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Jo kam von der Riesseralmhütte, die vom Fischerhansl am Tag zuvor nach ihrer Weisung instand gesetzt worden war. Ihre liebevoll kritischen Blicke hatten nichts zu tadeln entdeckt und nichts vermißt – nicht einmal den frischen Strauß im blauen Steinkrug unter dem Herrgottswinkel. Sie war die Leiter zum Heuboden hinaufgeklettert und hatte die Liegestatt da oben so weich wie Daunen gefunden. Sie hatte, obwohl es nicht nötig gewesen wäre, mit eigenen Händen die Kissen und Decken des Bettes, das blau wie der Himmel bemalt und mit gelben Aurikeln und roten Herzblumen verziert war, schön aufgeschüttelt und wieder glatt gestrichen und sich an dem derben weißen Leinen gefreut. Hinter dem Herd war das Holz in trockenen Scheiten gestapelt; die Zündhölzer lagen griffbereit auf dem Bord, der die bunten Schüsseln, Teller und Krüge trug. Die Eisenpfannen waren frisch gescheuert, die kleine Vorratskammer wohl gefüllt.
Neben der Hütte der Brunnen, der das Quellwasser gefaßt hielt. Auf den riesigen Huflattichblättern, die den Silberfaden des Baches überschatteten, saßen grüngolden schillernde Käfer wie Edelsteintropfen.
Jo hatte den Schlüssel zur Hütte ins Fenster gelegt, und nun ging sie, die Blicke am Boden, froh-eilig bergab. Sie trug den Hut zusammengerollt im Gürtel, sie fühlte mit Freude das Federn ihrer Sprunggelenke, den Rhythmus des leichten Schreitens auf schmalem, von Wiesen bald und bald von Wäldern umsäumten Pfad. Das einfache Glück, zu sein, erfüllte sie mit einer seltenen leuchtenden Innigkeit und machte sie dankbar gegen alles, was sich ihr auf diesem Wege schenkte: gegen die Fülle der Düfte aus Kräutern und Holz – gegen die sanften Augen einer Kuh, die ihr gemächlich nachgetrottet kam, um in der gebefrohen, vertrauten Frauenhand mit liebem großen, nassen Maul und rauher Zunge nach Salz zu suchen – gegen das emsig feilende Zirpen der Grillen – gegen freundlichen Menschenzuruf und Menschengruß.
Mitten im Wege, in glühendem Beerenhang, zwei Stunden über dem Dorfe, fand sie ein Kind, ein kleines Mädel von sechs oder sieben Jahren. Neben ihm, umgeworfen, lag ein Steinkrug, aus dem ein paar rote Beeren verschüttet über den Weg gekollert waren.
Jo kannte jedes Kind bergauf und talab.
»Grüß dich Gott, Burgei!« sagte sie. »Was machst du denn hier?«
Ein kleines heißes Gesicht hob sich zu ihr auf, um sich gleich wieder unlustig in den Armen zu vergraben.
»Bin müd«, wisperte das Stimmchen aus seinem Versteck.
»Und da mußt du dich ausgerechnet mitten in die Sonne legen? Warum gehst du denn nicht in den Schatten, du kleiner Depp?« schalt die Frau zärtlich und bückte sich über das Kind.
»Bin müd«, wiederholte das wispernde Stimmchen, und schon war ein Ton von Greinen darin vernehmbar.
Jo nahm das kleine Wesen auf ihre Arme.
»Komm, Burgei-Maus, gehn wir schlafen – ich bring dich heim!«
Das braunblonde Köpfchen sank schlafsüchtig gegen Jos Schulter, die Augen verkrochen sich zwinkernd am Halse der Frau. Behutsam trug Jo ihre hastig atmende Last zu Tale, und da sie auch nicht vergessen hatte, den Steinkrug mitzunehmen, blieben auf dem Platz, wo sie das Kind gefunden hatte, nur die verschütteten roten Beeren zurück, die in der Sonne wie Blutstropfen leuchteten.
Die Wastlmüllerin, eine mit Kindern reichlich gesegnete Frau, machte verdutzte Augen, als Jo, hochrot im Gesicht und das flatternde Herz im Halse, mit der Burgei auf den Armen in ihre Milchkammer trat.
»Ich hab mir eh schon gedacht, es geht mir eins ab«, sagte sie, ihre prächtigen Zähne zeigend.
Jo meinte, das Kind habe Fieber; ob es nicht ratsam sei – da sie ohnehin auf dem Wege nach Haus bei ihm vorüber müsse –, daß sie dem Doktor Eck Bescheid sage. Aber die Bauernmutter, durch mancherlei Erfahrungen an einem reichlichen Dutzend abgehärtet, sagte, es werde so arg nicht sein: Kinder fieberten leicht, und nach dem Doktor zu schicken, sei immer noch Zeit – und damit und einem Vergeltsgott trug sie die Burgei, die, ihre Augen versteckend, vor sich hin weinte, in das schöne weiße Haus, das knallblaue Fensterläden hatte.
Zur selben Zeit stand auf dem Bahnsteig, den der Zug aus Freilassing mit Lärm und mit Menschen erfüllte, ein großer, barhäuptiger Junge und sah mit sprödem Gesicht einem großen, barhäuptigen Mädel entgegen, das sich suchend und sichtlich enttäuscht nach allen Seiten umsah. Ihre Augen begegneten sich; sie sahen sich an. Auf dem Munde des Mädchens, erschien ein kleines erstauntes Lächeln, während der Junge eine äußerst herbe Art von Verbeugung zelebrierte.
»Sind Sie Fräulein Judica Lorenz?« fragte er, und es klang irgendwie ärgerlich.
»Ja«, nickte sie und sah ihn mit Augen an, die unzweifelhaft mit Jos Augen verschwistert waren. »Und wer sind Sie?«
»Ich bin Peter Hünemann. Frau Mannegold schickt mich, um Sie abzuholen.«
»Jo ist doch um Gottes willen nicht etwa krank?!« rief Judica mit so heißer Angst in der Stimme, daß Peter Hünemann ihr einen Augenblick lang verzieh, daß sie ein Mädchen, auf der Welt und auf diesem Bahnhof war und einen Handkoffer trug, den man ihr abnehmen mußte.
»Nein, sie ist nicht krank. – Haben Sie großes Gepäck?«
»Gott bewahre, nein! – Aber warum ist sie denn nicht selbst gekommen, um mich abzuholen? Das hat sie doch immer getan!«
»Ja, ich weiß es auch nicht. Sie hat mich beauftragt, Sie abzuholen und Ihnen zu sagen, daß sie sich unbändig auf Sie freue. – Das sind Frau Mannegolds Worte«, fügte er hinzu und biß sich, ohne zu wissen warum, auf die Lippen.
In Judicas Augen begannen die Lichter zu funkeln.
»Also gehen wir! – Sie begleiten mich doch hinauf?«
»Ja. Bis uns der Fischerhansl begegnet. Dann kriegt der Ihren Koffer.«
Judica machte sich auf den Weg, als führe er zum Tanze. Sie ging auf dem schmalen Pfad vor dem Jungen her, und er lief hinter ihr drein, die Augen am Boden, die feuchte Stirn in grübelnde Falten verzogen. Einmal, als sie unvermutet stehenblieb, um die Aussicht zu betrachten, rannte er ihr den Koffer in die Kniekehlen, daß sie gegen den Zaun flog. Aber sie lachte so herzlich (mit der Stimme Jos), daß in seinem ergrimmten Gesicht nicht einmal der Ausdruck von Zorn und Scham standzuhalten vermochte, wenn auch ein erstes Lächeln sich noch vergebens bemühte, den herb geschlossenen Knabenmund zu erobern.
Nebeneinander gingen sie friedlich weiter, er mit dem Blick am Boden, sie ihn unverhohlen betrachtend.
»Peter –«
»Jawohl, Fräulein Lorenz.«
»Ach du lieber Gott, muß ich Sie etwa Herr Hünemann nennen?«
»Das können Sie halten, wie Sie wollen, Fräulein Lorenz.«
»Na, dann sage ich also Peter!«
»Bitte sehr.«
»Peter, zählen Sie immer die Steine auf Ihrem Weg, wenn Sie spazierengehen?«
Er sah sie an, und unter dem sonderbar schweren, abweisenden Blick seiner übernächtigen Augen wurde ihr frohes braunes Gesicht fast ernst. Da er keine Antwort gab, fuhr sie leiser fort:
»Ich habe es früher nämlich auch getan, Peter … Auf dem Weg zur Arbeit, der über viel Steine ging … bis Jo kam und sagte, das habe keinen Zweck, die richtige Zahl bekäme man doch nie heraus, man sollte sich einfach mit einem Pauschale begnügen …«
»Ich zähle überhaupt keine Steine«, sagte Peter Hünemann steif.
»Na, dann entschuldigen Sie! … Was haben Sie denn mit Ihrer linken Hand gemacht?«
»Nichts! … Verbrannt! …« Und er legte die eingebundene Hand auf den Rücken.
Unwillkürlich schüttelte das Mädchen den Kopf, und in fliegende Röte getaucht, mit Worten, die übereinander wegstolperten, sagte er, plötzlich bittend, plötzlich ein Knabe:
»Sie werden Frau Mannegold nicht danach fragen, nicht wahr?«
»Nein, Peter.«
»Ehrenwort?«
»Ehrenwort!«
»Da ist sie!« sagte er mit zitterndem Atem.
Jo stand an derselben Stelle wie damals, als sie Tilly erwartete. Sie ging Judica nicht entgegen; sie hielt nur lächelnd die kleine Pforte offen und ließ das auserlesene junge Geschöpf, das sie gerufen hatte, auf sich zukommen.
Judica stob wie ein frischer Wind aus Norden über die Straße und warf sich ungestüm in die Arme der Frau.
»Jo – wunderbare Jo! – geliebte Jo! – ich sehe aus wie ein Schornsteinfeger, aber ich kann dir nicht helfen, ich muß dir einen Kuß geben!«
Jo hielt sie fest, doch ihre Augen lagen auf dem Jungen.
»Vielen Dank, Peter, daß Sie Judica abgeholt haben! Hat er mich gut vertreten, Judica?«
»Wunderbar!« antwortete das Mädchen an der Schulter Jos.
»Fräulein Lorenz sagt, was sie nicht denkt.« Peter Hünemann stellte den Koffer hinter die Gartentür. »Soll ich das Gepäck noch nach oben tragen – oder kommt der Fischerhansl und holt es hier ab?«
»Sie brauchen den Koffer nicht nach oben zu tragen, Peter«, sagte Jo und lächelte, das Mädchen streichelnd. »Sie hätten ihn auch nicht von der Bahn bis hierher schleppen müssen … Aber eine andere Bitte hab' ich an Sie.«
Seine hungrigen Augen, die unablässig an ihr hingen, wurden sanft und dankbar, bekamen einen Schimmer von Glück.
»Wollen Sie Ihrem Vater einen Brief von mir bringen?«
Seine Wimpern senkten sich bis fast auf die Wangen. Er wurde sehr blaß. Er sah plötzlich unsagbar allein aus, auf der Straße stehend, vor den beiden Frauen, die sich umschlungen hielten. Er holte Atem und fragte:
»Wo ist der Brief?«
»Hier, Peter …«
Sie legte das Schreiben in die Hand des Jungen. Er wurde glühend rot. Der Umschlag war offen.
»Ich werde den Brief nicht lesen, gnädige Frau!«
»Daran habe ich nicht einen Augenblick gezweifelt. Aber Sie sollten jedenfalls die Möglichkeit dazu haben.«
Er schob den Brief in die Tasche und ging stumm davon. Judicas Lachen war nicht mehr zu bändigen.
»Das ist der bezauberndste Grobsack, der mir je vorgekommen ist!« strahlte sie, ihre prachtvollen Haare schüttelnd. »Wo hast du den aufgegabelt, Jo – und was hast du mit ihm vor –!«
Jo lächelte.
»Heut abend wirst du es wissen, Judica – und heut abend wirst du vielleicht nicht mehr über ihn lachen … Jetzt sind wir noch nicht so weit. Jetzt erzähle von dir!« Sie rüttelte leise das atemlose Gesicht, das zwischen ihren Händen leuchtete. »Bekenne, du schönes Mädel«, sagte sie, »wieviel Opfer sind auf der Strecke Berlin–Berchtesgaden geblieben?«
»Ach Gott, Jo, ich weiß nicht – wenn du die Schaffner mitrechnen willst, alles in allem ungefähr ein Dutzend. Einer hat mich nach Ischl eingeladen, einer nach Brindisi, einer wartet in München am Zuge nach Kufstein auf mich. Die Männer sind eingebildet – das ist nicht zu beschreiben! Ja, Fischerhansl, grüß Gott – von Ihnen hab' ich heut nacht geträumt, so hab' ich mich auf Sie gefreut –, wann gehen wir wieder zusammen Forellen fangen? Nein, mehr Gepäck hab' ich nicht – Schuhe kauf ich mir hier, solche, wie du hast, Jo: mit denen man ein kleines Krokodil tottreten könnte. Ich bin ja so irrsinnig glücklich, bei dir zu sein, Jo! Wie dein Telegramm kam, bin ich fast vom Dach gefallen vor Freude! Ich hab' mich auch ganz gut freimachen können, jetzt ist sowieso kein Mensch in Berlin, und der Chef war sehr nett – vierzehn Tage kann ich bleiben, wenn du mich solange behalten willst! Darf ich mich bei dir einhängen, Jo? Herr mein Gott, hier ist es noch viel schöner, als ich's in der Erinnerung hatte! Du hast depeschiert, du brauchst mich, Jo – ist das wirklich wahr? Brauchst du mich für dich selbst? Laß dich anschauen, Jo! Du bist braun gebrannt und wunderschön wie immer, aber ich weiß nicht, sei mir nicht böse, ich kann nicht finden, daß du besonders wohl aussiehst! Fühlst du dich nicht gesund? Ist es wieder das Herz, das meutert?«
»Wie holst du eigentlich Atem, Judica?«
»Durch Kiemen. Jo, so entkommst du mir nicht! Was ist los? Wahrscheinlich hältst du mich für verrückt, aber wenn dein Hund dich nach langer Trennung begrüßt, dann denkst du auch in den ersten fünf Minuten, du hast es mit einem Tobsüchtigen zu tun. Jetzt ist der Paroxysmus vorüber. Jetzt bin ich wieder vernünftig. Sieh mich an, Jo! Du lächelst … Was kann ich für dich tun?«
»Viel, Judica.«
»Wie schön … Und was? Und wann?«
»Wir wollen langsam gehen; ich hab' in den letzten Nächten kaum geschlafen und war heute früh schon auf der Riesseralmhütte, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist –«
»Wer soll darin hausen, Jo?«
»Du.«
»Ich? – Mit dir?«
»Nein. Nicht mit mir. – Komm, gehen wir rechts, das schneidet den Weg ab. – Wir sind übereingekommen, Judica, einen gewissen Namen nicht mehr zu erwähnen. Bist du mir böse, wenn ich es heute doch tue?«
»Nein, Jo, durchaus nicht.«
»Du hast die Sache mit Georgieff also völlig verwunden?«
»Sehe ich aus wie ein Mensch, der an einer unglücklichen Liebe laboriert?«
»Ich kann es nicht ausstehen, Judica, wenn man eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet. Ich tue es auch zuweilen, denn es ist sehr bequem, aber ich finde, es ist eine milde Form von Unterschlagung.«
»Murre nicht, Jo. Ich will dir nichts verschweigen. Die Sache mit Georgieff hat viele Endphasen durchgemacht, bevor ich so weit kam, wie ich heute bin. Zuerst wollte ich mich bekanntlich umbringen. Das hast du mir ausgeredet. Dann wollte ich mich verludern. Das hast du nicht zugelassen. Dann habe ich seiner neuen Freundin die Krätze gewünscht. Die hat sie nicht gekriegt. Lauter negative Dinge. Und dann kam er ahnungslos mit ihr in unsern Salon. Als er mich sah, hat ihn fast der Schlag getroffen. Wenn ich nie schön war, Jo – an dem Tag war ich schön. Er hat sämtliche Modelle gekauft, die ich vorgeführt habe. Ich freue mich schon, wenn er sie an der Ziege wiedersieht. Das wird meine große, ausgleichende Rache sein. Er hat mir danach zwei oder drei Briefe geschrieben. Ich habe sie nicht einmal aufgemacht. Später habe ich ihn dann noch einmal flüchtig gesehen und mich an den Kopf gefaßt, weil ich's einfach nicht begriff, daß ich mich wegen dieses melancholischen Zwetschgenheinrichs einmal umbringen wollte. Aber Liebe ist wohl überhaupt etwas, das man nur begreift, solange man liebt. Und das ist der Schlußpunkt hinter der Sache mit Georgieff.«
»Und wen liebst du jetzt, du neunzehnjährige Weisheit?«
»Keinen, Jo.«
»Keinen?«
»... oder alle, wie du willst … Ich bin so … Ich warte … Verstehst du, was ich meine? Ich liebe einfach das Leben. Ich weiß, irgendwo, irgendwann kommt eine Stunde, da wird das Spiel von neuem beginnen. Ich bin wie ein Tier, das schon einmal in einer Falle gefangen war. Aber das hilft nichts, ich äuge schon wieder hinüber. Es lockt mich, ganz zärtlich, und ich fühle das auch. Ich weiß auch, daß ich wieder in die Falle gehen werde und daß es sehr süß und sehr schrecklich sein wird … Aber ich hab' es nicht eilig, verstehst du? Ich kann es erwarten … Ich lasse mir die Sonne auf den Pelz scheinen und bin ganz tief in mir wie berauscht, nur vom Atemholen. Dumm – nicht wahr?«
»Nein, Judica. Schön.«
»Aber warum fragst du mich – so …«
»Weil ich dein freies Herz brauche …«
»Du brauchst mein Herz? … Und für wen?«
»Für Peter …«
»Für Peter …?«
»Ja.«
»Aber«, sagte das Mädchen, stehenbleibend, mit einem wunderbaren, knospenden Lächeln, »das ist doch ein Junge … Das ist doch fast noch ein Kind …?«
»Komm, Judica … Ich denke, du wirst zuerst ein Bad nehmen wollen, und dann essen wir unter der Ulme. Ich warte auf dich …«
Schön war der Tisch gedeckt, auf den die Ulme das erste goldgefleckte herbstliche Blatt auf gaukelndem Windhauch schickte. Jo nahm es in die Hand. Es war, als spräche sie nur zu diesem Blatt, als sie Judica die Geschichte von Peter erzählte. Und Judica hörte zu und vergaß darüber, daß sie erklärt hatte, hungrig wie ein Wolf im Dezember zu sein. Mit Augen, die nichts sahen, beobachtete sie die Vögel, die vertraut um ihre Füße flatterten und sich mit lautem Zwitschern um die Brotkrumen stritten, die sie ihnen hinstreute, ohne es zu wissen.
»Und das war die Nacht«, schloß Jo, »in der ich dir depeschierte, daß ich dich brauchte und daß du kommen möchtest …«
»Nun bin ich gekommen«, sagte Judica leise.
Eine plötzliche Stille war zwischen den beiden Frauen, und sie vermieden es, sich anzusehen. Die Fingerspitzen des Mädchens zitterten sehr, als sie die letzten Krumen von ihrem Kleid auf den Weg hinunterstrichen. Jo beugte sich vor und stemmte die Ellbogen auf die Knie. Sie legte die Hände wie zwei Schalen zusammen; darin ruhte das goldgefleckte Ulmenblatt.
»Man hat mir immer versichert, Judica«, sagte sie endlich mit einem leisen Lächeln, »daß ich unmöglich sei. Tante Emma hat mich zuerst so genannt, als ich sagte, nach den üblichen Todesanzeigen sei's gar kein Wunder, daß die Welt immer miserabler würde, denn es stürben ja immer nur die liebevollen Gattinnen und Gatten, die treusorgenden Mütter und unvergleichlichen Väter, und der Auswurf der Menschheit schiene unsterblich zu sein. Oder hat man schon jemals in Todesanzeigen gelesen: Heut endlich hat mich der allbarmherzige Gott von meinem giftigen Satan von Weib erlöst –? Oder: Allen Verwandten und Freunden die hochbeglückende Nachricht, daß mein Mann, die ewig versoffene Kanaille, heut nacht zwischen zwei und drei vom Teufel geholt worden ist, so daß ich nun endlich hoffen kann, meine Kinder in Frieden ernähren und erziehen zu können …? Tante Emma schien zu befürchten, daß ich für sie die Grabschrift komponieren würde, und nannte mich ›höchst frivol und völlig unmöglich‹ … Heut bin ich fast ihrer Meinung. Denn ich habe dich zu mir gerufen, Judica, um dich zu bitten, falls dein Herz keinem andern gehört, die Geliebte Peter Hünemanns zu werden.«
Sie öffnete ihre Hände und ließ das Ulmenblatt fallen. Es gaukelte sacht zu Boden und blieb dort liegen, als wollte es einschlafen. Jo sah Judica an.
»Wenn du nein sagst, Judica, wird zwischen dir und mir nicht der leiseste Schatten eines Schattens stehen, und wir werden nie mehr auf dieses Thema zurückkommen …«
»Aber«, sagte das Mädchen, »er will mich ja gar nicht … Er ist ja zu mir wie ein gereizter Igel … Seine ganze Sehnsucht, Jo, strebt doch zu dir …«
»Seine ganze Sehnsucht, Judica, strebt zu der Frau mit dem Antlitz der Mutter und dem Leib der Geliebten. Und welch eine Sehnsucht ist das, Judica! Als in der Nacht damals sein Kopf an meiner Schulter lag und ich das Atmen seines heißen Mundes an meinem Halse fühlte, da dachte ich, daß kein Kampf in der Welt so tödlich und so heroisch sei wie der Kampf, den solche hilflose Jugend mit sich selber auskämpft. Denn es ist, als müsse jeder einzelne, der zum Manne wird, den ungeheuren Weg, den die Menschheit seit ihrem Bestehen zurückgelegt hat, den Weg vom Tier zum Menschen, noch einmal gehen, noch einmal durchleiden – nein, zehnmal, hundertmal –, immer wieder zurückgeworfen in die Dumpfheit des Tieres – und noch dazu durch eine verfluchte Barchentmoral mit dem Unwürdigsten behaftet, was den Kulturmenschen ziert: mit einem schlechten Gewissen.«
Das Mädchen lächelte bitter, aber es schwieg.
»Ich kann«, sagte Jo, »nicht die Fensterscheiben von sämtlichen muffigen Buden der Welt einschmeißen. Ich kann nicht die Weltanschauung von sämtlichen menschlichen Dinosauriern über den Haufen rennen. Ich kann nur etwas versuchen – und auch nur, wenn du mir hilfst –: diesen Einzelmenschen, dieses Einzelgeschöpf, das eine Welle des Schicksals mir in die Arme geworfen hat, von sich selbst zu erlösen durch Selbstverständlichkeit. Ich kann zu dir sagen: Hier taumelt ein junger traumwandelnder Mensch auf messerschmalen Graten, zwischen lauter zu Gipfeln getriebenen Gefühlen hin – und wenn das dumpfe, halbschlafende Blut in ihm erst zu schreien beginnt, dann wacht er auf und stürzt –, wohin? Eins ist gewiß: in eine unauslöschliche Erinnerung. Diese Erinnerung, Judica, sollst du sein. Ewiges Leuchten durch ein ganzes Leben. Ewige, unverlierbare Süßigkeit. Glück ohne Bitternis. Rausch ohne Ekel. Und schließlich, wenn es sein muß, ein Abschied, so tapfer, so klar und gut, daß er dir schon allein für den Abschied sein Leben lang danken müßte. – Kannst du das, Judica – und vor allem: Willst du das?«
Das Mädchen war aufgestanden, und abgewendet hielt es den schönen, joähnlichen Kopf gesenkt. Es schob mit dem Fuß kleine Steine hin und her. Der schmale, goldbraune Nacken war blutüberflammt.
»Willst du mir eine Frage beantworten, Jo?« kam ihre Stimme endlich von sehr weit her.
»Jede, wenn ich kann.«
»Du weißt, dieser Junge liebt dich … Er ist dir so wert, daß du wirklich fast das Unmögliche tust, um sein Leben vor einer gefährlichen Klippe zu bewahren … Stimmt das?«
»Gewiß.«
»Warum schenkst du dich ihm nicht selbst?«
»Das will ich dir sagen, Judica … Komm her …« Sie sah dem Mädchen, das vor ihr stand, in die Augen. »Ich will dir ein großes Geheimnis anvertrauen …« Ein Schimmer von süßem Spott durchklang ihre Stimme. »Sag's keinem weiter, Judica: Ich liebe meinen Mann.«
»Ebro …«
»Sehr richtig: Ebro. Herrn Eberhard Mannegold, um ganz sachlich zu sein. Ich will dir nichts vormachen, Judica: Wäre das nicht der Fall, stünde in mir nicht der große wachsame Engel mit dem großen erhobenen Zeigefinger auf Posten, ich würde aus mir und allem, was ich an erfreulichen Dingen habe, ein großes etwas verfrühtes Weihnachtspaket machen, und diesem Jungen, diesem Peter bescheren, nur um ihn glücklich zu machen und glücklich zu sehen, aus schönstem Altru-Egoismus der Liebe. Aber so, wie die Dinge nun einmal liegen, mein Herz, könnte es leicht geschehen, daß ich blind vor Tränen erwachen würde, weil ich im Traum bei Ebro gewesen wäre, und ich weiß nicht, ob ich aus diesem Traum und diesem Erwachen je wieder den Heimweg zu mir selber fände. Schatzgräber der Liebe, Judica, dürfen so wenig nach rückwärts schauen wie die Goldschatzgräber: sonst war der Weg vergeblich und der Schatz bleibt ungehoben. Eine untröstlich verheulte erste Geliebte wäre für Peter Hünemann aber noch viel schlimmer als eine, die er mit fünf Mark bezahlt und die sich schon in seinem Bett die Lippen nachschminkt. Siehst du das ein?«
Das Mädchen nickte stumm.
»Und sagst du nein oder ja?«
»Ich weiß es nicht, Jo … Ich weiß nicht, ob ich dem, was du von mir verlangst, gewachsen bin. Das ist ja kein Spiel …, das ist ja so bitter ernst … Diese arme, dumme, verbrannte Hand … Die Briefe … Erlaubst du mir, diese Briefe zu lesen?«
»Du sollst sie lesen«, sagte die Frau und stand auf. »Es ist freilich ein Sakrileg. Es ist das Belauschen eines Beters. Aber ich will sie dir geben, und du sollst sie lesen. Vielleicht macht es dich selber gläubig und fromm.«
Als Jo allein wieder aus dem Hause trat, sah sie Peter Hünemann durch den Garten heraufkommen und ging ihm entgegen.
»Schon eine Antwort, Peter?« fragte sie, ihn herzlich anschauend. »Wie erhitzt Sie sind! Warum sind Sie so gelaufen?«
Seine Augen fragten sie ernst: Das weißt du nicht? Seine Lippen sagten:
»Ich dachte, es sei sehr eilig …«
Sie nahm ihm den Brief aus der Hand und öffnete ihn. Sie lächelte und reichte ihn dem Jungen. Es war ihr eigener Brief. Er lautete:
Sehr geehrter Herr Professor!
Wollen Sie mir Ihren Sohn Peter auf zehn bis vierzehn Tage für eine Bergwanderung anvertrauen? Ich bitte Sie, mir die Antwort auf diese Frage auf meinem eigenen Brief durch Peter zu schicken.
Ihre Jo Mannegold.
Darunter hatte die Hand des Vaters geschrieben:
Verehrte gnädige Frau!
Für jetzt und immer! In Dankbarkeit
Prof. A. Hünemann.
Peter hatte gelesen. Er hob die Augen zu Jo. Er hatte ein unsicheres Kindergesicht.
»Ich hoffe, Sie wissen«, sagte Jo, den Brief in die Tasche steckend, »was Ihr Vater mit diesen vierzehn Tagen auf sich genommen hat …«
»Ja«, sagte der Junge betäubt, »das weiß ich … Aber das andere …: Warum haben Sie ihm geschrieben, er möchte Ihnen die Antwort auf Ihrem eigenen Brief schicken?«
»Um Ihretwillen, Peter«, sagte Jo. »Ich wollte nicht, daß Sie sich unnütz quälen.«
Er schloß die Augen und stand regungslos. Er stand, wie Jo ihn damals in der Nacht gesehen hatte, als ihn das Mondlicht so gespenstisch zeigte: ein wenig schief, ein wenig schwankend, die Arme dicht an den Körper gepreßt.
»Heute nacht, Peter«, sagte Jo, »brennen Sie durch. Sie nehmen Wäsche, Strümpfe und noch ein Paar Schuhe mit – wie Sie das fertigbringen, ist Ihre Sache –, und wenn Sie kommen, werfen Sie mir ein Steinchen ans Fenster. Ist es noch dunkel, finden Sie ein Bett im Gartenzimmer. Ist es schon hell, dann ziehen wir in die Küche und kochen Kaffee. Können Sie Kaffee kochen? – Nun, das macht nichts. Wir bringen es Ihnen schon bei …«
Sie schwieg, weil sie einsah, daß er kein Wort verstand. Er tat einen kleinen, tappenden Schritt auf sie zu und blieb wieder stehen. Er sagte:
»Gnädige Frau …«
Dann drehte er sich um und lief davon, als habe er einen Stoß in den Rücken bekommen, lief, ohne sich umzuschauen, sprang wie ein Hirsch …
Jo ging ins Haus. Da waren die Räume voll Dämmer. Im Schlafzimmer Jos saß Judica am Fenster, tief über die Briefe gebeugt, die ihr im Schoße lagen. Ohne sie zu berühren, hielt sie die zahllosen Blätter mit den Armen umschränkt und hatte die Hände gefaltet.
»Du wirst dir die Augen verderben«, sagte Jo und wollte die Hand nach dem Schalter ausstrecken. Aber die Stimme des Mädchens kam ihrer Bewegung zuvor.
»Ich brauche kein Licht«, sagte sie. »Ich bin fertig mit Lesen …«
Jo ging zu ihr hin und beugte sich über sie. Sie fand das Gesicht des Mädchens von Tränen überströmt. Sie nahm sie in die Arme und küßte sie.
»Ach –!« sagte Judica, in heftiges Schluchzen ausbrechend und ihr Gesicht an der Brust der Freundin verbergend, »wir Menschen sind nie gut genug zueinander!«