässig vor sich hin:

Um den See, den wir am meisten lieben,
stehen sieben
Berge her, die schweigend Wache halten,
Schild bei Schild, versteinte Gottgestalten.
Über uns, in grenzenlosen Weiten
seh ich freundlich Stern um Stern entbrennen,
und wir gleiten,
uns und unserm Boot vertrauend,
aufwärts schauend
zu des Lichts gebenedeiten
Ewigkeiten,
über Tiefen fort, die wir nicht kennen.

Über Tiefen fort, die wir nicht kennen … über Tiefen fort, die wir nicht kennen … In welche Tiefe, großer Gott im Himmel, entglitt sie ihm jetzt, wenn sie starb –? Wo fand er sie wieder? In welche Tiefe hinein mußte er sich und sein Leben werfen, um irgend etwas von ihr zu behalten oder zurückzugewinnen –?

›Du und Ich‹ … Ihr Gesicht, das sich über den Rand des Bootes beugte und seinem Spiegelbild zulächelte …

›Du und Ich‹ … Ihre Hand, die das Wasser streichelte, ihm kleine, zärtliche Liebkosungen mitgab auf den Weg zu seiner Hand, die ins Wasser tauchte …

Alles Nichtigkeiten. Alles Köstlichkeiten. Alles unwiederbringlich, unwiederbringlich verloren …

Waren alle Menschen denn wahnsinnig, daß sie sich einbildeten, Herren auch nur der nächsten Minute zu sein, daß sie es wagten, von morgen und übermorgen zu sprechen und von dem Größenwahnsinn, Zeit zu haben, Zeit, etwas nachzuholen, – etwas gutzumachen, Zeit zum Besserwerden, Zeit nur zu einem Wort und einem Kuß –?

Ein Kind hat Masern. Eine Frau steckt sich an. Die Frau hat einen Herzfehler; die Ärzte nennen es eine ›Überdehnung des Vorhofes‹ … was verstand er davon … Aber plötzlich gab es für ihn keine Zeit mehr. Kein Tag gehörte mehr ihm, von der ganzen großen, unausdenkbaren Ewigkeit nicht ein einziger Tag. Und morgen vielleicht schon keine Stunde mehr – und keine Minute – aus …

Nein, das war nicht möglich – das war nicht möglich!

»Doktor – – ist sie zu retten? Sie muß zu retten sein!«

Ein Achselzucken. Und eine vergrämte Stimme:

»Wenn Sie beten können, dann beten Sie … Vielleicht hilft's …«

Am anderen Morgen kam Josy, den die Vierling benachrichtigt hatte. Ganz plötzlich stand er wie ein Halbirrer in einem Kreis von Halbirren. Er fragte nichts, sagte nichts. Jo schien zu schlafen. Aber in der vollkommenen Lautlosigkeit, deren Mittelpunkt Josy war, mußte ihr sterbendes Herz noch einmal, zum letztenmal, das feine summende Rufzeichen vernommen haben, das ihr sagte: Da schreit ein Mensch nach dir … Sie schlug die Augen auf und sah Josy an. Sie grübelte über sein entstelltes Gesicht, das nicht einmal mehr die Kraft zur Lüge des Lächelns hatte. Aber sie lächelte, als sie ihn erkannte.

»Nun, Josy?« fragte sie mit großer Anstrengung. »Hat sich Tilly gefreut?«

Er starrte sie an, vollkommen verständnislos. Die Möglichkeit, daß ein Mensch sich auf dieser Erde noch über etwas freuen sollte, schien ihm unfaßbar zu sein.

»Über die schwarze Madonna!« erinnerte Jo.

»Ja«, sagte er heiser. »Du hast ganz recht gehabt: sie hat vor Freude geweint.«

Jos Lächeln vertiefte sich. Ihre Augen wanderten weiter. Sie fanden Ebro, den Kopf in den Händen vergraben. Sie fanden den Fischerhansl, die Mädchen und Vollrath, ein Klumpen Verzweiflung, gegen die Tür gedrückt. Jo horchte und flüsterte:

»Laßt doch den Hund herein …«

Sie sah in der andern Tür, die zur Diele führte, den Menschen stehen, den sie vor ein paar Wochen aus strömendem Regen in ihr Haus gerufen hatte. Aber das war schon kein Mensch mehr. Das war nur noch ein Schatten. Jos Augen sahen ihn lange durchdringend an. Dann sagte die Frau – und alle hörten die Worte, doch nur einer verstand sie:

»Ja. Ja. Es ist gut. Es ist gut.«

In dem Gesicht des Schattens keimte ein Lächeln.

Jos Augen wanderten weiter. Sie fanden den Arzt und die Vierling. Sie fanden zuletzt, was sie am innigsten suchten: Peter und Judica, einander umschlungen haltend, die vom Weinen ganz verschwollenen Gesichter Wange an Wange geschmiegt.

»Komm zu mir, Judica!« sagte Jo. Sie sah das Mädchen lange, lange an, hob mühsam die Hand, strich über ihr schönes Haar und über die Schultern, die im verbissenen Schluchzen zitterten. »Kleine Judica!« flüsterte sie. »Kleine Minnelore …« Sie zog den Kopf des Mädchens nahe an ihre Lippen. »Du wirst Ebro sagen, kleine Minnelore, nicht jetzt, nicht gleich, denn noch verstünde er's nicht … aber du wirst es ihm eines Tages sagen, daß ich ihm diesen Jungen als mein Vermächtnis hinterlassen habe. Versprichst du mir das?«

»Ja, Jo … geliebte Jo …«

Nach einer kleinen Weile sagte die Frau mit klarer Stimme, ohne die Augen zu öffnen:

»Ich möchte in meinem Garten begraben werden, unmittelbar in meiner geliebten Erde! Den Sarg könnt ihr euch schenken, hörst du, Ebro?«

»Ja«, antwortete eine Stimme, die nicht mehr aus einer menschlichen Kehle zu kommen schien.

Der Arzt stand über Jo gebeugt. Er hielt ihr Handgelenk umspannt. Keiner im Raum holte Atem. Jo regte sich nicht.

Aber plötzlich schlug sie die Augen auf, sehr groß und überklar. Ihr ganzes Gesicht war plötzlich überklar und aus sich selber leuchtend, hell und heiter. Sie sah die Menschen um sich her der Reihe nach an – und brach in ein strahlendes Gelächter aus.

»Wenn ihr eine Ahnung hättet, wie ihr ausseht –!« rief sie, ganz außer sich vor Vergnügen. »Wie eine Versammlung von wohnungslosen Gespenstern!«

Es war die Stimme Josys, die aufbrüllend in das Gelächter hineinschlug.

»Du bist bei Gott unmöglich, Jo –!! Jo, lache nicht –!! Uns ist nicht nach Lachen zumute –! Nimm etwas mehr Rücksicht auf uns –!!«

»Das ist ja das Unglück –!« sagte die lachende Jo. »Ihr habt eben keinen Humor –!«

»Jo – bitte nicht! Bitte nicht –!!«

Ebro Mannegold fiel neben seiner heiteren Frau auf die Knie. Sein Kopf schlug gegen die Bettkante. Seine Hände tasteten sich vorwärts, streckten sich aus nach der Frau …

Da war alles auf einmal ganz still. Ganz still. Kein Lachen mehr. Kein Wort. Kein Atemzug. Nur, in der beklemmenden Stille, jäh und jammervoll, das Aufheulen Hüters.

Ebro hob den Kopf.

»Seien Sie tapfer, Herr Mannegold«, sagte der Arzt, Dr. Eck.

Tapfer. So. Tapfer. Natürlich, tapfer. Was dachte der Arzt von ihm? Daß er in Ohnmacht fallen würde? Oder zu schreien anfangen, ganz tierisch losgelassen zu schreien anfangen – Gott, müßte das eine Erlösung sein –! Aber er würde nicht schreien. Er wollte nur … ja, was denn eigentlich?

Seine dunkelgeröteten Augen irrten durch das Zimmer, ohne auf einem Menschen haftenzubleiben.

»Ich möchte mit meiner Frau allein sein«, sagte er.

Und als er allein war, setzte er sich auf den Rand des Bettes, in dem sie schön und schlafend lag, faltete die Hände auf ihren verschlungenen Händen und sagte, das tiefste Geheimnis seines Lebens, das er der lebenden Frau nie ganz preisgegeben hatte, nun endlich der toten schenkend:

»Ich liebe dich, Jo … Ich liebe dich, meine Jo … Ich habe nie etwas lieb gehabt außer dir … Ich weiß, ich habe es nie zur rechten Zeit gesagt … Aber nimm es auch jetzt noch an, du All und Eines … Meine liebe Frau … Meine geliebte Frau … Ich liebe dich, Jo … Ich liebe dich, meine Jo …«

Dann stand er auf und öffnete weit die Fenster, damit der Tag zu Jo hereinkommen konnte.

Das Echo eines Schusses lief an den Hängen entlang, rollte tief in den Felsen und war verklungen.

Das war das einzige Mal, daß der stille Mann, der Andreas Hünemann hieß, einen Lärm verursacht hatte.

Der Fischerhansl fand das leere Boot, das mitten auf dem See trieb. Das Boot hieß ›Du und Ich‹ und hatte Jo gehört. Da gab man das Suchen auf. Der See war tief. Und auch er gab keinen Toten jemals wieder.

An diesem Tage begriff Peter Hünemann, was die Worte bedeutet hatten: Ja. Ja. Es ist gut. Es ist gut.

Ja, es war gut …

Die fröhliche Jo war begraben worden, wie sie es sich gewünscht hatte: in ihrem Garten, in ihrer geliebten Erde, zu der die schönen Berge herüberschauten.

Bei diesem Begräbnis hatte Peter Hünemann gefehlt.

Doch eines Morgens, sehr früh, als Ebro Mannegold zu der letzten Kammer Jos gegangen kam, fand er Peter neben dem Hügel im Grase, schon reisefertig, einen Zettel in der Hand.

Sie grüßten sich stumm. Noch war zwischen Mann und Knaben die Brücke nicht gefunden. Aber es gab eine Brücke. Eines Tages würden sie sich freiwillig darauf begegnen; das wußten sie.

»Was haben Sie da geschrieben, Peter?« fragte Ebro.

»Nichts Besonderes … eine Art Grabschrift für Jo …«

»... Darf ich sie lesen?«

Der Junge zuckte die Achseln. Er stand auf und legte den Zettel auf das Grab der Frau, es herb dem Manne überlassend, ob er ihn nehmen würde oder nicht. Ebro Mannegold nahm ihn. Und las:

 

Hier schläft
JO MANNEGOLD
bis an den Jüngsten Tag.

Sie starb
33 Jahre alt,
3333 Jahre jung.
Gott schenke uns
die Ruhe ihrer Seele!

 

»Amen!« sagte Ebro Mannegold heiser.

Der Junge gab keine Antwort. Die Fäuste in den Taschen, ging er langsam und ohne sich umzuschauen davon, und als er zehn Schritte weit weg war, begann er zu pfeifen.

»Auf Wiedersehen, Peter!« rief Ebro Mannegold ihm nach.

*

Gedruckt im Ullsteinhaus
Berlin

 


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