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8

Jo las im Gehen Tillys Brief, den ihr der Postbote unterwegs ausgehändigt hatte. Sie las ihn langsam, kostete seine Worte durch, wollte auf den Grundgeschmack kommen. Es war der gleiche wie in allen Briefen Tillys seit ihrer und Josys Abreise.

Bittersüß. Bittersüß.

»Ich bin krank vor Heimweh nach Dir und dem Haus, den Bergen, den Bäumen, den Tagen, den Nächten. Ach Jo, ich bitte Dich, ich bitte Dich aus tiefster, lauterster Selbstsucht: Verteidige Dein Haus, das geliebte, frevlerische Haus, das Du ›Glück‹ genannt hast, verteidige das Haus und Dich! Man wird Euch nicht in Ruhe lassen, und Josy und ich brauchen die Gewißheit, daß Du und das Haus unerschütterlich auf dem alten Fleck stehen, damit wir zu Euch kommen können, wenn wir die Sehnsucht nach Euch nicht mehr ertragen können. Es geht etwas vor in der Familie. Ich weiß nicht, was. Man vermeidet es ostentativ, mich ins Vertrauen zu ziehen. Begreiflich, nach dem Erfolg meiner diplomatischen Sendung. Jo, was hast Du aus mir gemacht? Eine fremde Frau sieht mich aus dem Spiegel an. Ich glaube, ich bin voller Werden. Es ist Juli, aber ich fühle in mir April, den späten April, wenn die Walpurgisnacht schon in den Windstößen spukt. Ich habe mir das Heuhaar kurz geschnitten. Was nachwächst, pflege ich, wie ein Chemiker seine kostbarsten Bazillenkulturen pflegt. Muß auch sein, weil Josy vielleicht bald wiederkommt. Ja, Josy ist weg. Komisch, fünf Millionen Menschen laufen in dieser Stadt herum. Und wenn einer weg ist, sind alle andern von den fünf Millionen auch nicht mehr vorhanden. Die Stadt ist leer, leer. Er ruft mich jede Nacht an. Manchmal ist Musik da, wo er spricht. Ich glaube, er will, daß ich sie höre. Es macht nichts. Beinahe nichts. Verzeih die Flecken, ich bin ein bißchen blödsinnig. Einmal hat er mich umsonst angerufen, weil ich bei der Mutter war, die noch immer recht leidend ist. Aber das wußte niemand. Um vier Uhr morgens toste er mich aus dem Schlaf und machte einen Höllenkrach. Es war herrlich, Jo. Es war ein großes Erlebnis. Ich stand geduckt und still am Telefon und hörte zu, wie er tobte. Ich mußte an Deine Ulmen im Gewitter denken, wie sie unter den Blitzen im Platzregen zitterten und leuchteten. Er schrie: ›Du hast zu Hause zu sein, bis ich mit Dir gesprochen habe, zum Teufel noch einmal! Ich will wissen, wo ich dich suchen kann mit meinen Gedanken!‹ Ja, Josy! Gut, Josy! Wie du willst, Josy! Ich bin mir bewußt, zu lächeln wie eine Idiotin. Aber wie eine glückliche! Im übrigen spricht er wenig. Er sagt: ›Mädel …‹ Er sagt: ›Du …‹ Kein Grund zum Weinen, nicht wahr? Aber ich weine, weil ich rettungslos verloren bin in meine ans Licht gehobene Liebe, und küsse (entschuldige die Flecken, ich heule schon wieder), scheußlich unhygienisch, das Telefon. Manchmal klingt seine Stimme lustig. Manchmal sehr müde. In jedem Falle liebe ich sie bis zur Verblödung. Am Schluß sagt er: ›Gute Nacht, kleine Eidechse! Schlaf gut!‹ Ich weiß, Jo, Du machst Dir nichts daraus, aber Gott segne Dich! Auch dafür, daß die Familie jetzt mit mir böse ist. Ich habe plötzlich für die wunderbarsten Dinge Zeit. Ebro habe ich seit unserer Abrechnung nach meiner Rückkehr nicht wiedergesehen. Er arbeitet wie ein vom Teufel Besessener. Was ich Dich fragen wollte: Hatte er eigentlich schon graue Haare an den Schläfen, als Du weggingst? Jedenfalls, jetzt hat er sie. Und sie stehen ihm ausgezeichnet.«

Als Jo, an dieser Stelle angekommen, unwillkürlich die Augen von dem Brief erhob, um vor sich hin zu schauen, sah sie mitten in ihrem Wege, nicht mehr als fünf Schritte entfernt, die Jungfer ihrer Schwiegermutter stehen, schwarz, schmal und mißbilligend wie immer, ehrerbietig grüßend wie immer.

Jos Füße schlugen Wurzel in der Betonstraße.

»Hallo –!« sagte sie halblaut. Sie steckte Tillys Brief in die Jackentasche. Das Gefühl, das ihr schönes Gesicht mit langsamer Röte überzog, war ein Vetter von Ärger und ein Bruder von Zorn. Sie fragte, sattsam Atem holend, obwohl sie die Antwort kannte: »Warten Sie hier auf mich, Melitte?«

»Jawohl, gnädige Frau.«

»So.« Ein Blick nach oben. »Meine Schwiegermutter ist also auch hier?«

»Die alte Frau Mannegold erwartet die gnädige Frau im Hotel.«

»Im Hotel«, wiederholte Jo, den Ortsbegriff festnagelnd. Sie nahm die Kriegserklärung ruhig zur Kenntnis, doch ihre Augenbrauen wölbten sich in einem plötzlichen blonden Hochmut.

»Die alte Frau Mannegold hat es so angeordnet«, sagte Melitte. Es klang wie ein Achselzucken. Doch sie fügte, vor den kühl und kriegerisch gespannten Bogen über Jos Augen sich plötzlich verwirrend, hinzu: »Wir haben bei der gnädigen Frau angerufen, und man sagte uns, die gnädige Frau sei ins Dorf gegangen und müsse jeden Augenblick zurückkommen …«

»Da bin ich also«, sagte Jo, das eckige Mädchen ansehend. »Sie können umkehren, Melitte, und mich der alten Frau Mannegold melden.«

Tillys Brief knisterte in der Jackentasche unter den Fingern ihrer linken Hand, als sie das Zimmer betrat, in das man sie führte. Sie blieb an der Tür stehen, weil ihre Augen zunächst nichts unterscheiden konnten. Die Fenster standen weit offen, aber die dreifachen Vorhänge waren zugezogen, so daß schwimmende und beklemmende Trübe den Raum erstickte. Dann kam eine wohlvertraute Stimme sanft auf sie zu.

»Danke, Jo, daß du mich nicht hast warten lassen. Und entschuldige, wenn ich dir nicht entgegengehe. Ich hatte eben nur noch so viel Willenskraft, um bis in dies Zimmer und auf dieses Sofa zu kommen.«

Jo ging der Stimme nach. Sie hielt sich wunderbar aufrecht und senkte den Kopf auch nicht, als sie vor der ausgestreckten Gestalt auf dem Sofa stand. Ihre Augen waren zwei große Lichter im braun erhobenen Gesicht, als sie ruhig fragte: »Findest du das fair play, Mutter?«

»Nein. Nicht ganz. Meine Schwester Berta, die immer auf Seiten der Opposition steht, sagte: ›Man schmeißt nicht mit Müttern nach davongelaufenen Schwiegertöchtern.‹ Trotzdem: Setze dich, Jo. Ich bin hier, weil ich nicht anders kann, genau so, wie du hier bist, weil du nicht anders konntest. Vielleicht war es gut und richtig, daß ich zu dir gefahren bin, und vielleicht war es das Kopfloseste, was ich zeit meines Lebens getan habe. Und ob das, was du getan hast, gut und richtig oder ein wenig kopflos war, darüber wollen wir sprechen, Jo – dazu bin ich hergekommen. – Aber willst du dich nicht setzen?«

»Nein, Mutter. – Mutter, warum bist du gegen dich und mich nicht ehrlich? Weiß Ebro, daß du zu mir gefahren bist?«

»Nein, Jo.«

»Du hast es also ganz auf dich genommen. Du kennst mich und hast mich immer geliebt und mußtest darum wissen: wenn ich von Ebro weglief, so hatte es Gründe in letzten Menschentiefen, und falsch oder richtig, kopflos oder verständig spielte in diesem Spiel keine Rolle mehr. Aber es geht dir auch nicht um Grund und Erkenntnis, Mutter. Du willst mich einfach zur Rückkehr bewegen. Du willst es, weil du einfach Mutter bist, eine Mutter, die es nicht erträgt, daß ihrem Sohn ein Schaden zugefügt wird – und als einen beschämenden Schaden siehst du es an und er selber, die Familie und Gott und die Welt, daß ihm nach fünfzehnjähriger Ehe die Frau davonläuft. Ist es so, Mutter, oder ist es anders?«

Ihre Augen hatten die Trübheit im Zimmer überwunden und konnten das Antlitz der Mutter Ebros erkennen. Es war wie ein Antlitz aus blassestem Elfenbein.

»Würdest du so freundlich sein und Melitte aus dem Nebenzimmer rufen?« fragte die Mutter Ebros, mit ihrer Stimme umgehend wie mit einem kostbaren, aber rettungslos gesprungenen Glas.

Jo öffnete die Tür. Das eckige Mädchen trat ein.

»Geben Sie mir meine Tropfen, Melitte, und legen Sie mir zwei Tabletten neben ein Glas Wasser auf den Tisch«, sagte die alte Frau.

Schweigend kam das Mädchen den Anordnungen nach. Jos Nasenflügel bewegten sich witternd. Dieses Mädchen schien eine Aura von medizinischem Kräutergeist um sich zu haben. Ihre Bewegungen waren vollkommen lautlos, und ihre Lider blieben stets gesenkt. In der Verkniffenheit ihrer blassen Mundwinkel war ein Ausdruck letzter Abneigung gesammelt.

»Danke, Melitte. Ich werde Sie in den nächsten zwei Stunden nicht benötigen. Wenn Sie einen längeren Spaziergang machen wollen, steht dem nichts im Wege.«

Jo sah dem Mädchen nach, das die Tür hinter sich zuzog. Sie blickte auf die alte Frau. Sie ging zu ihr hin und nahm ihr das Glas aus ganz durchsichtigen Fingern. Sie wollte sprechen, aber vor der Bitterkeit ihrer eigenen Worte erschrak ihr eigener Mund und hielt sie in Haft.

»Ich weiß, was du denkst, Jo«, sagte die alte Frau. »Du denkst: So will sie mich fangen, die Mutter Ebros! Sie zeigt mir, wie krank und wie zerbrechlich sie ist, und wird mich mit ihren Tränen einweichen und schluchzen: Bringst du es übers Herz, Jo, mich alte, kränkliche Frau, der nur die Liebe zu ihrem einzigen Jungen die Kraft gegeben hat, vom Bett aufzustehen (und wieviel trägst du an ihrer Krankheit schuld?) – mit leeren Händen, unverrichtetersache, beschämt und kläglich wieder heimzuschicken? Bringst du es übers Herz, dir auszumalen, wie sie vor ihrem Sohne stehen wird, ein kleiner, armer, trauriger Mutterschatten, kopfschüttelnd, ratlos: ›Sie wollte nicht kommen, Ebro! Ich habe sie aus tiefster Seele gebeten! Ich habe alles versucht, sie umzustimmen! Ich habe zu ihr gesagt: Ich bin sehr krank, Jo. Ich lebe nicht mehr lange. Halte bei Ebro aus, bis ich nicht mehr bin! Dann tu, was du mußt! Dann kann ich es nicht mehr hindern! … Aber sie wollte nicht kommen. Sie hat Nein gesagt!‹ … Das denkst du, Jo, nicht wahr? Nein, sprich nicht – warte …«

Das kleine Elfenbeinantlitz hob sich aus den Kissen und schien den zarten Körper, der Ebro geboren hatte, durch magisch gebietende Kraft mit sich emporzuheben, bis er auf Füßen stand. Dieser zarte Körper streckte eine Hand, weiß wie das Blatt einer Magnolienblüte, aus und legte sie auf Jos Arm.

»Laß dir sagen, Jo, daß du recht hast mit dem, was du denkst. Ja, ich zeige dir voller Absicht mein Kranksein und meine Gebrechlichkeit. Ja, ich spiele ein unfaires Spiel, das Spiel der spekulativen Bettelei. Ja, ich weiß, denn ich kenne dich und habe dich immer geliebt: die Gründe, die dich von Ebro weggetrieben haben, müssen Gründe aus letzten Menschentiefen sein, wie du sagst, und dennoch kümmere ich mich um diese Gründe nicht, denn ich bin Ebros Mutter und will nicht und kann's nicht ertragen, daß ihm Schaden und Spott widerfährt – all das ist wahr, und all das hast du erraten. Aber was du nicht weißt, Jo – was du nicht weißt, mein Kind …«

Sie stand still und schwieg und hatte ein weinendes Lächeln. Jo nahm die Mutter Ebros in ihre Arme.

»Nein, sorge dich nicht, nein, habe nur keine Angst!« sagte die alte Frau. Ihre feinen Blütenblatthände legten sich ein paar Herzschläge lang um Jos Wangen. Ihre alten, ausgebleichten Augen sahen in Jos Augen.

»Kinder«, sagte sie. »Ach, ihr Kinder!«

Sie ließ sie los und ging in das Zimmer hinein, hierhin und dorthin, immer von Jo gewandt. Sie war sehr klein von Gestalt und erinnerte durch die erschöpfte, gleichsam hinsinkende Art ihrer Haltung an eine Traueresche, die im Herbst in einem verlassenen Garten um den Sommer klagt oder sich über einen frischen Hügel beugt, den sie liebkosen möchte.

»Was ist das, was ich nicht weiß, Mutter?« fragte Jo und setzte sich, die Hände auf den Knien faltend.

»Was eine Mutter ist, Jo«, antwortete die alte Frau.

Jo schwieg.

Die Mutter Ebros sprach in den Schatten hinein.

»Laß mir nur Zeit, Jo … Ich fühle, daß ein Gewitter kommt … Melitte wird naß werden … Ich habe viel wach gelegen in den vergangenen Wochen. Wenn man Schmerzen hat und etwas Geduld, dann lernt man sehen in den langen Nächten. Es ist, als rieben die Schmerzen in uns die Fenster klar, durch die wir die Welt um uns betrachten sollten … Ich wollte dir soviel sagen … Ja … Du kennst Berta, meine Schwester Berta, du hast sie immer Tante General genannt. Sie hat ihre eigenen Theorien über Mütter. Sie ist Ärztin, wie du weißt … Eine wunderbare Ärztin … Und nur den Müttern gewidmet … Aber ich fürchte, sie ist in ihrem Wirkungskreis eine Art von angebetetem Schrecken. Ja, ja, ich glaube, die Verehrung, die ihr die armen Weiber entgegenbringen – und sie steckt von früh bis Mitternacht in einem Strudel solcher armen Weiber –, die ist wohl etwas Ähnliches wie Teufelsanbetung. Entsinnst du dich an Tante Berta, Kind?«

»Ja, Mutter. Sehr genau.«

»Nun, sie sagt … sie steht übrigens auf deiner Seite, Jo, das mußt du wissen … Sie sagt: ›Sieh sie dir an!‹ (Das war, als sie mich das letztemal durch ihre Mutterheime schleifte!) ›Ich bitte dich, sieh dir diese Idiotinnen an, wie sie in Rührung über ihre Mißgeburten zerschmelzen. Du brauchst nur fünf Minuten lang das Gespräch dreier Mütter über ihre Söhne mit anzuhören, und du begreifst, daß schließlich auch Kain, Marat und Haarmann Mütter hatten.‹ Sie sagt: ›Im Augenblick, wenn eine Frau Mutter wird – und für die mütterliche Frau ist das nicht der Augenblick der Empfängnis oder der Geburt ihres Kindes, sondern der, in dem sie den Mann zu lieben beginnt – in diesem Augenblick‹, sagt Berta, ›muß im Gehirn der Frau eine Ganglie platzen.‹ Ja, ungefähr so drückte sie sich aus. Sie sagt: ›Ich muß und muß herausbekommen, in welcher Gehirnwindung sich dieser heilige Wahnsinn entwickelt, der die gescheitesten Frauen zu Närrinnen werden läßt, dem wir's verdanken, daß es auf Erden nur zweierlei Kinder gibt: die unerhört begabten, bezaubernden, anbetungswürdigen – das sind die eigenen – und die schlecht erzogenen, vorlauten, unausstehlichen, das sind die fremden‹.«

Die Mutter Ebros wandte sich um und lächelte mit ihrem mattweißen Elfenbeingesicht.

»Kann sein, daß sie recht hat, die Tante General mit den wundertätigen Händen, die außer sich sind, wenn es ihnen gelingt, einer schreienden Mutter ihr halbblödes Kind zu retten … Ich weiß, ich bin eine solche Mutter, Jo … Nein, natürlich, ich habe keine Mißgeburten in die Welt gesetzt, ich hoffe es wenigstens, aber die Sache ist: wenn es der Fall wäre, Jo, es würde für mich nichts ändern. Ich würde es wohl nicht sehen, Jo. Die Ganglie, verstehst du? Der heilige Mutterwahnsinn. Ich weiß nicht, was ich für Kinder habe. Ich weiß nur, daß ich ihre Mutter bin. Und jetzt weiß ich vor allem, daß ich Ebros Mutter bin …«

Ihre Stimme glitt fort und versank. Jo sprang auf die Füße. Aber es war, als wollte die Mutter Ebros den Weg, den sie sich vorgezeichnet hatte, bis an den letzten Stein allein gehen, gleich einer Wallfahrt, die sonst nicht gültig gewesen wäre. Mit kleinen, hastigen Schritten der Willenskraft näherte sie sich dem Tisch, auf dem das Glas Wasser stand, verschluckte die Tabletten und trank, eilig, gehorsam gegen den fernen Arzt und demütig in ihrer großen Entschlossenheit.

»Mutterchen …«

»Warte, Kind, warte … ich bin gleich soweit. Ich will mich nur setzen … Hast du ›Mutterchen‹ zu mir gesagt? Du schöne Jo, du schöne, schöne Frau … ja, ich will um dich kämpfen, du siehst, ich bin ganz ehrlich … Und was ich vorhin sagte, daß ich jetzt vor allem Ebros Mutter sei …«

Sie legte ihre Hände auf den Rand des Tisches, an dem sie saß und schien auf etwas in sich selbst zu horchen. Sie sah Jo an …

»Du mußt verzeihen, daß ich soviel spreche, Jo … Ich kann nur heute, nur jetzt, nur dieses einzige Mal mit dir sprechen, dann niemals mehr … und ich habe Angst, zu wenig zu sagen, oder etwas Wichtiges zu vergessen … Mein Kopf ist nicht sehr zuverlässig jetzt … Siehst du, es gibt Frauen auf der Welt, die spielen schon in der Wiege oder worin immer sie ihre Säuglingstage verbringen, mit ihren kleinen Füßen Mutter und Kind. Und wenn sie gestorben sind, dann kann man es nicht glauben, daß ein Sarg und ein Grab imstande sind, sie festzuhalten, wenn auf der Erde eines ihrer Kinder hungert oder friert. Wenn aber eins der Kinder vor seiner Mutter stirbt oder wenn sie sehen muß, wie ein lebendiges leidet …«

Sie nahm ihre Hände an sich und hielt die Gelenke umklammert.

»Sieh, Jo, ich habe vier Kindern das Leben gegeben. Als meine Mutter das erste aus meinem Schoß hob, sagte sie: ›Jetzt beginnt meine gute Zeit!‹ Ich fragte: ›Warum, Mutter?‹ Sie sagte: ›Das wirst du lernen, meine kleine Tochter! Die Kinder entwachsen uns und laufen davon, aber die Enkel geben uns alles Süße der Kinder, und dann sind wir's, die davonlaufen; wir lassen ihnen nicht Zeit, uns auch zu verlassen. Wir sind dann listig geworden und sterben beizeiten …‹ Sie ist nun lange tot, die klug lächelnde Frau …«

Sie sank ein wenig zusammen und raffte sich auf.

»Zwei meiner Kinder hast du nicht gekannt, Jo. Es waren Zwillings-Söhne, und ich säugte sie an meinen Brüsten, die, wie Quellen der Liebe, unerschöpflich waren. Ich weinte, als ich sie entwöhnen mußte. Ich hatte von wilden Völkern gelesen, deren Mütter die Kinder noch säugen, wenn sie längst laufen können, wenn sie, zwei Jahre alt und älter, vom Spielen heiß und durstig kommen und selber betteln: ›Ich will bei dir trinken, Mutter!‹ Ich habe sie so beneidet, diese Mütter. Nun, meine beiden starben am gleichen Tag. Wahrscheinlich hat sie die gleiche Granate zerrissen. An irgendein Kreuz in den Kreuzwäldern vor Verdun hat man ihre Namen geschrieben. Das ist alles, was übrig blieb. Aber, Jo, wenn ich an sie denke, dann träum' ich, sie sind wieder klein, ich habe sie wieder und halte sie in den Armen und lasse sie wieder an meinen Brüsten trinken, die kleinen, dunklen Köpfe, die kleinen Fäuste, und doch sind sie zugleich erwachsen und tot, und ich bin nur eine Gespenster-Mutter und säuge Gespenster in einem großen Wald von hölzernen Kreuzen, der so furchtbar wirkt, weil er so ordentlich ist … Ich glaube, eine Mutter hört nie auf, ihr Kind zu säugen. Und ›Tod‹ will nicht viel heißen, wenn eine Mutter zu ihrem Kinde will …«

Sie lächelte vor sich hin, und in ihrem Lächeln war ein Ausdruck von listiger Fröhlichkeit, als rechne sie nach, wie oft ihre Träume dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatten. Dann seufzte sie auf.

»Ja … später kam Josy und nahm mir die Tochter fort. Ich habe recht Angst um sie gehabt. Doch Töchter sind anders als Söhne. Sie sind wohl selbständiger, scheint mir. Und vielleicht sind sie auch schon Mütter in ihren Herzen, sobald sie lieben, und hegen den Mann in sich, wie Mütter mit ihren Kindern tun, und lassen sie nicht bekritteln. Ich weiß, wie trotzig ich gegen meine Mutter war … Aber da ist nun Ebro.«

Sie beugte sich vor und sah in die Augen Jos.

»Nun habe ich so viele Worte gesprochen, Jo, und es ist nicht eins darunter, das Gewicht hat, das weiß ich. Deine klaren Augen sehen mich mitleidig an. Aber wenn ich dich jetzt bitte: Komm zu Ebro zurück, Jo! – dann wirst du den Kopf schütteln, nicht wahr, Jo?«

»Nein, Mutter.«

»Nein …?« Das kleine Elfenbeinantlitz rötete sich unter einer jähen, fast bestürzten Freude. Hoffen und Zaghaftigkeit lächelten mit verweintem Munde. »Nein, Jo …? Du sagst: Nein …? Du willst mit mir kommen?«

»Ich werde das tun, was du für richtig hältst, Mutter, wenn ich nun auch zu dir gesprochen habe.«

»Ach Jo, für mich gibt's kein Richtig und kein Falsch. Ebros Frau ist von ihm fortgegangen. Ebro will seine Frau wiederhaben. Und ich bin seine Mutter. Das ist alles.«

»Ebro will seine Frau wiederhaben … Aber wer ist Ebros Frau?«

Die Augen der Mutter, noch weinend und erschrocken, blickten auf Jo.

»Bist du es denn nicht mehr?«

»Nein, Mutter.«

»Ach mein Gott – hast du einen andern lieb?«

»Ja.«

»Wer ist der andere, Jo – kannst du mir das sagen?«

»Der andere, Mutter, ist Ebro … Es ist noch Ebro …«

Die alte Frau erhob sich. Auch Jo stand auf. Die alte Frau machte mit ihrer durchsichtigen Hand ein Zeichen: Bleib sitzen, Jo … Ihr Elfenbeingesicht war tiefstes Lauschen, höchste Aufmerksamkeit.

»Sag, Mutter, hat Ebro Sehnsucht nach mir?«

»Ja, Jo!«

»Warum kommt er dann nicht zu mir? Warum holt er mich nicht?«

»Er findet den Weg nicht, Kind …«

»Dann hat er auch keine Sehnsucht. Ich meine nicht die nach der Gemeinschaft von Tisch und Bett. Ich meine die andere, die einzige, die Wert hat, die nur aus einem kommt: aus Innewerden und Niemehrlassenkönnen … Aber wo keine Sehnsucht ist, da ist auch kein Weg. Aller Wege erster und letzter Sinn ist Sehnsucht. Das ist wie in den tiefen Märchen, Mutter, wo der Mann ein heiliges Gebot verletzt hat und sein Weib ihn verlassen muß, obwohl sie ihn liebt. Dann bleibt ihm auch nichts anderes übrig, als sein Königreich im Stich zu lassen und ohne Abschied von Vater und Mutter sich auf den Weg zu machen und sein Weib zu suchen, sei's auch jenseits von Sonne und Mond und am Ende der Welt. Auf diesem Wege muß er viel Kämpfe bestehen, viel Ungeheuer erlegen, viel Leid ertragen. Und niemand vermag ihm zu helfen als seine Sehnsucht. Aber die ist wirklich so stark, daß sie immer ans Ziel kommt. Dann bringt er, ein wissender und verwandelter Mensch, die Frau, die er liebt und wiedergefunden hat, heim in sein Reich, und – so schließen die Märchen – ›von nun an lebten sie zusammen in großer Glückseligkeit!‹ … Glaubst du, Mutter, daß solche Sehnsucht nach Liebe, solch ein Wille zur Liebe in Ebro lebendig ist?«

Die alte Frau wollte reden, aber sie schwieg. Das kleine blasse Elfenbeingesicht schien von einem bösen Schabmesser zerstört zu werden.

»Das ist gut, daß du ehrlich bist gegen mich, Mutter. Denn siehst du, wenn du mich jetzt belogen hättest, ich hätte dir vielleicht sogar geglaubt. So stark ist Sehnsucht in mir selbst – nach Ebro. Nach Ebro, wie er war. Aber glaube mir, die beiden Söhne, die du verloren hast, die sind dir nicht so entrissen, wie Ebro mir. Ja, wenn deine armen toten Söhne zu mir aus dem Grabe kämen, ich würde an ihrer Seite nicht so bis ins Mark hinein frieren wie neben Ebro, der lebt und die rechte Sehnsucht nicht hat.«

Die alte Mutter weinte in ihre Hände.

»Wie ist es nur möglich«, klagte sie verzweifelt, »daß es zwischen euch so weit hat kommen können?«

Jo glättete mit der Hand ihre grübelnden Brauen.

»Vielleicht war er meiner immer allzu sicher. Vielleicht bin ich ihm immer zu nahe gewesen. Das allzu Sichere schätzt man nicht sehr hoch ein, und das allzu Nahe übersieht man leicht.«

»Und glaubst du nicht, Jo – du hörst, ich kann es nicht lassen, nach Wegen zu suchen und nach Möglichkeiten, das mußt du der Mutter in mir zugute halten –, glaubst du nicht, daß in Ebro doch einmal wach wird, was du die rechte Sehnsucht nennst?«

»Vielleicht …«

»Willst du dann nicht Geduld mit ihm haben, Jo? Willst du dann nicht zu ihm kommen und darauf warten?«

»Ich kann nicht wieder zu dem Ebro von heute kommen, Mutter, denn ich würde ihn, wach wie ich jetzt bin, vom Tage meiner Rückkehr an betrügen – und sei es auch nur mit ihm selbst!«

»... Das verstehe ich nicht …«

»Es ist ganz leicht zu verstehen. Siehst du, Mutter, wenn ein Mann von der eigenen Frau, die er liebt, zu fremden geht, so ist das, weil ihn etwas Neues lockt. Etwas Unbekanntes, einfach anderes. Er geht der Verheißung ins Garn, nicht der Erfüllung. Ich bin kein Mann, aber ich könnte mir vorstellen, daß der Mann überhaupt nichts sucht als das Spiel von Lockung, Anklopfen, Fragen, Tasten: Wie bist du, wenn … Wie reagierst du auf … Und daß er fünfzig von hundert Malen das Spiel nur bis zu Ende treibt, bis zur Besitzergreifung, um die Frau nicht zu kränken: rein aus Höflichkeit. Er sucht die einzelnen Strahlen vom Prisma der Liebe und sättigt sich hier an Rot, da an Violett, da an tieferem Blau, dort an hellerem, und all das hat mit Liebe nichts zu tun. All die fremde Buntheit ändert nichts daran, daß die all-einzige Liebe zu der all-einzigen Frau ganz strahlend weiß ist, ungebrochen weiß. Verstehst du mich, Mutter?«

»Fast … Sprich weiter, Kind …«

»Aber die Frau ist anders … Die Frau, die liebt, ist anders … Sie sieht die Welt allein durch den Geliebten. Die Melodien der Schöpfung verrauschen ihr ungehört, wenn sie sie nicht mit dem Ohr des Geliebten hört. Das Prisma der Welt, der Regenbogen Gottes zerspringt, wenn die Liebe der Frau in Stücke geht. Und meine Liebe ist in Stücke gegangen. Was würde mir übrigbleiben, Mutter, als von nun an den gleichen armseligen Weg zu gehen, den alle enttäuschten Frauen gehen müssen? Ebro ist nicht mehr Ebro; aber Hans hat manchmal, in ganz bestimmter Beleuchtung, das Lächeln Ebros, darum küßt man den Hans. Und Heinz, der sonst so fremd ist wie ein Malaienidiom, der hat, wenn er traurig ist und die Wimpern senkt, einen Zug um die Brauen, den Ebro hatte und der an Ebro so herzaufwühlend wirkte. Muß eine Frau da nicht alles tun, um Heinz traurig zu machen und dann seine Brauen mit den Fingerspitzen zu liebkosen und dabei, tief innerlich weinend, an Ebro zu denken? Und Lutz, der im allgemeinen ein Ekel ist, Lutz hat im Profil das Kinn und die Stirn von Ebro. Nur im Profil; wenn er sich zu einem wendet, möchte man ihn erschlagen vor Ungeduld. Aber man kann es nicht lassen, die Ähnlichkeit mit Ebros Profil an ihm zu lieben, und das Unglück ist nur, daß es keinen Lutz auf der Welt gibt, der das nicht mißverstünde und sich nicht einbildete, er würde von Kopf bis zu Füßen geliebt, der arme Narr. Und Ebros Hände – ja, Mutter, ich kann mir schon denken, daß man die Hände von Willy und Felix und Klaus, von Mohammed, Buddha und Luzifer nimmt und liebkost, um das eine Umschließen, den einen Gegendruck noch einmal zu fühlen, unter dem unser Herz in Ebros Händen stillstand. In hundert Männern sucht man den einen Mann wieder. Den zersprungenen Regenbogen. Das zersprengte Prisma. Und kein bittrerer Haß ist in der Welt als der Haß der Frau, die in trauriger Tollheit den Mann, der nicht mehr der einst geliebte ist, betrügt, um ihn sich stückweise wieder zusammenzusuchen in anderen Männern. Willst du, daß dieser Haß in mir aufwacht, Mutter?«

In das fahle Schweigen, das auf die Worte Jos folgte, polterte ungeschickt der erste mürrische Donner.

»Wie furchtbar mutig ihr seid, ihr Frauen von heute!« sagte die alte Mutter und senkte den Kopf.

Ohne Laut lachte Jo vor sich hin. Und von diesem Lachen blieb eine Blässe auf ihren Lippen zurück.

»Nein, Mutter. Nein. Sie sind noch lange nicht mutig. Aber gnade Gott, wenn sie es einmal werden! Ich sage dir, Mutter, es hat auf der Welt noch keine Revolution gegeben, die diesen Namen verdiente, und es wird keine geben bis zu dem Tage, an dem die Frau jedes Wort, mit dem die Dichtung des Mannes sie aus Haß oder Liebe terrorisiert, in endlichem Sattsein der Lüge als Lüge entlarvt. Die schöne Gemeinschaft der Geschlechter geht daran zugrunde, daß die Frau es einfach nicht schafft, dem tausendjährigen Unfug der Literatur über sich zu entsprechen oder ihn zu entkräften. Der Mann stellt die Welt auf den Kopf und dichtet sich eine Gottheit, die gleichzeitig Jungfrau und Mutter ist. Von der Valkyrie bis zum Vamp, von der großen Kurtisane bis zur kleinen Geisha: der Gesamtkomplex Weib ist erlogen. Der Mann hat gedichtet, die Frau sei schamhaft. Kein Wort davon wahr. Die Frau ist schamhaft, wenn sie liebt oder wenn sie häßlich ist; sonst ist sie die geborne Exhibitionistin, mal oben, mal unten, mal vorn, mal hinten, mal hundertprozentig, das ist Sache der Mode – und so unschuldig schamlos wie ein Tier. Aber in einem … ja, in einem ist die Frau voller Scham und stumm in der Scham, und der Mann soll sein Bestes tun, daß die Frau in diesem Punkte niemals die Scham von sich wirft und den Mund auftut, um zu reden …«

Windstoß. Auffliegende, geblähte Gardinen. Schwefliger Schein. Nachsetzender trockener Donner. Jo ging durch das Zimmer hin und schloß die Fenster. Sie kam zu der alten Frau zurück und beugte sich, lange schweigend, über sie.

»Wenn jemals in deinem Leben eine Stunde war, Mutter«, sagte sie leise, »wo du dich eingeschlossen hattest in dir selbst, und der Mann brach dich auf und brach in dich ein wie ein Dieb, berechtigt zum Einbruch laut Paragraph soundsoviel … und wenn jemals in deinem Leben eine Stunde war, Mutter, wo dein Mann dich, verzaubert von deinem Geschlecht, umarmt hielt, und du wußtest genau, seine Seele war nicht bei dir …«

Zwei Hände griffen hoch nach dem Munde Jos.

»Ich bin schon still«, sagte Jo.

Der Regen schlug an die Scheiben.

Jo fragte:

»Soll ich mit dir nach Hause fahren – zu Ebro?«

Der Regen schlug an die Scheiben.

»Nein, mein Kind.«

Der Regen schlug an die Scheiben.

Die Mutter Ebros fragte mit lautloser Stimme:

»Wirst du ihm treu bleiben, Jo?«

Der Regen schlug an die Scheiben.

»In das Haus da oben«, sagte Jo, als spräche sie aus dem Traum, »hat mich Ebro getragen, von der Straße hinauf bis ins Haus, den langen, hochsteigenden Weg, auf seinen Armen. Den Weg hinauf und über die Schwelle ins Haus. Es ist kein Winkel in diesem Hause, keine Stufe an seinen Treppen, kein fußbreit Diele, wo mich nicht seine Küsse gesegnet haben. Die Balken haben unser Lachen gehört. Die Ulmen fingen uns auf in ihrem Schatten. In hundert Nächten waren die Wiesen das Bett, wo wir uns in den Blumen liebten, vor Liebe weinend. Wir haben die Sonne über den Bergen aufgehen sehen, daß sie sich in unsern Augen spiegelte, und die Stimme eines Vogels zwang uns, mit geschlossenen Lidern uns an den Händen zu halten wie Kinder oder Verzückte. Solange Ebro für mich Zeit hatte – und ich weiß: Glück und Liebe sind oft nur Fragen des Zeithabens –, so lange haben wir hier unsere Sommer gefeiert. Wirst du mir nun deine Frage noch einmal stellen, Mutter?«

Der Regen schlug an die Scheiben.

Sonst war es still.

Im rauschenden Regen ertrank der ferne Donner.

Es regnete noch, als Jo nach Hause ging.


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